Über diesen Blog.

Hier schreiben Wissenschaftler*innen der Universität Oldenburg und Gastautor*innen darüber, wie sich Gesellschaften selbst wahrnehmen und thematisieren, sich ihrer jeweiligen Gegenwart vergewissern und dabei in die Zukunft entwerfen.

Wie stehen diese Selbstwahrnehmungen und -entwürfe mit Institutionen, Medien und Techniken zur Gestaltung von Natur, Gesellschaft und Subjektivität in Verbindung? Wie modellieren sie den lebensweltlichen Alltag und halten Menschen zu einem bestimmten Verhalten an? Wie werden diese Interventionen in das Gegebene begründet und legitimiert, aber auch kritisiert, verworfen oder unterlaufen?

Diesen Fragen, deren interdisziplinäre Reflexion eines der zentralen Anliegen des Wissenschaftlichen Zentrums „Genealogie der Gegenwart“ ist, gehen die Blogger aus unterschiedlichen Fachperspektiven und Tätigkeitszusammenhängen mit Blick auf kontrovers verhandelte Themen wie Migration, Ungleichheit, Digitalisierung, Kriminalität, Gesundheit und Ökologie nach.

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Die Körper, die Stadt, das Virus

von Thomas Alkemeyer

von Thomas Alkemeyer

Beobachtungen zur Veränderung der Körperlichkeit des urbanen Alltag

Adidas, Nike, Puma – sie haben perfekt in einer Gesellschaft des Wettkampfes funktioniert, in der es kaum etwas gab, „aus dem sich nicht eine ‚Challenge‘ machen ließ“, schrieb am 18. April der Berliner Tagesspiegel. Damit aber sei es in diesen Zeiten vorbei, für die drei Sportartikelriesen werde es auch ökonomisch eng. Das sich als nachhaltig vermarktende Fashionlabel Filippa K hat bereits reagiert. Es propagiert Entspannung statt Wettkampf und Optimierung. Und der Menswear-Designer ausgerechnet von Louis Vuitton meint, Menschlichkeit sei nun auch in der Mode wichtiger als Eitelkeit. Das passt zu einer Beobachtung des Freiburger Soziologen Ulrich Bröckling, der Optimierungsimperativ verliere an „Sogkraft“, „wenn angesichts von Pandemien, Klimawandel und anderen Bedrohungen die Zukunftshoffnungen darauf zusammenschnurren, dass es im besten Fall nicht ganz so schlimm kommen wird.“ Mit den Zukunftsszenarien verändert sich die Gegenwart: Vorbeugen, Nachhaltigkeit und Coping werden wichtiger als Perfektionierung, Steigerung und Singularität.

Der Körper als gefährdeter Gefährder

Wer derzeit durch eine deutsche Großstadt geht, nimmt Anzeichen dieses Wandels leibhaftig wahr. Straßen, öffentliche Plätze und Parkanlagen wimmeln von Spaziergänger*innen, Fahrradfahrer*innen, Jogger*innen und Inlineskater*innen, von Fitness-Praktikant*innen und Gymnast*innen nahezu aller Altersstufen. Die einen dehnen, recken und strecken altdeutsch ihren müden Knochen, andere verknoten in putzigen Yoga Asanas ihren Körper, um ihre erschöpfte Seele zu revitalisieren. Dass sich Menschen – zumal bei Sonnenschein und frühsommerlichen Temperaturen – in der urbanen Öffentlichkeit sportlich betätigen, ist keineswegs neu. Dieser Trend lässt sich seit den 1980er Jahren beobachten. Jedoch haben sich die Szenerie und der Sound des Stadtraums in den letzten vier Wochen merklich gewandelt. Es ist viel ruhiger geworden – Straßen ohne Autokolonnen, der Himmel nahezu ohne Flugzeuge, weder Musik noch Stimmengewirr aus Kneipen und Straßencafés. Vor dieser Kulisse treten die zahllosen Fortbewegungseinheiten, die zu Fuß, auf Rädern oder Rollen allein oder in Zweierteams unterwegs sind, umso deutlicher in Erscheinung.

Zudem scheint die Anhängerschaft sportiver Frischluftbewegung gewachsen zu sein. Fahrradhändler*innen dürfen sich über ein gutes Geschäft freuen, und man begegnet etlichen Outdoor-Motoriker*innen, deren schweren Schritten zu entnehmen ist, dass das Joggen noch nicht allzu lange zu ihren Kernbeschäftigungen zählt. Erfahrene Ausdauerläufer*innen sprechen abfällig von „Corona-Joggern“. Und, vor allem: Die neue Massen-Bewegung wird augenscheinlich weniger von einem Bedürfnis nach Überbietung und Selbstdarstellung angetrieben, sondern hat ganz andere Motive. Ihre Mitglieder wetteifern nicht um das höchste Tempo, das frischeste Aussehen oder die am besten definierte Muskulatur, sie betreiben kein selbstverliebtes Spiel mit dem eigenen Körper, sondern bewegen sich moderat und kompensieren gänzlich unspektakulär jenen Stillstand, zu dem die rasante Veränderung unserer Gesellschaft sie derzeit verurteilt. Der Körper hat in dieser Krisen-Kompensations-Bewegung, so scheint es, nicht den Status eines Rohmaterials, das auf Wirkung berechnet optimiert und gestaltet werden soll, um die Erfolgschancen auf den Märkten der Arbeit und der Erotik zu erhöhen. Er wird vielmehr als eine anfällige und verletzliche Größe neuentdeckt, die der Zuwendung und der Fürsorge bedarf, um gesund oder gar am Leben zu bleiben. Moderate Bewegung an frischer Luft trainiere nicht nur das Herz-Kreislauf-System und die Muskulatur, sondern stärke auch das Immunsystem, indem sie die Produktion von Killerzellen und Lymphozyten anrege, die uns vor Bakterien und Viren schützen. Hartes Leistungstraining habe hingegen den genau gegenteiligen Effekt und mache uns besonders anfällig für Infektionen, sagen Sportmediziner*innen.

Diese neue Achtsamkeit und Vor-Sicht erstreckt sich nicht nur auf den eigenen, sondern auch auf die Körper der Anderen: In dem Maße, in dem der eigene Körper als ein gefährdetes Gut wahrgenommen wird, treten die anderen Körper als potentielle Gefahrenquellen auf die Bühne flüchtiger Kontaktsituationen. In den Zeiten ante coronam forderte die Grundregel für den Kontakt der verschiedenen Fortbewegungseinheiten – Autos, Radfahrer*innen, flanierende Paare etc. – dazu auf, Zusammenstöße zu verhindern. Nun klagt sie einen Abstand von mindestens anderthalb Meter ein. Dies führt vor allem dort, wo es voll ist, in Parks und auf Radwegen, zu mitunter bizarren Verrenkungen, Ausweichmanövern und sozialen Konstellationen. Denn alles Mögliche muss bedacht werden: das Tempo und die Bewegungsrichtung der begegnenden Gefahren-Körper, der verfügbare Ausweichraum, die Beziehung zur Jogging-Partnerin (lebt man zusammen, darf man sich ruhig näher kommen usw.). Die Herausforderungen an das eigene Koordinationsvermögen sind enorm, das gewohnte Körperverhalten verliert seine Selbstverständlichkeit.

Distanz aus Angst

In den ersten beiden Wochen des Lockdowns war die neue Verhaltensunsicherheit noch mit den Händen zu greifen. Man konnte an Anderen wie an sich selbst bemerken, wie erst nachgedacht und ein zeitraubender Umweg über das reflektierende Bewusstsein beschritten werden musste, um die eigene Bewegung auf die Bewegungen anderer Fortbewegungseinheiten abzustimmen. Allmählich aber beginnt das Ausweichen und Abstandhalten zu einer neuen Körperroutine zu werden. Recht schnell werden die leiblichen Kundgaben der Anderen inzwischen entziffert und kann das eigene Verhalten – Tempo, Bewegungsrichtung, die Schwingungsweite der Gliedmaßen – auf das Entzifferte eingestellt werden. Zusammen mit der Ausdehnung der „Territorien des Selbst“ (Erving Goffman) auf einen Radius von mindestens 1,50 Meter, in die einzudringen als eine gewalttätige Verletzung nicht nur der persönlichen Integrität, sondern potentiell auch der Gesundheit wahrgenommen wird, entstehen neue Weisen körperdistanzierter und körperdistanzierender Interaktion: Man soll einen großen Bogen machen, wenn man andere Menschen passiert, oder – besser noch – dort Flanieren, Laufen oder Radfahren, wo nur wenige Menschen unterwegs sind. Denn nur bei nötigem Abstand sei man sicher vor den Anderen – und seien die Anderen sicher vor einem selbst. Politiker*innen geht das social distancing längst so unfallfrei über die Lippen wie vor noch nicht allzu langer Zeit die schwarze Null.

Distanz zu wahren, ist historisch ein konstitutives Merkmal dessen, was der Soziologe Norbert Elias als Prozess der Zivilisation bezeichnet hat: Die Affekte mussten reguliert, die Gewalt musste kontrolliert, der Abstand musste gewahrt werden, sonst hätte die moderne, hoch differenzierte und auf globalen Abhängigkeiten beruhende Gesellschaft nicht entstehen und sich nicht erhalten können. Körperdistanz wurde seit dem Mittelalter zu einem funktionalen Verhaltensstandard der Höflichkeit, der ausgehend von den oberen sozialen Ständen nach und nach die gesamte Gesellschaft durchdrang. Das Motiv der gegenwärtig zu beobachtenden Distanzpraktiken ist jedoch nicht Höflichkeit, sondern die nackte Angst vor den Körpern der Anderen. Man kann nie sicher sein. Sinnfälliger Ausweis der Gefahr, die von jedem Körper ausgehen kann, ist die langsam gesellschaftsfähig werdende Maske. Sie markiert den Körper sichtbar als einen potentiellen Infektionsherd, dessen sichtbare Öffnungen daran gehindert werden müssen, seine womöglich hoch ansteckenden Viren unkontrolliert in die Welt zu schleudern, und suggeriert zugleich Schutz vor fremden Viren. Die Sorge um den eigenen und die Angst vor dem anderen Körper bedingen einander.

Elias hat gezeigt, dass mit der Durchsetzung von Distanzregeln die Scham- und Peinlichkeitsschwellen niedriger wurden: Der moderne Mensch fühlt sich peinlich berührt, wenn er Fremden allzu nahe kommt, besonders dann, wenn diese Intimes verrichten – wenn sie schlafen, Sex haben oder ihr Geschäft erledigen. Derzeit beginnen wir, Unbehagen und Pein bereits dann zu entwickeln, wenn wir sehen, dass Menschen in aller Öffentlichkeit nahe beieinandersitzen, -stehen oder gar -liegen, von Berührungen ganz zu schweigen. Bilder ausgelassen feiernder, sich umarmender, aus einem Glas trinkender oder auch auf öffentlichen Plätzen gemeinsam protestierender Menschen, die für uns noch vor vier Wochen völlig normal waren, kommen uns nun vor, als stammten sie aus einer dunklen Vergangenheit: So etwas war möglich, wussten die denn gar nicht, welche Risiken sie eingehen? Physische Nähe hat binnen kürzester Zeit seine Unschuld verloren. Man kann sie kaum mehr arglos praktizieren. Sie ist so etwas wie das neue Rauchen.

Corona-Rassismus

Mitunter schlägt die Angst vor dem anderen Körper auch in Rassismus um. Dies ist dann der Fall, wenn der andere Körper als ein Exemplar wahrgenommen wird, als die Verkörperung der Eigenschaften einer ganzen Gruppe anderer, ähnlicher Körper. In Deutschland erfahren dies massiv derzeit vor allem asiatisch aussehende Menschen. Weil das Virus nach heutigem Wissensstand zuerst in der chinesischen Millionenmetropole Wuhan auftrat, werden diese Menschen zunehmend als potentielle Überträger und ansteckende Gefahr ausgemacht, beschimpft und, ja, bespuckt (s. Berliner Tagesspiegel vom 18. April). Dazu hat von Anfang an auch ein mediales Framing beigetragen. Nicht nur Trump wird nicht müde, den Ursprung des Virus in chinesischen Laboren zu lokalisieren, sondern auch in deutschen Massenmedien werden Berichte über das Virus gern mit ‚asiatischen‘ Menschen bebildert, die in Schutzanzügen umherlaufen oder Fledermäuse  verzehren, wie vor einigen Tagen in einer Sendung von Markus Lanz. In anderen Ländern gelten Migrant*innen, Muslime, Schwarze oder Sinti und Roma als Krankheitsherde, deren Gefährdungspotenzial auch durch Abstandhalten nicht zu entkommen sei. Sie müssen aus rassistischer Sicht am besten ganz draußen bleiben oder (wieder) entfernt werden. Von ihren Körpern scheint, so gesehen, eine noch größere Gefahr für die ‚Menschheit‘ auszugehen als von den Bombengürteln jener islamistischen ‚Gefährder‘, auf die sich noch vor wenigen Wochen rassistische Ängste konzentrierten.

Thomas Alkemeyer, Dr. phil. habil., ist Professor für Soziologie und Sportsoziologie am Institut für Sportwissenschaft der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg.
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(Stand: 19.01.2024)  | 
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