Über diesen Blog.

Hier schreiben Wissenschaftler*innen der Universität Oldenburg und Gastautor*innen darüber, wie sich Gesellschaften selbst wahrnehmen und thematisieren, sich ihrer jeweiligen Gegenwart vergewissern und dabei in die Zukunft entwerfen.

Wie stehen diese Selbstwahrnehmungen und -entwürfe mit Institutionen, Medien und Techniken zur Gestaltung von Natur, Gesellschaft und Subjektivität in Verbindung? Wie modellieren sie den lebensweltlichen Alltag und halten Menschen zu einem bestimmten Verhalten an? Wie werden diese Interventionen in das Gegebene begründet und legitimiert, aber auch kritisiert, verworfen oder unterlaufen?

Diesen Fragen, deren interdisziplinäre Reflexion eines der zentralen Anliegen des Wissenschaftlichen Zentrums „Genealogie der Gegenwart“ ist, gehen die Blogger aus unterschiedlichen Fachperspektiven und Tätigkeitszusammenhängen mit Blick auf kontrovers verhandelte Themen wie Migration, Ungleichheit, Digitalisierung, Kriminalität, Gesundheit und Ökologie nach.

Bei Fragen oder Anmerkungen schreiben Sie gerne an wizzeg@uni-oldenburg.de.  

Workshop „Gegenwartsdiagnosen“

von Team

von Team

Workshop an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, 8.–10. Oktober 2015

Unter den Schlagworten der „Kontrollgesellschaft“, der „Normalisierungsgesellschaft“, der „Kreativgesellschaft“ oder der „Kontingenzgesellschaft“ – um nur einige zu nennen – ringen derzeit eine Fülle von Gegenwartsdiagnosen um Deutungsmacht in der Aufmerksamkeitsarena der „reflexiven Moderne“ (Beck), die wiederum selbst eine solche Diagnose darstellt. Indem Gegenwartsdiagnosen paradigmatische Aussagen über die Wirklichkeit treffen, geben sie diese nicht nur als Wirklichkeit, sondern auch als eine bestimmte Wirklichkeit zu erkennen. Beglaubigt durch die wissenschaftliche Autorität, mit der sie aufgeladen sind, prägen sie als symbolische Repräsentationen des „gesellschaftlich Imaginären“ (Castoriadis) die soziale Praxis immer schon mit.

Gegenwartsdiagnosen lassen sich in mehrfacher Hinsicht als performative Elemente der Praxis begreifen, indem sie a) die Praxis (implizit) anleiten, b) als ein auf Wandel zielender Appell fungieren oder c) selbst als (Elemente oder Entwürfe der) Praxis wirksam werden können – und so als Organon der kulturellen Selbsttransformation fassbar werden. Beispielsweise formt sich seit den 1970er Jahren die gesellschaftliche Sensibilisierung für ökologische Fragen in Transformationsszenarien aus, die das menschliche Zusammenleben im Zeichen ökonomischer wie ökologischer „Nachhaltigkeit“ (bspw. in alternativen Versorgungsgemeinschaften) projektieren. In vergleichbarerer Weise etablieren sich unter dem Leitbegriff der „Resilienz“ in der Entwicklungspsychologie, der Pädagogik und den Gesundheitswissenschaften Konzepte, die darauf abgestellt sind, die Widerstandsfähigkeit des Einzelnen in einer aus dem Ruder laufenden „Risikogesellschaft“ zu trainieren und diese wiederum als „Präventionsgesellschaft“ zu rekonfigurieren. Demgegenüber beschwört die Rede von der „Herrschaft des Algorithmus“ die Vorstellung einer vollständigen Berechenbarkeit menschlichen Verhaltens in einer scheinbar von Maschinen kontrollierten Welt, in der die Kontingenz gesellschaftlicher Prozesse durch formalisierte Verfahren aufgefangen wird.

Unter bestimmten Bedingungen erweisen sich Gegenwartsdiagnosen also selbst als schöpferische Akte, die über das Bestehende hinausweisen und die Bedeutungsgrenzen einer Kultur auszudehnen in der Lage sind. Sie können dazu anleiten, intervenierend in die Wirklichkeit einzugreifen, die sie zugleich diagnostisch fest-stellen. Diese schöpferischen Vorwegnahmen (anderer gesellschaftlicher Verhältnisse, Institutionen, Lebensweisen etc.) sind ihrerseits durch die medial produzierten und verbreiteten Bilder beeinflusst, in denen Menschen leben. Bei der Analyse gesellschaftlicher Selbstentwürfe geraten dementsprechend unterschiedliche Medien in den Blick: Sie reichen von soziologischen Analysen, die versuchen, die Gesellschaft als Ganzes zu durchleuchten, über Detailstudien, die sich mit öffentlich diskutierten Entwicklungen (wie Jugendkriminalität, Konsum, Demographie etc.) auseinandersetzen, bis hin zu Enqueten, die politikfähige Lösungsvorschläge entwickeln, und Statistiken, die verborgene Entwicklungen und Zustände sichtbar zu machen beanspruchen. In ähnlicher Weise bringen etwa die Lebenswissenschaften, die Kulturwissenschaften oder die Psychologie ihre eigenen epistemologischen Grundlagen für die Wahrnehmung des Menschen und die Konzeptualisierung sozialen Handelns hervor. Die Programmatik dieser Reflexionen findet sich in den Praktiken sozialer Bewegungen und erlangt in Bildern sowie in kulturellen Aufführungen (des Körpers, des Sports usw.) eine sinnlich-sinnhafte Form. Ähnliche Entwicklungen sind in der Architektur zu beobachten, die aus der Diagnose der eigenen Gegenwart heraus das Habitat der Menschen und damit die Sozialbeziehungen ganzer Gesellschaften neu zu gestalten versucht. In diesem Sinne lassen sich Landschaften als gestaltete Imaginationen von Gesellschaft analysieren, Sportspiele als performative Darstellungen sozialer Ordnungsbildung, Identitäten als „Gestaltungen“ kultureller Unterscheidungen, Krisenimaginationen als Aufführungen gesellschaftlicher Selbstbeschreibungen oder auch Präventionsprogramme als Entwürfe sozialpolitischer Kontingenzbewältigung.

Der Workshop interessiert sich dafür, wie (gesellschaftliche) Wirklichkeit in aktuell kursierenden Gegenwartsdiagnosen modelliert wird. Wie beschreiben unterschiedliche wissenschaftliche Disziplinen die Gegenwart? In welcher Weise (und medialen Form) gestalten diese Beschreibungen die Wirklichkeit und deren Wahrnehmung mit? Welche wissenschaftlichen Grundannahmen und gesellschaftlichen Ordnungsvorstellungen liegen den Modellbildungen zugrunde? Das Interesse gilt dabei auch den Schnittstellen von Fach- und Allgemeinwissen, an denen Gegenwartsdiagnosen verhandelt werden: Wie entstehen Gegenwartsdiagnosen in alltäglichen Praktiken, und inwiefern laufen sie diesen Praktiken im Sinne einer „performativen Rückkopplung“ (Koschorke) zugleich voraus? Inwiefern also lassen sich Praktiken als Vollzugsordnungen begreifen, denen Gegenwartsdiagnosen (implizit) eingeschrieben sind? Ziel des Workshops ist es, das gesellschaftliche Imaginäre, das in gegenwartsdiagnostischen Modellbildungen steckt, sowie die Art und Weise ihrer Herstellung auch in dem Sinne in den Blick zu bringen, dass die geläufige Entgegensetzung von Fakt und Fiktion unterlaufen wird:

  1. Es soll danach gefragt werden, welche (epistemischen, anthropologischen, gesellschaftstheoretischen etc.) Grundannahmen über die Wirklichkeit und deren Gestaltung in die verschiedenen Gegenwartsdiagnosen einfließen, inwiefern sie sich dabei zu gesellschaftlich konventionalisiertem Wissen verfestigen (oder sich umgekehrt Wissen in diesem Prozess auflöst) und welche (alternativen) Dimensionen und Möglichkeiten des Sozialen sie dabei unsichtbar machen.
  2. Untersucht werden sollen dabei insbesondere die spezifischen Herstellungsformen von und der jeweilige Umgang mit Gegenwartsdiagnosen in den verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen. Im Zentrum stehen a) die methodologische Konstruktion und die implizite Empirie von Gegenwartsdiagnosen, b) die sozio-materiellen Arrangements (Labore, Schulräume, Konferenzsäle etc.) und Techniken (Algorithmen, Statistiken, Testverfahren etc.) der Wissensproduktion sowie c) die Positionierungen der Beobachter im wissenschaftlichen Feld, die ihrerseits zurückgebunden sind an die materiellen Bedingungen dieses Feldes.
  3. Vor diesem Hintergrund sollen das Phänomen der Gegenwartsdiagnostik und deren Konzeptualisierung (als Modelle, Diagnosen, Analysen etc.) reflektiert werden. Der Versuch, Gegenwartsdiagnostik interdisziplinär einzufangen, erwiese sich dann selbst als ein Verfahren, sich der Gegenwart im Sinne einer Beobachtung zweiter Ordnung zu vergewissern.

Format und Ablauf
Der Workshop ist interdisziplinär angelegt, um einerseits den Wechselwirkungen, Übersetzungen und Wanderungsbewegungen in und zwischen unterschiedlichen gesellschaftlichen Wissensbezirken nachgehen zu können, sowie andererseits die Verschränkung von Modellhaftigkeit und Praxis dieser kollektiven Selbstentwürfe aus der jeweiligen fachlichen Perspektive zu diskutieren. Gefragt werden soll auch danach, warum und unter welchen Bedingungen bestimmte Gegenwartsdiagnosen in welchen Fächern auf einen Resonanzboden treffen. Im Austausch zwischen Sozial-, Geistes-, Kultur- und Naturwissenschaften sollen weniger fertige Forschungsergebnisse als vielmehr innovative Fragestellungen und Forschungsansätze erörtert werden, um interdisziplinäre Schneisen in ein bislang kaum bzw. nur von einzelnen Fächern bearbeitetes Forschungsfeld zu schlagen.

Referentinnen und Referenten
Prof. Dr. Elke Bippus (Zürcher Hochschule der Künste)
Prof. Dr. Tilman Borsche (Universität Hildesheim)
Prof. Dr. Thomas Etzemüller (Carl von Ossietzky Universität Oldenburg)
Prof. Dr. Antonia Grunenberg (Carl von Ossietzky Universität Oldenburg)
Prof. Dr. Frank Hillebrandt (Fernuniversität Hagen)
Dr. David Kuchenbuch (Justus-Liebig-Universität Gießen)
Dr. Ariane Leendertz (Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung, Köln)
Prof. Dr. Herbert Mehrtens (TU Braunschweig)
Prof. Dr. Käte Meyer-Drawe (Ruhr-Universität Bochum)
Dr. Hanno Pahl (Universität Luzern)
Dr. Tobias Peter (Albert-Ludwigs-Universität Freiburg)
Prof. Dr. Hans-Jörg Rheinberger (MPI für Wissenschaftsgeschichte Berlin)

Mit freundlicher Unterstützung durch

UGO

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