von Thomas Etzemüller
Das „Ziel von Public Interest Design“, so postulierte es Heike Delitz, sei „in demokratisch instituierten Gesellschaften […] der zu hegende, gewaltfrei zu haltende, permanente Streit unterschiedlicher Positionen, die als Gleiche auftreten. Weder Besitz, Bildung noch Stand sollen den Streit vorbestimmen. […] Zu diesem Politischen gehört ein spezifischer architektonischer Modus der kollektiven Existenz – komplexe, urbane, öffentlichen Raum einräumende Artefakt-Kulturen“ (Delitz 2018: 30). Nicht die Dörfer, sondern die Städte „bieten den Rahmen für die Konstitution von Demokratie, Integration und Partizipation“, zitiert sie Johannes Busmann (Delitz 2018: 31).
Das ist arg normativ und unverhohlen idealistisch gedacht; wie solche gemeinwohlorientierten Öffentlichkeiten herrschaftsfrei Konflikte austragen sollen – und warum nur in der Stadt – und was daraus folgen soll – wird nicht einmal skizziert. Daniel Feige hat demgegenüber den latent affirmativen Charakter allen Designs hervorgehoben. „Kunst ist Kritik, Design bedarf der Kritik“ (Feige 2019: 10), lautet seine These. Kunst könne die Gesellschaft kritisch durchleuchten; Design erkenne – weil es lösungsorientiert den Rückzug des Staates kompensiere – automatisch den Status Quo an, und er meint insbesondere die Allmachtsphantasien des Funktionalismus einer „Neuformung der Gesellschaft aus dem Geiste der Gestaltung“ (Feige 2019: 45). Social Design dagegen habe top down– durch bottom up-Prozesse ersetzt, die funktionalistischen Demiurgen durch emanzipierte Diskursteilnehmer – müsse aber aufpassen, seinerseits nicht zur Ideologie und „uniformen Sozialtechnologie“ zu gerinnen (ebd.).
Zwei Positionen, und wie üblich kann man zwischen ihnen hindurchsteuern – oder sie dialektisch verbinden. Dann stellt man fest, dass seit der Gartenstadt-Bewegung des 19. Jahrhunderts Experten, Gemeinwohl, Partizipation und Machtbeziehungen unlösbar miteinander verknüpft waren in der Utopie eines „Neuen Menschen“. Funktionalistischen Experten und Expertinnen, die den Siedlungs-, den Hausbau und die Hausarbeit rationalisieren wollten, ging es nämlich – in einem weiteren Sinne – um die soziale Frage. Durch Design sollte die Welt umgestaltet werden, um reale oder vermeintliche soziale Verwerfungen zu eliminieren, um, pathetisch gesagt, die Welt zu reparieren. Das bedeutete jedoch zugleich eine Umgestaltung der Menschen, die in ihr lebten, ihrer Lebensweisen, Körperbewegungen und Weltwahrnehmung. Von daher bedeutet Design die Verbesserung sozialer Bedingungen und eine Re-Konfigurierung von Machtbeziehungen bzw. eine Re-Subjektivierung von Menschen gleichermaßen.
Die Schwedin Ellen Key publizierte seit 1897 eine Reihe von Aufsätzen, die 1913 im programmatischen Büchlein „Schönheit für alle“ zusammengefasst wurden. Ein Gegenstand, so Key, sei schön, wenn er funktional, einfach, leicht, fein, ausdrucksvoll, ehrlich und so vollkommen wie die reine Natur sei; außerdem müsse der Kontext, in den ein Gegenstand eingefügt werde, stimmen. Das Gegenteil waren hässliche Gegenstände, die ihre Funktion mit Prunk übertünchten; der Architekt Adolf Loos hatte bereits 1908 gegen das „Ornament als Verbrechen“ gewettert, der Kunsthistoriker Sigfried Giedion prangerte 1948 die „Herrschaft des Tapezierers“ an. Schönheit, so Key, ergab sich aus der Eigenschaft von Gegenständen, der Fähigkeit, sie in einem schönen Ensemble zu vereinen, und aus Vernunftgründen. Geschmack sei das Gespür für die tiefe Wahrheit der Natur. Die Natur zeige sich auf ganz schlichte Weise, ohne sinnloses Ornament; und das Schöne sei das Vollkommene. Der moderne Mensch aber habe das Gefühl für Ausgewogenheit und Maß verloren.
Keys Text ist paradigmatisch für die Bewertung von Schönheit in der Moderne gewesen. Schönheit hatte eine existenzielle Bedeutung, sie war auf die angeblich verlorene Balance der Welt, eine Entfremdung von der Natur bezogen. Das fügt sich in zwei Standardnarrative über die Moderne ein, die im 19. Jahrhundert entstanden und mindestens bis in die 1960er Jahre überdauerten, und die wir in praktisch allen politischen Systemen der westlichen Welt lesen können. Erstens: In der Vormoderne finden wir Gesellschaft in der Form einer sozial integrierten Gemeinschaft vor. Im 19. Jahrhundert setzte sich die atomisierende Gesellschaft durch, die zu exzessivem Individualismus und zugleich zur Massengesellschaft führte. Zukünftig müsse man mit den technischen Mitteln der Moderne Gemeinschaften restaurieren, aber nicht als nostalgische Rückkehr in ein vermeintlich goldenes Zeitalter, sondern als Aufbruch in eine sozialharmonische Zukunft, die die Moderne überwunden haben würde, ohne zur Vormoderne zu regredieren – eine anti-moderne Moderne sozusagen. Und diese Bewegung, so das zweite Narrativ, würde so aussehen: von der integrierten, aber verlorenen Dorfgemeinschaft als Vorbild durch die Schrecken der Industrialisierung hindurch in die moderne Gemeinschaft der Gartenstadt. Keiner dieser Experten allerdings, auch Key nicht, wollte die Moderne an sich überwinden, nur deren vermeintlich destruktiven Folgen. Das „Ganze Haus“ des Historikers Otto Brunner, in dem Bauern und Gesinde angeblich eine unlösbare organische Einheit gebildet hatten, oder das Kaminfeuer Keys, um das sich die Familie sammelte und wo die Großmutter auf ihre stille Weise von früher berichtete, bildeten bloß eine romantisierende Folie. Der Fluchtpunkt lag stets in der Zukunft.
Deshalb sahen es beispielsweise Architekten, Stadtplaner und Haushaltsexperten als vordringlichste Aufgabe an, ein ideales Habitat zu schaffen. Designter Raum, Subjektivierung, Sozialordnung und Zukunft waren in diesem Denken unlösbar verbunden. Würde falsch gebaut und subjektiviert, gäbe es keine Zukunft, sondern bloß zerstörte Sozialordnung, d. h. Niedergang. Und genau daraus zogen Experten – und das tun sie bis heute – die Legitimation ihrer sozialtechnokratischen Großentwürfe. Gleichzeitig war dadurch auch der Masse der Menschen ein entscheidender Akteursstatus zugewiesen. Der moderne Mensch musste sich stets peinlich genau prüfen, um sein eigenes Verhalten immer wieder am Gemeinwohl auszurichten. In gewisser Weise haben wir es, wie im Social Design später, mit dem Ideal einer permanenten Partizipation aller Menschen zu tun. Die einen lehren und leiten Menschen und lassen sich durch Empirie belehren, die anderen erwecken die Pläne der Experten durch ihr Alltagsverhalten überhaupt erst zum Leben und dienen als kollektive signifier, ob nun die Entwicklung in die richtige Richtung läuft oder nicht, und ob eventuell die Zielmarke der Richtung korrigiert werden muss. Das Verhältnis ist also asymmetrisch, aber holistisch gedacht. Die Mikroebene des Alltagshandelns und die Makroebene der Gesellschaftsordnung, Gegenwart und Zukunft werden als unlösbare Einheit gedacht. Der Vergangenheit kommt in diesem Modell eine doppelte Rolle zu: Als Leitbild eines zu restaurierenden, idealen Prinzips und als diejenige Epoche, in der die aktuellen und zu überwindenden Verwerfungen allmählich begonnen haben. Vergangenheit und Moderne sind also doppelt codiert, positiv und kritisch: Mit den Mitteln der Moderne kann man die integrativen Aspekte der Vergangenheit gegen die Moderne, deren desintegrativen Tendenzen in der Vergangenheit ihren Ausgangspunkt nahmen, reaktivieren.
Neben dem Habitat spielten auch die Gegenstände des Alltags eine wichtige Rolle. Schöne Gegenstände für alle mussten preisgünstig sein, erforderten also die Massenproduktion. Sie sollten funktional und haltbar sein, damit tatsächlich alle sie sich leisten konnten, und nicht nur eine vermögende Elite (eine durch Manufactum pervertierte Idee). Und sie sollten geschmackvoll sein. Wer jeden Tag schlichtes, funktionales und geschmackvolles Besteck und Geschirr auf dem Esstisch hatte, wer jeden Tag mit funktionalen Möbeln und Küchenutensilien zu tun hatte, der und die, so die Annahme, würde automatisch, unbewusst und vor allem: ungezwungen! lernen, wie man sein Leben rational gestaltet, und im Effekt, ohne sich weigern zu können, Zeit einsparen, die der Familie oder der geistigen Bildung dienen würden, ohne die es nicht genügend „gesunde“ Kinder und Fachkräfte geben würde. Deshalb hatte schon Ellen Key seinerzeit eine Allianz von Künstlern und Unternehmern gefordert.
In dieser Proto-Form des „Nudging“ wurde weniger vorgeschrieben oder verboten. Es wurden vielmehr Möglichkeiten abgeschnitten, die die Menschen nicht vermissen würden, wenn sie sie nie kennen gelernt hatten. Wer von Kind an tagtäglich in einer „Frankfurter Küche“ arbeitete oder Bäder und Schlafzimmer – effizient komprimiert wie im Schlafwagen – gewohnt war, der konnte gar nicht anders, als die eigenen Bewegungen und den Tagesablauf auf äußerste Sparsamkeit zu trimmen. Modernes Design bedeutete in dieser Perspektive Vernunft, weil „schädliche“ Verhaltensweisen aus dem Bewusstsein der Menschen ausgeblendet wurden, weil die Funktion des Gerätes sie unmöglich machte. Wenn man Möglichkeiten reduzierte, wurden den Menschen sinnvolle Variationsmöglichkeiten eröffnet – Freiheit durch Beschnitt sozusagen, statt der exzessiven Freiheit des Liberalismus, die in den Augen vieler Zeitgenossen das Leben strukturlos und deshalb unsicher machte.
Die Ambivalenz dieser Form der Sozialplanung dürfte deutlich geworden sein. Planer wollten Beplante erziehen, sich selbst zu erziehen und auf diese Weise „neue Menschen“ konditionieren. Damit ist zwischen Planern, Design und Beplanten eine Macht-, aber keine Herrschaftsbeziehung konstituiert worden. Diese Geschichte sollten die Befürworter des „Social Design“ heute kennen – um die Machteffekte ihres Tuns nicht zu übersehen.
Zitierte Literatur:
Delitz, Heike: Das „öffentliche Interesse“. Über das „Public“ in Public Interest Design, in: Rodatz, Christoph/Smolarski, Pierre (Hg.): Was ist Public Interest Design? Beiträge zur Gestaltung öffentlicher Interessen, Bielefeld 2018, S. 15-36.
Feige, Daniel Martin: Zur Dialektik des Social Design, Hamburg 2019.
Thomas Etzemüller, Dr. phil., ist Professor für Kulturgeschichte der Moderne unter besonderer Berücksichtigung Nordeuropas am Institut für Geschichte der Carl von Ossietzky-Universität Oldenburg.
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