Über diesen Blog.

Hier schreiben Wissenschaftler*innen der Universität Oldenburg und Gastautor*innen darüber, wie sich Gesellschaften selbst wahrnehmen und thematisieren, sich ihrer jeweiligen Gegenwart vergewissern und dabei in die Zukunft entwerfen.

Wie stehen diese Selbstwahrnehmungen und -entwürfe mit Institutionen, Medien und Techniken zur Gestaltung von Natur, Gesellschaft und Subjektivität in Verbindung? Wie modellieren sie den lebensweltlichen Alltag und halten Menschen zu einem bestimmten Verhalten an? Wie werden diese Interventionen in das Gegebene begründet und legitimiert, aber auch kritisiert, verworfen oder unterlaufen?

Diesen Fragen, deren interdisziplinäre Reflexion eines der zentralen Anliegen des Wissenschaftlichen Zentrums „Genealogie der Gegenwart“ ist, gehen die Blogger aus unterschiedlichen Fachperspektiven und Tätigkeitszusammenhängen mit Blick auf kontrovers verhandelte Themen wie Migration, Ungleichheit, Digitalisierung, Kriminalität, Gesundheit und Ökologie nach.

Bei Fragen oder Anmerkungen schreiben Sie gerne an wizzeg@uni-oldenburg.de.  

Ambivalenzen der Digitalisierung

von Tobias Peter

von Tobias Peter

Im Workshop 3 „Digitalisierung“ diskutierten diese Gäste aus Handwerk, Wissenschaft und Politik über Erfahrungen im Umgang mit Digitalisierung des Sozialen, des Politischen und des Ökonomischen: Andreas Fickenscher (Geschäftsleiter Fickenschers Backhaus), Ira Diethelm (Professorin der Didaktik der Informatik, CvO Universität Oldenburg), Jochen Meyer (Bereichsleiter, FuE-Gesundheit, OFFIS, CvO Universität Oldenburg; Self-Tracker) und Nele Heise (Medienwissenschaftlerin).

Digitalisierungsprozesse sind immer wieder von einer Atmosphäre der Faszination umgeben, die durch persönliche Erfahrungen und Beispiele ausgelöst und verstärkt wird. Dies bestätigte sich auch in der Zukunftswerkstatt zur ‚Digitalisierung,’ in der die mit Digitalisierung verbundenen Vorstellungen von Zukunft sowie die bereits gegenwärtig zu beobachtenden Auswirkungen diskutiert wurden: Was wird wie digitalisiert und mit welchen politischen wie sozialen Konsequenzen?

In den Beschreibungen und Diskussionslinien der Zukunftswerkstatt wurden Aspekte deutlich, die auch Digitalisierungsdebatte im Allgemeinen zu prägen scheinen. So fällt die starke Gegenwartsorientierung der Beiträge auf. Implizite Zukunftsbezüge wurden eher über die Wucht der Transformation hergestellt – die Zukunft wird über die bereits in der Gegenwart beobachtbaren Effekte von Digitalisierung sichtbar. Dabei zeigen sich grundlegende Ambivalenzen der Digitalisierung, die auch für die Gegenwärtigkeit anderer Transformationsprozesse typisch ist. Deutlich schälen sich einige widerstrebende Topoi und Subjektvorstellungen heraus, die über das Zusammenspiel von Argumentationsfiguren, Narrativen und Rhetoriken hergestellt werden.

Rasanz und Ubiquität
Digitalisierung zeichnet sich zum einen durch einen rasanten und tiefgreifenden Wandel aus, der für die Vergangenheit festgestellt, die Gegenwart beobachtet und die Zukunft erwartet wird. Diese beschleunigte Transformation steht im Gegensatz zu gesellschaftlichen Wandlungsprozessen, die wie z.B. die eher als allmähliche Veränderung beschriebenen Konsequenzen von Migrationsprozessen. Die wohl eindrücklichste wissenschaftliche Figur ist die exponentielle Entwicklung digitaler Technologien, wie sie durch Moores Gesetz beschrieben wird (Heise).
Mit dieser Entwicklung wird nicht nur die alte These von der Unaufhaltsamkeit des technischen Fortschritts reformuliert, sondern zugleich die Dynamik eines gegenwartsdiagnostisch prominent beschriebenen Zeitalters der Beschleunigung (Hartmut Rosa) zum Ausdruck gebracht. In dieses Narrativ sind verschiedene Sprachbilder eingeschrieben, wie die z.B. von Heise aufgerufen werden: Frühe User und Nachzügler oder Nationen als erste Welle der Digitalisierung sind nur einige Figuren subjektivierter Zeitlichkeit. Wie tief die Logik der Beschleunigung in Digitalisierungsprozesse eingeschrieben ist, zeigen z.B. die Effizienzsteigerungen der Bäckerei Fickenscher etwa bei der deutlich schnelleren Bearbeitung von Reklamationen oder der Übernahme aufwendiger Tätigkeiten wie das Berechnen von Rezepten.
Am Beispiel der Bäckerei zeigt sich zugleich, wie tiefgreifend und ubiquitär der digitale Wandel verstanden wird: jeder Familienbetrieb scheint eine Digitalisierungsstrategie zu brauchen, denn Codes und Algorithmen können überall eingesetzt werden und positive Effekte zeitigen. Weil digitale Technologien zunehmend den Alltag bestimmen und umwälzen, wird es immer schwieriger, sich ihm zu entziehen. Die damit verbundenen Dringlichkeitseffekte sind vielfältig: so ermöglicht die Digitalisierung eine Individualisierung von Torten und Autos gleichermaßen und treibt damit einen radikalen Wandel der Verkaufskultur voran. Wer sich diesem Veränderungsdruck nicht stellt, so die Erwartung für die Zukunft, droht den Anschluss zu verlieren. Dies gilt für die Wirtschaft ebenso wie für andere Bereiche wie der Bildung: Digitalisierung ermöglicht es, Entwicklungsrückstände wie bei der Alphabetisierung in bestimmten afrikanischen Ländern aufzuholen (Meyer), zugleich setzt sie etablierte Bildungssysteme unter Druck, dem „digitalen Bildungsauftrag“ (Diethelm) gerecht zu werden. Wo auf Dringlichkeiten reagiert werden muss, reichen Anreize nicht mehr aus – diskutiert wird dementsprechend ein digitaler Pflichtkanon und -unterricht für Schüler ebenso wie eine verbindliche Digitalisierungs-Weiterbildung von Lehrkräften (Diethelm). Mit der Rasanz und Ubiquität der Digitalisierung scheinen, verglichen mit anderen Gegenwartsdiagnosen wie Nachhaltigkeit oder Migration, die Möglichkeiten des Entzugs oder Verweigerung gegenüber dem gesellschaftlichen Transformationsdruck zu schwinden.

Unübersichtlichkeit vs. Beherrschbare Komplexität
So unübersehbar die Reichweite und Dynamik digitaler Transformation zu sein scheinen, so sehr gehen die Urteile über die Konsequenzen auseinander. Zum einen problematisieren die gegenwartsdiagnostischen Beschreibungen der Digitalisierung eine neue Unübersichtlichkeit. Sie oszillieren zwischen utopischen Verheißungen und utopieeinlösenden Versprechen einerseits und dystopischen Bedrohungsszenarien andererseits, wie Ira Diethelm und Martin Butler ausführen. Die Beurteilungen der Digitalisierung sind umstritten bis konfliktiv und keinesfalls eindeutig. Ebenso verdeutlichen Visualisierungen dieser Unübersichtlichkeit wie verwirrende Netzwerkstrukturen (Heise) und Sprachbilder wie das „Labyrinth des Internets“, dass sich das Phänomen der Digitalisierung vielfach der Erfassbarkeit entzieht.
Dem gegenüber steht zum anderen die Perspektive, dass die Digitalisierung zugleich Möglichkeiten bereitstellt, Komplexität beherrschen zu können und zu müssen. Digitalisierung erleichtert die Wissenserzeugung und die Erschließung neuen Wissens, neuer Kompetenzen und neuer Märkte. Mit der einmalig hohen Verfügbarkeit von Informationen erfordert und ermöglicht Digitalisierung auch deren Filterung. Daraus ergeben sich wiederum erhöhte Sichtbarkeitsbedarfe, den mit Profilbildungsstrategien entsprochen werden kann (Heise). Digitalisierung entfacht somit in allen gesellschaftlichen Bereichen Positionierungskämpfe – sei es in der Wissenschaft oder im Handwerk. Hochwertige Produkte reichen nicht aus, sondern Storytelling ist entscheidend (Fickenscher). Digitalisierung ist auf kulturelle Faktoren, um sich am Markt durchzusetzen, sei es beim iPhone (Meyer) oder beim ‘Heimatbrot’, das in Fickenschers Backhaus Essen als Kulturgut inszeniert.
Dabei sind es gerade digitale Techniken, die es ermöglichen zum Ursprünglichen und Authentischen zu finden. „Singularisierung“ (Reckwitz) ist eine Antwort auf den digitalisierungsgetriebenen Bedarf, sich unterscheiden zu müssen. Digitalisierung erzeugt Komplexität und stellt zugleich das „digitale Handwerkzeug“ (Fickenscher) bereit, um diese Komplexität zu bewältigen. Indizierungen wie Google Scholar, die Sortierung digital erzeugter Informationen durch Graphen und Statistiken (Meyer) bis zur Ikonographie der Tool-Logos von WhatsApp, Skype bis Slack insinuieren die Beherrschbarkeit digital erzeugter Komplexität.

Schließung vs. Öffnung
Ebenfalls umkämpft ist die Frage, ob die digitale Transformation zur gesellschaftlichen Schließung oder Öffnung beiträgt. Die Rede von der Digitalisierung ruft zum einen Bilder des verborgenen Wirkens auf: Digitale Prozesse, Codes und Algorithmen arbeiten als verdeckte Problemlösungsvorschriften unter Nutzungsoberflächen (Heise). Urteile aus dem Computer, Bots, die eigenständig Geheimsprachen entwickeln und die allgegenwärtige NSA-Überwachung (Diethelm) befeuern eine erneuerte Maschinenskepsis. Das Narrativ der automatisierten und verborgenen Macht arbeitet dabei mit Bildern, die an Maschinen- und Robotermetapher früherer Epochen anknüpfen (Heise). Zugleich symbolisieren die Datenzentren von Google und anderer Konzerne eine konkrete Adresse einer Machtkritik (Diethelm). Das verborgene Wirken digitaler Prozesse und Akteure – so die dystopische Perspektive – tendiert zur Schließung und entzieht sich mehr und mehr der Verfügbarkeit einer Steuerung durch das autonome Subjekt.

Darüber hinaus entpuppen sich Digitalisierungsprozesse auf vielfältige Weise als gesellschaftlicher Spaltpilz. Digitalisierung erzeugt zum einen Barrieren beim Zugang zu und dem Umgang mit digitalen Kompetenzen und Infrastrukturen, mit denen, laut Paul Mecheril und Jochen Meyer, tiefer liegende Differenzen hinsichtlich Einkommens- und Bildungsstatus, Alter oder Migrationshintergrund als negative Faktoren bei Zugang zu Technik reproduziert werden. Zugleich wird die Fragmentierung innerhalb digitaler Kommunikationszusammenhänge begünstigt. Das gängige Bild der Blase meint die Herausbildung professioneller Berufsbubbles (Diethelm) ebenso wie hermetischer sozialer oder ideologischer Kommunikationsinseln, in denen anti-aufklärerische Tendenzen und Fake-News gedeihen (Heise).
Im scharfen Kontrast dazu stehen Hoffnungen darauf, dass sich mit der Digitalisierung neue Möglichkeiten der gesellschaftlichen Öffnung ergeben. Eine Demokratisierung des gesellschaftlichen Diskurses begründet sich insbesondere in der Öffnung von Kommunikationskanälen für bisher nicht sprachfähige Gruppen (Heise). Sie bezieht sich dabei nicht nur auf die neuen Möglichkeiten der Selbstorganisation und Kommunikation in öffentlichen Angelegenheiten, sondern auch auf anderen Ebenen. Auf institutioneller Ebene werden durch digitale Tools (betriebliche) Partizipationsprozesse, auch z.B. für Gehörlose durch schriftliche Kommunikationssysteme erleichtert (Fickenscher) und so Transparenz und Inklusion ermöglicht. In diesem Zusammenhang stehen die digitalen Potentiale individueller Ermächtigung in scharfen Kontrast zu den oben genannten Ohnmachtsbeschreibungen.

Unmündigkeit vs. Ermächtigung
Eine weitere Bruchlinie in der ambivalenten Bewertung der Digitalisierung zeigt sich in der Frage, ob Digitalisierungsprozesse eher Unmündigkeit Vorschub leisten oder Ermächtigung anstoßen. Filme wie Metropolis ebenso wie E.M. Forsters frühe Beschreibung des Internets als Entmündigungsmaschine in Die Maschine steht still von 1909 formulieren bereits früh ein Narrativ der technikinduzierten Unmündigkeit. Aufgerufen werden dabei zwei miteinander verschränkte Ebenen: zum einen das Zauberlehrling-Prinzip einer sich verselbständigenden Technik, die in den Debatten um künstliche Intelligenz diskutiert wird; zum anderen die Entfremdung des Selbst durch den Verlust des Gespür für den eigenen Körper durch Technologien wie Self-Tracking oder einer Vielzahl an persönlichen Kompetenzen, die durch digitale Assistenztools übernommen werden. In der Verbindung beider Ebenen wir die Unmündigkeit des Einzelnen als drohende Konsequenz der Digitalisierung formuliert. Nicht zuletzt in den Debatten um die umfassende Sammlung und Aggregierung von Daten entsteht das Sprachbild des digitalen Panopticon (Diethelm), indem das Subjekt lediglich als ohnmächtiges Opfer technischer Überwältigung erscheint. In der Konsequenz entspinnt sich ein Konflikt zwischen technischer Machbarkeit und ethischer Vertretbarkeit, z.B. im Hinblick auf den Machteinfluss und die Verantwortung von Google, Facebook & Co. oder die Ethik des Programmierens (Heise), indem bekannte Fragestellungen der Atomdebatte reformuliert werden. Die „German Angst“ wird dabei als positive Ressource im Umgang mit neuen Gefahren des Datenmissbrauchs betrachtet. Aus der Brisanz der Entmündigungsgefahr heraus erscheint der Widerstand gegenüber Überwachung und missbräuchlicher Datennutzung geradezu als Pflicht – Edward Snowden erscheint in einer Reihe mit Henry David Thoreau und Sun Tzu. Zugleich werden Gegenentwürfe zu digitaler Macht, wie z.B. freie Cloud-Lösungen (Heise) dringlicher denn je: „program or be programmed“ (Rushkoff) lautet für manche Losung und Lösung (Diethelm).
Diese Interventionen gegenüber Unmündigkeits- und Ohnmachtserfahrungen zeigen damit die Ermächtigungspotentiale der Digitalisierung auf. Sie erscheinen nicht nur vor dem Hintergrund der negativen Potentiale der Digitalisierung, sondern allgemeiner gesellschaftlicher Entwicklungen von Gesundheitsgefährdungen, demographischen Wandel oder Pflegenotstand (Meyer). Die Verheißung von „Digitalien“ (Fickenscher) stellt in Aussicht, dass heute ungelöste Fragen in Zukunft beantwortbar werden. Digitale Ermächtigung bezieht sich dabei sowohl auf soziale Beziehungen als auch auf individuelles Handeln im Alltag. Demnach wächst mit den Arbeitserleichterungen und Vernetzungsmöglichkeiten durch digitale Tools die Qualität des Kontakts in privaten Kontexten ebenso wie z.B. in Dienstleistungen wie Bank-Gesprächen. Das paradox anmutende Argument: Gerade die Entlastung durch digital unterstützte Techniken wie Reiferäume und automatisierte Rezeptmischung in einer Bäckerei ermöglicht es, sich auf Kernkompetenzen wie die Entwicklung authentischer Rezepturen zu konzentrieren und humanere Arbeitsbedingungen durch den Verzicht auf Nachtschicht einzuführen (Fickenscher). Digitale Techniken wie des Self-Trackings (Meyer) versprechen, das eigene Verhalten besser zu verstehen und folglich die eigene Gesundheit besser steuern zu können. Eindrucksvoll vorgeführt an Erfolgen wie einem erheblichen Gewichtsverlust führen Technologien wie z.B. Self-Tracking zu verbessertem Selbstverständnis, indem sie durch Statistiken und Graphen von Gewicht, Laufpensum und Aufstehzeiten das subjektive Empfinden durch objektive Daten einordnen helfen. Sie suggerieren individuelle Kontrollfähigkeit in einer nicht kontrollierbaren Welt. Mit Smart Health Devices oder auch den Smart Homes des vernetzten Wohnens wird das bekannte Technikversprechen einer Entlastung von lästigen Aufgaben und der damit einhergehenden Erhöhung individueller Reichweite und eines aktiveren und selbstbestimmteren Lebens reaktualisiert. Die Subjektfiguren der Selbstoptimierung rufen dabei einen normativen Entwurf des souveränen Subjekts auf, der die Kehrseite jeder Ermächtigung ebenso sichtbar macht. Wo Subjekte ermächtigt werden können, ist das ermächtigt werden und aktiv sein müssen nicht weit (Diethelm).

Tobias Peter, Dr. rer. pol., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Soziologie der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg im Breisgau.
Kontakt: tobias.peter@soziologie.uni-freiburg.de 

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