von Paul Mecheril
Gastrede im Rahmen des Neujahrsempfangs der Stadt Bremen, 13. Januar 2016
Sehr geehrter Herr Bürgermeister Sieling,
sehr geehrte Persönlichkeiten,
sehr geehrte Gäste,
ich wünsche Ihnen, aber noch viel mehr den Menschen auf dieser Welt, die auf Grund existenzieller Not auf der Flucht sind, dem, wie der bekannte Soziologe Zygmunt Bauman formuliert, Abfall der Weltordnung, ich wünsche uns ein einigermaßen gutes Jahr 2016.
Knapp 60 Millionen Menschen sind gegenwärtig auf der Flucht und alle Prognosen, die ich kenne, verweisen darauf, dass die Zahl zukünftig steigen wird. Von diesen 60 Millionen sind mehr als die Hälfte unter 18 Jahren alt. 86% dieser 60 Millionen fliehen in sogenannte Entwicklungsländer und leben dort unter existenziell bedrohlichen Verhältnissen.
60 Millionen Menschen. Ich wünsche diesen Menschen ein einigermaßen erträgliches Jahr 2016 und denke, dass es in der Verantwortung jener, die, wie wir, Sie und ich, das unverschuldete Privileg haben, ein im globalen Maßstab einigermaßen einkömmliches Leben zu führen, dass es in unserer Verantwortung liegt, bescheidener zu werden. Bescheidener zu werden im Auftreten (und das sage ich nicht nur in Richtung der zünftigen Performance von CSU-Politikern, aber auch in diese Richtung) und bescheidener zu werden im Tun. Das ist mein Wunsch für 2016: Dass diejenigen wie wir, die geopolitisch, im globalen Maßstab unverschuldete privilegiert sind, ernsthaft versuchen, bescheidender zu werden. Slogan: Bescheidenheit statt Wachstum. Ich komme darauf zurück.
Ein einigermaßen erträgliches Jahr 2016. Das wird es für die Mutter und den Vater von Mohamed kaum. Mohamed – wie Sie vermutlich noch wissen und im Zuge der kollektiven Aufgebrachtheit auf Grund der Ereignisse in der Silvesternacht zu Köln noch nicht vergessen haben, ich komme auf diese Nacht noch zurück – ist vier Jahre alt geworden. Er ist mit seiner Familie aus Bosnien geflohen. Er wurde am 1. Oktober vom Gelände des Berliner Landesamtes für Gesundheit und Soziales entführt, mehrfach sexuell missbraucht und erdrosselt. Der Täter ist ein nordländisch aussehender, mutmaßlich dem christlichen Kulturkreis zuzurechnender 32jähriger Brandenburger, der zugegeben hat, auch den sechsjährigen Elias im Juli letzten Jahres ermordet zu haben. Ich komme darauf und auch auf meine Kennzeichnung des Täters als nordländisch aussehend und vermutlich dem christlichen Kulturkreis entstammend zurück. Hier aber schon die Botschaft: Die Kennzeichnung ist nicht nur unangemessen, sondern auch gefährlich.
Ich wünsche also Ihnen, und den Menschen auf dieser Welt, die auf Grund existenzieller Not auf der Flucht sind, dem Abfall der Weltordnung, von der nicht nur eine globale Elite profitiert, sondern relativ klar auch Europa und zwar auf Kosten anderer (Wir sind hier, ist das Motto der Flüchtlingsbewegung The Voice, weil ihr unsere Länder zerstört), ich wünsche uns ein einigermaßen gutes Jahr 2016.
Es ist für mich eine große Ehre, hier im Rahmen Ihres Neujahrsempfangs als Gast aus der zumindest geographischen Nähe die diesjährige Rede halten zu dürfen. Haben Sie herzlichen Dank für die Einladung. Ich freue mich sehr und möchte über das Thema sprechen und tue dies bereits, über das, weil es ein sehr wichtiges Thema ist, zu Recht seit Monaten sehr viel gesprochen wird: Flucht.
Ich will in den vorgesehenen Minuten aber nicht so sehr über die Ursachen von Fluchtbewegungen sprechen, diese finden sich beispielsweise, wie wir wissen, in globaler Ungleichheit und einer Weltordnung, die Not global sehr unterschiedlich verteilt und verortet: ca. 45% der Weltbevölkerung lebt von weniger als 2 US-Dollar am Tag und der Großteil dieser 45% lebt nicht in Bremen, nicht Hamburg, nicht in Paris, der Großteil lebt erstaunlicher Weise in Ländern, die ehemalige Kolonien Europas sind, in Afrika und Asien also. Südlich der Sahara sind aufgrund der nicht unmaßgeblich auf das Handeln westlicher Akteure zurückgehenden Weltordnung nach Angaben der UNO über 200 Millionen von Hungersnot betroffen.
Nun müssen wir aber Richtung Pegida, AfD und den vielen, vielen Stimmen in Deutschland, die sich seit Tagen rassistisch äußern, beschwichtigend sagen: macht Euch keine Sorgen. Diese Menschen werden nicht zu uns und zu Euch kommen, dafür sind sie zu schwach, körperlich wie finanziell. Zu uns kommen glücklicher Weise nur die starken Notleidendenden, so dass wir unter diesen starken noch einmal die besonders Starken, das funkelnde Humankapital, auswählen können. Der Rest wird, um es sarkastisch zu sagen, dämonisiert oder in sozialpädagogischer Obhut verwahrt.
Nun wollte ich aber heute gar nicht so sehr über die Ursachen von Fluchtbewegungen sprechen, diese finden sich, wie wir wissen, in den Verhältnissen globaler Ungleichheit, diese finden sich und das hoffe ich, darf ich hier in Bremen, das als eine Hochburg der Rüstungsindustrie gilt, sagen, diese finden sich in dem immer höheren technologischen und strategischen Entwicklungsstand der Waffen- und Kriegsführung, die für immer mehr Menschen eine immer intensivere existenzielle Bedrohung weltweit darstellt.
Aber diese Ursachen finden sich auch darin, dass die durch die Entwicklung von Transport- und Kommunikationstechnologien bedingte Schrumpfung der Welt, die Welt hat sich gewissermaßen in der Zeit- und Raumdimension gestaucht und ermöglicht damit eine verstärkte Wanderung von Menschen, die in der Jetztzeit auch verstärkt deshalb Grenzen politischer Ordnungen überschreiten, weil sie davon ausgehen, dass Ihnen dies zusteht. Migration kann man allgemein als Versuch verstehen, in einem sehr grundlegenden Sinne Einfluss auf das je eigene Leben zu nehmen. Sei mutig, bediene Dich Deines Verstandes und befreie Dich aus der Position, die Dir die geopolitische Ordnung aufgezwungen hat – das ist in einer Referenz an Immanuel Kant gesprochen das Credo der neuen transnationalen Moderne, die die Migranten formen und formulieren. Sie nehmen ihr Schicksal in die eigenen Hände, und durch diesen Akt der zuweilen verzweifelten Selbstermächtigung stellen sie die Legitimität einer in der Einheit der Nationalstaaten ausbuchstabierten postkolonialen Ordnung in Frage, die sie in erbärmliche, relativ erbärmliche und erbärmlichste Positionen zwingt.
Gut, aber über Fluchtursachen will ich heute ja gar nicht sprechen, sondern über die mediale, politische, alltagsweltliche kommunikative Behandlung der von geflüchteten Menschen angezeigten Verhältnisse. Diese Kommunikation, dieses Sprechen über Geflüchtete und Migranten verschlägt mir in letzter Zeit die Sprache. Mir bleibt bei dem vielen, was passiert, was gesagt wird, einfach die Luft weg. Und ohne Luft zu sprechen, ist gar nicht so ganz einfach. Das nehmen Sie gewiss wahr. Da muss man dann besonders laut und eindringlich sprechen, sonst klappt es nicht. Sehen Sie mir also bitte nach, wenn ich heute etwas pathetischer, also leidender und leidenschaftlich deutlicher bin als es meine Art ist. Ich habe schlicht dieses lufttechnische Problem und begegne ihm, indem ich besonders klar spreche.
Ich darf Ihnen ein Beispiel für meine Atemnot geben.
Das aktuelle Titelbild des Focus: Wir haben es hier, 8. Januar 2016, mit einer weidlich sexualisierten, pornographischen Darstellung einer Frau zu tun. Wir sehen den Körper einer nackten weißen, eher jungen, vielleicht 28jährigen, blondhaarigen – ich würde sagen schönen – Frau, deren Brüste von einem quer über ihren Körper verlaufenden roten Balken verdeckt werden, ihre Scham hingegen verdeckt ihre eigene rechte Hand. Ihr Mund ist leicht geöffnet. Auf ihrem Körper sind, den Körper stempelnd, ihn in Besitz nehmend fünf prankenartige Abdrücke von Männerhänden nicht in blauer, nicht grüner, sondern in schwarzer Farbe, ölig und schmutzig zugleich, zu sehen. Die Titelseite fragt: „Nach den Sex-Attacken von Migranten: Sind wir noch tolerant oder schon blind?“
Da bleibt mir die Luft weg: Rassistische Darstellungen und Rede sind im postnationalsozialistischen Deutschland des 21. Jahrhunderts salonfähig. Denn diese Darstellung des Focus ist rassistisch, weil in reißerischer und aufdringlicher, Affekte heraufbeschwörender Art und Weise Migranten mit Hilfe sexualisierter Darstellungen dämonisiert werden und darin zugleich ein Wir (Sind wir noch tolerant oder schon blind?) errichtet wird, das weiß ist. Das Titelbild spielt das schwarz-weiß Spiel. Die Anderen sind: schwarz, handgreiflich, gesichtslos, schamlos, gefährlich, schmutzig. Wir hingegen sind: weiß, rein, gefährdet, zivilisiert, schamvoll, erhaben. Das Wir, das sich fragt ob es tolerant oder nicht schon blind ist, und an das sich der Focus wendet, besteht aus weißen Frauen, die von schwarzen Migrantenhänden begrapscht werden, und weißen Männer, die „unsere Frauen“ schützen müssen. Der Schutz „unserer Frauen“ vor der Sexualität der anderen Rasse war immer schon Bestandteil rassistischer und zugleich rassistisch-patriarchaler Traditionen, unter anderem ein wichtiges Moment beim Lynchen von Schwarzen in Nordamerika.
Muss ich das Selbstverständliche sagen? Ich denke, es ist sicherer für mich, auch, wenn der Shitstorm wohl kaum abzuwenden ist. Damit kein Missverständnis entsteht oder produziert wird: Die Kritik an sexueller Gewalt gegen Frauen, so wie sie sich in Köln offenbar ereignet hat, die Kritik an sexueller Gewalt gegen Frauen und Kinder und seltener auch gegen Männer, die Kritik und Ablehnung ist unumgänglicher Bestandteil einer wünschenswerten politischen Lebensform. Das Best Case Szenario der Konsequenzen aus Köln wäre, dass wir in Deutschland vermehrt über sexuelle und sexualisierte Gewalt vor allem gegen Frauen und Kinder sprechen und dagegen etwas unternehmen. 58% aller Frauen in Deutschland geben nach einer aktuellen Studie des Bundes-Familienministeriums an, seit ihrem 16. Lebensjahr sexuell belästigt worden zu sein. Der erste und häufigste Ort sexueller Belästigungen und Übergriffe sind dabei die eigenen vier Wände, die Familie und die Männer der Familie. Sexuelle Übergriffe und Gewalt gegen Frauen in Europa, in Deutschland und in Bremen, finden also vor allem zu Hause statt. Werden wir die sexuellen Übergriffe Ereignisse in Köln so ablehnen und besprechen, dass Sexismus als allgemeines Problem deutlich wird? Ich bin skeptisch, weil ich dem Wir nicht traue, das sich gegenwärtig und wieder einmal mit enormer Kraft formiert.
Was haben der weiße, irgendwie christlich aussehende 32-jährige Brandenburger, der das vierjährige Flüchtlingskind Mohamed im Oktober in Berlin entführt, mehrfach sexuell missbraucht und getötet hat, was haben die in Köln Frauen sexuell Attackierenden, und die christlichen Priester und Lehrer der Regensburger Domspatzen – der mit der Untersuchung betraute Anwalt Ulrich Weber schätzt am 8. Januar 2016 die Zahl der von Misshandlungen und sexuell motivierter Gewalt Betroffenen auf 600 bis 700 (stellen Sie sich vor, was los wäre, wenn dies in einer Koranschule passiert wäre) – was haben diese Aggressoren und Täter gemeinsam?
Die Antwort und die Lösung des Rätsels ist: Es sind Männer. Wenn man also nach einem gemeinsamen Merkmal der meisten Akteure sexueller Gewalt Ausschau halten möchte, dann findet man dieses zunächst darin, dass es sich um Männer handelt (Alice Schwarzer zum Beispiel und im Übrigen scheint dies in ihrer antimuslimischen Raserei zuweilen vergessen zu haben). Was bedeutet das? Nun ich halte es nicht gleich für sinnvoll, allen Männern Fußfesseln anzulegen oder alle Männer auszuweisen und abzuschieben, nicht nur aus Eigeninteresse – einige meiner besten Freunde sind Männer –, sondern schlicht, weil wie jeder Generalverdacht auch ein Generalverdacht gegen Männer abwegig ist. Gleichwohl benötigen wir, und das könnte eine sinn- und maßvolle Konsequenz sein, Untersuchungen, die verdeutlichen, in welchen Kontexten (etwa einem spezifischen migrantischen, etwa einem christlich zölibatären oder einem brandenburgischen Milieu, wobei sich migrantisch, christlich-zölibatär und brandenburgisch nicht ausschließen müssen), in welchen Kontexten Männer wann und wie auf die Handlungsoption männlicher Gewalt zurück greifen und wir benötigen eine Pädagogik, die es möglich macht, dass die Identitäts- und Beziehungsform, die die australische Soziologin Raewyn Connell hegemoniale Männlichkeit nennt, Männlichkeit mit Herrschaftsanspruch sozusagen, weniger attraktiv ist – für Männer wie für Frauen.
Gut, warum aber dieser rassistische Affekt in diesen letzten Tagen? Warum empören sich ältere weiße und politisch konservative Männer, die jahrelang dagegen gewettert und agiert haben, dass Vergewaltigungen in der Ehe in Deutschland als Straftatbestand anerkannt werden (das ist, wie Sie wissen, in Deutschland nach langem Kampf ja erst 1997 erreicht worden), warum empören sich diese Männer in dieser Intensität und betreiben, ohne dass übrigens im Hinblick auf die Geschehnisse in Köln juristisch beurteilte Sachverhalte bekannt sind, eine gnadenlose Kollektivverurteilung? Warum triumphiert im Netz, wie Heribert Prantl in der SZ vom 11. Januar schreibt, ein Rassismus, wie ihn die Bunderepublik noch nie gesehen hat?
Mit ganz sicher nur skizzenhaften und nicht erschöpfenden Überlegungen zu dieser Frage und einer Konsequenz aus diesen Überlegungen will ich meine Rede beenden.
Diese Überlegungen kreisen um zwei Themen, die ich Imagination der Anderen und Sicherung von Ressourcen- und Herrschaftsansprüchen nenne. Der Affekt, den wir gegenwärtig erleben, die Intensität, mit der eine ganze Gruppe abgeurteilt wird, kann nur erklärt werden, wenn wir uns klar machen, dass es um den Kampf um Herrschaft und Privilegien geht und dass in diesem Kampf Bilder und Vorstellungen und Imaginationen der Anderen notwendig sind.
Es ist – psychoanalytisch gesprochen – nicht nur so, dass an den, nicht zuletzt über Medienbilder, vielfach imaginierten Anderen („arabisch“, „nordafrikanisch“, „muslimisch“), dass an diesen phantasierten Anderen auch das bekämpft wird, was ich an mir selbst nicht zulassen darf (ich als Mann schimpfe also so maßlos über den Chauvinismus des vermeintlich muslimischen Mannes, weil ich an ihm etwas zu erkennen vermeine, das ich bei mir selbst nicht zulassen kann und darf), vielmehr ist der Affekt gegenwärtig so intensiv, weil es in ihm darum geht, das Eigene, vor allem in der Figur Europa zu überhöhen, gar zu sakralisieren. Wir sind gegenwärtig einmal mehr Zeitzeuginnen der gewaltvollen Selbstsakralisierung Europas (welche nicht zufällig vor dem Hintergrund der medial in den Hintergrund getretenen Euro-Krise stattfindet). Europa befindet sich aus mehreren Gründen in einer grundlegenden Krise und inszeniert sich unter Ausblendung oder sagen wir lieber im Spiegel der 30.000 Toten im Mittelmeer, die dort ihr Leben als direkte Folge Europäischer Grenzpolitik verloren haben, als Ort des auserwählten Guten, der Werte, als Hort der Geschlechteregalität, zynischer Weise der Menschenrechte und im Lichte und Spiegel einer ausgeprägten und zunehmenden sozialen Ungleichheit doppelzüngig als Raum der Gerechtigkeit. Für diese Inszenierung brauchen wir die Anderen, ihre Hässlichkeit, ihre Gefährlichkeit, ihre Unzivilisiertheit.
Der Britische Kulturwissenschaftler Stuart Hall hat einmal in einem Interview gesagt, dass weiße Engländer nicht deshalb rassistisch seien, weil sie die Schwarzen hassen, sondern weil sie ohne die Schwarzen nicht wissen, wer sie sind. An dem phantastischen Bild des muslimischen Anderen, das in Europa und im Westen überhaupt nicht erst seit dem elften September 2001 errichtet wird, bestätigt sich Europa seines Vorzugs.
Auch meine zweite Überlegung, warum in Deutschland und in Europa so intensiv abfällig über Geflüchtete, über nordafrikanische Männer, über die Muslime gesprochen wird, hat etwas mit Imagination und Herrschaft zu tun. In der syrischen Stadt Madaja, die seit Oktober von Regierungstruppen belagert wird und abgeriegelt ist, wurde und wird Hungers gestorben und droht, obwohl glücklicherweise der erste Hilfskonvoi mittlerweile eingetroffen ist, ein tausendfacher Hungertod. Kinder, Frauen, Männer.
Wie gehen wir angesichts dessen, dass die Anwesenheit von geflüchteten Menschen uns täglich nicht nur die geopolitischen Verhältnisse und damit die Not und das Leiden der geopolitisch Anderen vor Augen führt, sondern auch unsere eigene unverschuldete Privilegiertheit verdeutlicht, wie gehen wir mit dieser Situation um? Vielleicht gibt es drei empirisch beobachtbare Reaktionsweisen. Erstens: Privilegien abgeben und teilen, zweitens: Gleichgültigkeit und drittens: eine spezifische Wut. Diese Wut scheint mir gegenwärtig vielen Menschen in Stimme, Mailgebaren und Gesicht eigeschrieben. Es ist die paradoxe Wut auf die leidenden Anderen. Man kann sich dies mit Bezug auf den Typus von Antisemitismus vergegenwärtigen, der für Deutschland insbesondere in der zweiten Hälfte des 20. Jhr. bedeutsam gewesen ist und der „sekundärer Antisemitismus“ genannt wird, also ein Judenhass nicht trotz, sondern wegen Auschwitz. Der israelische Psychoanalytiker Zvi Rex hat dies sarkastisch so auf den Punkt gebracht: „Die Deutschen werden den Juden Auschwitz nicht verzeihen.“ In Anlehnung daran will ich diese Überlegung einbringen: Wir, die wir geopolitisch privilegiert sind, verzeihen den Flüchtlingen, dem Abfall der Weltordnung, eine Ordnung, die nicht unwesentlich von westlichen Akteuren und Instanzen errichtet wurde und von der der Westen unermesslich profitiert, wir verzeihen Geflüchteten nicht, dass sie leiden und uns mit ihrem Leid in den gut eingerichteten Vierteln unseres Wohlstands im wahrsten Sinne zu Leibe rücken. Deshalb müssen sie dämonisiert, herabgewürdigt und letztlich entmenschlicht werden.
Europa ist widersprüchlich, Europa ist ein Ort und Projekt der Barbarei, der Shoa, der ökologisch-ökonomischen Ausbeutung der Welt, des Kolonialismus und Europa ist Ort und Projekt der Aufklärung, der Menschenrechte und des Strebens nach einem guten Leben für alle. Europa ist also widersprüchlich und antagonistisch. Wir sind Zeuginnen dieses Kampfes und auch Akteure in diesem Kampf, der gegenwärtig symbolisch und ganz materiell-physisch auf dem Rücken geflohener Menschen ausgetragen wird. Wie kann ein Einsatz für ein Europa aussehen, das Ort und Projekt eines Strebens nach einem guten Leben für alle ist?
Zwei Punkte, kurz und stichwortartig:
- Wir haben über Gewaltverhältnisse zu sprechen. Wenn wir Gewalt als Versuch der Herstellung und Wiederherstellung, der Bewahrung und Errichtung einer sozialen Ordnung verstehen, haben wir es in Zeiten der Brüchigkeit und des Kampfes um die Ordnungen umso mehr mit Gewalt zu tun. Unter Bedingungen der Zunahme von Gewalt macht es Sinn, vermehrt über Gewalt zu sprechen. Über männliche Gewalt, über Gewalt im Namen einer Religion, über rassistische Gewalt. Aber wir müssen über Gewalt sprechen, ohne dass dieses Sprechen und Handeln selbst zu einer selbstherrlich unangemessenen Gewalt wird. Wer wie die NPD, AfD, manche Politiker und Politikerinnen der als respektabler geltenden Parteien, nicht nur der CSU, religiöse, ethnische, migrantische Gruppen unter Generalverdacht stellt, handelt nicht gegen Gewalt, sondern ist Teil und Motor der Gewalt-Verhältnisse, die es zu verändern gilt.
- Wie ist es möglich, dass Menschen gut leben und zwar nicht auf Kosten anderer, insbesondere nicht auf Kosten jener, die entfernte Nahe sind. Meines Erachtens ist das die ethische Frage des 21. Jahrhunderts. Wie können wir hier in Bremen gut leben, ohne dass dafür Kinder und Frauen in Bangladesch unter erbärmlichsten Bedingungen arbeiten müssen. Die Bearbeitung dieser Frage ist in erster Linie eine politische Aufgabe. Aber sie ist auch eine pädagogische Aufgabe, meines Erachtens, ich spreche als Erziehungswissenschaftler und pathetisch, die pädagogische Aufgabe des 21. Jahrhunderts. Damit lautet die erste Maxime der Pädagogik des 21. Jahrhunderts also nicht: Wie können wir Humankapital ausbilden? Wie können wir zu Subjekten beitragen, die der mehr und mehr total werdenden ökonomistischen Logik dienlich sind? Die erste Maxime der Pädagogik des 21. Jahrhunderts ist auch nicht: Welchen Beitrag können wir zur Bewahrung eines partikularen Wir, etwa der Nation oder des Volkes leisten?
Die erste Leitlinie lautet viel eher: Wie können wir dazu beitragen, dass etwas, was ich Solidarität in der Weltgesellschaft nennen möchte, dass eine Solidarität, die sich auf Andere bezieht, mit denen ich zwar in einem praktischen Zusammenhang (die Näherin in Bangladesch) stehe, die aber entfernt sind, wie können wir dazu beitragen, dass dieses nicht mehr im Modell der Gemeinschaft (Nation) ausbuchstabierte Modell von Solidarität, diese Solidarität unter Unverschwisterten für Menschen sinnvoller wird und möglich ist. Solidarität heißt: Den und die Andere als Subjekt anerkennen und ermöglichen. Das ist mehr und anderes als jene Barmherzigkeit, die den Sommer über in Deutschland als eine Art nationaler Selbstgenuss gefeiert wurde, Solidarität ist mehr und anderes, da es den Anderen auch als politisches Subjekt anerkennt, das für sich sprechen kann und darf.
Und diese Anerkennung ist wohl die größte Schwierigkeit, die wir weltgesellschaftlich und das heißt auch ganz konkret hier in Bremen erleben, weil sie damit einhergeht, von sich selbst Abstand zu nehmen und nehmen zu können in einem sehr grundlegenden Sinne. Wer die Andere hört, muss zunächst einmal still sein. Bescheidenheit statt Wachstum, nicht dermaßen auf die eigene Identität angewiesen sein, nicht in dieser Art und nicht in dieser Intensität den je eigenen identitären und materiellen Interessen verpflichtet sein. Es scheint mir lohnenswert, diese Bildungsperspektive für diejenigen, die geopolitisch privilegiert sind, ernst zu nehmen.
Deshalb wünsche ich Ihnen und mir selbst – ich beziehe mich ausdrücklich in dieses Bildungsprojekt mit ein –, am Ende meiner Rede wünsche ich Ihnen und mir für 2016 und darüber hinaus die Kraft, Gelegenheiten und den Mut, die eigenen identitären und materiellen Interessen ein wenig weniger ernst zu nehmen.
Danke.
Eine Ausarbeitung der Rede findet sich hier:
Paul Mecheril/Monica van der Hagen-Wulff: “Bedroht, angstvoll, wütend. Affektlogik der Migrationsgesellschaft”. Erscheint in: Die Dämonisierung der Anderen. Rassismuskritik der Gegenwart (hg. von María do Mar Castro Varela & Paul Mecheril; 2016), Bielefeld: transcript.
Paul Mecheril, Dr. phil. habil., ist Professor für Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Migration an der Fakultät für Erziehungswissenschaft der Universität Bielefeld.
Kontakt: paul.mecheril@uni-bielefeld.de