Über diesen Blog.

Hier schreiben Wissenschaftler*innen der Universität Oldenburg und Gastautor*innen darüber, wie sich Gesellschaften selbst wahrnehmen und thematisieren, sich ihrer jeweiligen Gegenwart vergewissern und dabei in die Zukunft entwerfen.

Wie stehen diese Selbstwahrnehmungen und -entwürfe mit Institutionen, Medien und Techniken zur Gestaltung von Natur, Gesellschaft und Subjektivität in Verbindung? Wie modellieren sie den lebensweltlichen Alltag und halten Menschen zu einem bestimmten Verhalten an? Wie werden diese Interventionen in das Gegebene begründet und legitimiert, aber auch kritisiert, verworfen oder unterlaufen?

Diesen Fragen, deren interdisziplinäre Reflexion eines der zentralen Anliegen des Wissenschaftlichen Zentrums „Genealogie der Gegenwart“ ist, gehen die Blogger aus unterschiedlichen Fachperspektiven und Tätigkeitszusammenhängen mit Blick auf kontrovers verhandelte Themen wie Migration, Ungleichheit, Digitalisierung, Kriminalität, Gesundheit und Ökologie nach.

Bei Fragen oder Anmerkungen schreiben Sie gerne an wizzeg@uni-oldenburg.de.  

Genealogie epischer Helden

von Eugen Zentner

von Eugen Zentner

Pünktlich zur diesjährigen Berlinale ist wieder eine Serie erschienen, die es in sich hat. Better Call Saul, ein Spin-off der Erfolgsserie Breaking Bad, erzählt die Geschichte des Anwalts Saul Goodman, der sich von einem lausigen Strafverteidiger zum kriminellen Rechtsverdreher mausert. Amerikanische Qualitätsserien sind schon seit geraumer Zeit in aller Munde und üben stärker denn je Attraktivität aus, der sich immer weniger Fernsehzuschauer entziehen können. Aber nicht nur diese begeistern sich für die tolle Unterhaltung aus den amerikanischen Produktionsstudios, auch das Feuilleton, ja sogar die Wissenschaft widmen sich diesem Thema mit einer gewissen Emphase. Und es vergeht kaum eine Woche, ohne dass eine neue Serie die Massen an den Bildschirm lockt. Nun also auch Better Call Saul. Warum dieser Hype?

Al Capone (Polizeifoto von 1931)

Der Grund dafür, so lautet der allgemeine Tenor, ist ihr literarischer Schreibstil. Man könnte auch sagen, Qualitätsserien repräsentieren die neue Literatur, deren Spezifikum in der Doppelkodierung und in der Fähigkeit liegt, durch komplexe Figuren- und Handlungsgestaltung den Intellekt zu beanspruchen, ohne dass die Unterhaltung dabei zu kurz kommt. Qualitätsserien erfüllen also das, was Leslie Fiedler schon vor fast fünfzig Jahren gefordert hat: cross the border, close the gap! Und welcher Gegenwartsroman kann das schon von sich behaupten?

Dass die meisten US-Serien den Spagat zwischen hoher und niederer Kultur schaffen, liegt möglicherweise an den Produktionsbedingungen, zu denen es gehört, dass mehrere Drehbuchautoren im sogenannten Writers’ Room eine Geschichte gemeinsam entwickeln. Dabei dient ein Showrunner als Dirigent, der Ideen koordiniert und der Serie eine besondere Note gibt. Als spezifisches Merkmal gilt vor allem das horizontale Erzählen, wie man in der Filmbranche die episoden- und staffelübergreifende Entwicklung sowohl der Handlung als auch der Figuren bezeichnet. Bereits hier werden Parallelen zur Literatur sichtbar. Doch Qualitätsserien leisten mehr als das, sie spielen mit verschiedenen Erzählperspektiven, experimentieren mit der Erzählstruktur und zeichnen sich aus durch ein teilweise riesiges Figurenensemble. Sie sprengen Genrekonventionen, nehmen Bezug auf die Populärkultur und greifen gesellschaftliche Themen auf.

Zu den beliebtesten unter ihnen scheint die organisierte Kriminalität zu gehören. Allein The Sopranos, The Wire und Breaking Bad, drei Serien, die bislang das größte Aufsehen erregt haben und mittlerweile Kultstatus genießen, drehen sich um dieses Thema. Warum auch nicht, schließlich ist die organisierte Kriminalität, wie Manuell Castells anmerkte, ein fester Bestandteil der Network Society, der sich nicht ausmerzen lässt. Da hilft auch kein Weggucken seitens der Wissenschaft, die sich konsequent weigert, dieses Thema ernst zu nehmen. Hollywood leistet in dieser Hinsicht schon mehr und erinnert an reale Gangster-Größen, die sie zu neuen Helden stilisiert. An solchen mangelt es in der Geschichte wahrlich nicht, weil das Amerika der 20er Jahre derart profilierte Mafiosi hervorgebracht hat, dass Achilles, Odysseus und andere Protagonisten der griechischen Mythologie im Vergleich zu ihnen blass aussehen. Bevölkerten diese früher Dramen und Romane namhafter Schriftsteller, die sich auf die Antike bezogen, um Allgemeingültiges der menschlichen Existenz darzustellen, so laufen ihnen Mobster, wie Mafiosi in Amerika heißen, heute den Rang ab, indem sie in Filmen und Qualitätsserien allenthalben auftauchen.

Diese zwielichtigen Gestalten sind somit die Heroen von heute, die es mit Homers Olympischen Göttern durchaus aufnehmen können. Ihre Wiege ist die Prohibitionszeit in den Vereinigten Staaten am Anfang des 20. Jahrhunderts, gleichsam die Ilias der organisierten Kriminalität, die Martin Scorsese in der Serie The Boardwalk Empire auf seine Art und Weise erzählt. Der Regisseur versammelt hier die Größten der Unterwelt und macht daraus ein gigantisches Epos. Zu nennen wäre vor allem Arnold „The Brain“ Rothstein, ein notorischer Gambler und Mastermind in allen Belangen des organisierten Verbrechens. Von ihm lernten die besten Nachwuchsgangster, zu denen nicht zuletzt Charles „Lucky“ Luciano, Meyer Lansky,  „Bugsy” Siegel oder Frank Costello gehörten. Folglich durften auch sie in Scorseses Gangster-Saga nicht fehlen, genauso wenig wie Al Capone alias  „Scarface”, dem in der Filmindustrie so manch ein Monument errichtet worden ist. Während Capone seinerzeit in Chicago den illegalen Alkoholhandel kultivierte und den Begriff Geldwäsche prägte, indem er als erster Einnahmen aus dubiosen Geschäften in Waschsalons investierte, legte  „Lucky” Luciano in New York die Weichen für eine mafiose Struktur nach dem Vorbild der Cosa Nostra. Organisiert in fünf New Yorker Familien, hat dieses System noch heute Bestand und gilt seit jeher als Fundgrube für ambitionierte Regisseure. Lucianos Jugendfreund Lansky war in jener Zeit ebenfalls sehr aktiv und galt als ungeheuer intelligent wie ehrenwert, jedenfalls was Geschäfte unter Mobstern betrifft. Aufgrund dieses Charakterzugs erhielt er schließlich den Spitznamen „The Honest“. Lansky ist der Odysseus unter den Gangstern, während sein Freund  „Bugsy” Siegel für sein aufbrausendes Temperament und Muskelkraft bekannt war, weshalb man ihn zurecht als den Achilles des Hollywoods bezeichnen kann. Weil diese beiden jüdische Wurzeln hatten, war ihnen der Eintritt in die italienische Mafia zwar verwehrt, doch das störte sie nicht, an den Geschäften mitzuverdienen und ein eigenes Syndikat unter dem Label Kosher Nostra zu gründen.

Sie alle wuchsen in armen Verhältnissen auf, brachten es aber dennoch zu Ruhm, Macht und Geld. Damit qualifizierten sie sich zugleich für die Rolle des Film- und Serienhelden, der das Narrativ vom Amerikanischen Traum bis heute am Leben hält. Der Tellerwäscher, dem durch harte Arbeit der soziale Aufstieg gelingt, ist in Hollywood ein Chamäleon. Am Ende wird er eben doch zum Millionär, aus welchem Milieu er auch kommen mag. In letzter Zeit ist jedoch zu beobachten, dass diese Helden eine enorme kriminelle Energie aufbringen und diese für ihren Aufstieg fruchtbar machen. Wie das funktioniert, davon hat uns der Winkeladvokat Saul Goodman bereits in Breaking Bad eine Kostprobe gegeben, wo er stets mit neuen Ideen überrascht und seinem Mandanten Walter White eine illegale Hintertür nach der anderen öffnet. In seiner eigenen Serie Better Call Saul wird er nun einen weiteren Blick in seine Kunst gewähren. Saul Goodman ist aber nichts anderes als ein Abkömmling jener Mobster, deren kriminelle Energie gewaltige Ausmaße annimmt und sich nicht nur in Scorseses Boardwalk Empire bestaunen lässt. Immer und immer wieder tauchen sie als Figuren in Filmen und Serien auf, die sich dem Thema des organisierten Verbrechens widmen. Gangster Wars, Mob City und The Gangster Chronicles sind nur einige Beispiel, die sich um Filme wie The Lost City, Mobsters oder The Untouchables ergänzen lassen. Hinzukommen unzählige Gangsterdramen, in denen die Charaktere an reale Mafiosi angelehnt sind. Dies gilt für Casino, Donnie Brasco und Once Upon a Time in America genauso wie für die Sopranos, HBOs Überserie. Auch sie handelt von einer italo-amerikanischen Mafiafamilie in New Jersey, die es tatsächlich gibt, wenn auch unter einem anderen Namen. Und als wäre dies nicht genug, drehte man sämtliche Filmbiographien, in denen das Leben jener Gangster-Größen in fiktionalisierter Form erzählt wird.

Dies gilt sogar für die Mobster jüngeren Datums, die sich genauso gut als Pop-Ikonen eignen. Auch sie beherrschten die Kunst der Selbstvermarktung und wussten, wie man mit Coolness die Sympathien gewinnt. Unvergessen bleiben zum Beispiel die Auftritte von John Gotti, dem Boss der Gambino-Familie, die in den 80ern nahezu ganz New York kontrollierte. Gotti liebte die Aufmerksamkeit und nutzte jede Gelegenheit, sich als mächtiger Pate in Szene zu setzen. Stets warf er sich in Schale, trug exklusive Maßanzüge und ließ den Privatfriseur jeden Morgen sein Haar stutzen. Wie ein Besessener suchte er die Kamera, in die er verschmitzt lächelte, um nicht ohne Koketterie seine Macht zu demonstrieren. Dass diese groß war, beweisen die unzähligen Versuche der Staatsanwaltschaft, ihn hinter Gitter zu bringen. Aber eine Anklage nach der anderen perlte an Gotti ab, was ihm den Spitznamen Teflon-Don einbrachte. Und so stieg der charismatische wie monomanische Mafioso zur Pop-Ikone auf, den die Öffentlichkeit feierte. Er hatte mehr Fans als viele Hollywoodstars und erfreute sich an der Show, zu der es gelegentlich nach Urteilsverkündungen kam, wenn die Menge vor dem Gerichtsgebäude die Melodie aus Francis Cappolas Godfather spielte und seinen Namen rief. Das ist ganz großes Kino, das ist der Stoff, nach dem Regisseure suchen. Typen wie Gotti sind für die heutigen Qualitätsserien eine Idealbesetzung, weil sie sich als postmoderne Helden bestens dafür eignen, den Graben zwischen High und Low Culture zu schließen. Sie sind psychologisch komplexe Charaktere, die sich genauso wie Medea oder Agamemnon für eine anspruchsvolle Rezeption eignen, erweisen sich aber darüber hinaus als coole Aufmerksamkeitsökonomen, deren deftige Sprüche zwar niedere Instinkte wecken, dafür aber gute Unterhaltung garantieren. Aus dieser Ambivalenz bezieht der Mobster seinen Reiz, dem sich auch das Bildungsbürgertum schwerlich entziehen kann. Das wusste auch der US-amerikanische Fernsehprogrammanbieter HBO, der Gottis Geschichte 1996 verfilmen ließ, nachdem der Pate von Manhatten dann doch noch zu lebenslanger Haft verurteilt worden war. Wenige Jahre später war dieses Schema noch immer erfolgsversprechend, weshalb man wieder einen Mafia-Film drehte, nur dass diesmal Paul Castellano, Gottis Vorgänger, als Boss der Bosse in die Rolle des Helden schlüpfte. Die Biographie solcher hochkarätiger Mobster bietet eben alles, was für das gegenwärtige postmoderne Kino vonnöten ist: eine Dramenstruktur mit Exposition, Peripetie und Katastrophe. Damit sind sie Odysseus und Co. ebenbürtig, lassen sich aber darüber hinaus auch noch für das Vom-Tellerwäscher-zum-Millionär-Narrativ verwerten, zumal die Mobster über eine Eigenschaft verfügen, die in das heutige neoliberale Klima gut passt: kriminelle Energie eben. Schließlich ist sie nötig, um dem Wettbewerb Stand zu halten. Also wappne sich, wer kann, und lerne von Al Capone und anderen, die sich auch selbst ermächtigten. Wie das Empowerment funktioniert, zeigen sie besser als jene griechischen Halbgötter, weshalb mittlerweile auch Helden abseits der Ehrenwerten Gesellschaft nach ihrem Ebenbilde geschaffen werden. Saul Goodman ist nun wieder so einer.

Die Entwicklung und Pflege krimineller Energie ist nicht nur eine, sondern die Kardinaltugend der Gegenwart. Nur darf man es eben nicht aussprechen. Und keiner weiß das besser als der homo academicus. Doch anders als Luciano, Lansky oder Al Capone hat es dieser bislang nicht geschafft, in den Qualitätsserien als Held aufzutreten. Warum eigentlich nicht? Das Zeug dazu hätte so manch einer allemal, Pierre Bourdieu zum Beispiel, der wildeste unter den akademischen Stieren. Auch er hat es schließlich vom bildungsarmen Knaben zu einem an Erkenntnissen reichen Intellektuellen geschafft. Noch heute nehmen sich ihn Kohorten von Studenten zum Vorbild und träumen von dem ganz großen Kulturkapital. Als Sohn eines Postbeamten auf die Welt gekommen, beschritt er einen formidablen Bildungsweg, kämpfte sich durch die École Normale Supéreiure, forschte an der École des Hautes Ètudes en Sciences Sociales und lehrte dann auch noch am Collège de France. Standhaft wie skrupellos kletterte er auf der sozialen Leiter immer weiter nach oben, bis er schließlich zum praxistheoretischen capo dei capi gekrönt wurde. Für Breaking Scientist im Pay-TV hat es dennoch nicht gereicht. Denn im Gegensatz zu Bourdieu steigen Mobster wie Gotti nicht nur auf, sondern nutzen konsequent ihre Fallhöhe, indem sie am Zenit ihrer Karriere mit Karacho in die Tiefe stürzen und kathartisch ermahnen, es mit der Selbstermächtigung nicht zu übertreiben. Das sind letztlich die feinen Unterschiede! Und deswegen ist Bourdieus Geschichte für eine TV-Serie so ungeeignet wie Al Capone für eine ethnografische Studie in der Kabylei. Außerdem betören Mafiosi mit lässigen Dialogen, die sich eben ganz anders goutieren lassen als Bourdieus Kauderwelsch. Hier eine Kostprobe: „Die für einen spezifischen Typus von Umgebung konstitutiven Strukturen (etwa die eine Klasse charakterisierenden Existenzbedingungen), die empirisch unter der Form von mit einer sozial strukturierten Umgebung verbundenen Regelmäßigkeiten gefasst werden können, erzeugen Habitusformen, d. h. Systeme dauerhafter Dispositionen, strukturierte Strukturen, die geeignet sind, als strukturierende Strukturen zu wirken.“

Nein, Bourdieu bleibt ein praxistheoretischer Kleinkrimineller und ist eines Al Capone unwürdig, der stets eloquent auftrat, mit der Kamera flirtete und Journalisten genauso für sich zu begeistern wusste wie die Massen hinter den Bildschirmen. Sein Charisma war sprichwörtlich, sein Charme legendär, auch wenn er hinter den Kulissen nicht selten seine dicke Zigarre gegen einen noch umfangreicheren Baseballschläger tauschte und gelegentlich dem einen oder anderen Adepten mit Hingabe eine Lehrstunde in Sachen Treue und Loyalität gab. Wahrlich ein humanistischer Professor der martialen Künste! Ein echter Master of Martial Arts in bester Hochschultradition, wo seit jeher Köpfe rollen. Insofern dürfte sich doch auch in diesem Feld ein solcher Heroe, ja ein intellektueller Al Capone der akademischen Unterwelt ausfindig machen, der als Serienstar herhalten könnte. Potential haben zumindest nicht wenige, allen voran die Good Fellas im Umkreis der Frankfurter Schule. Diese Murder Inc. der deutschen Nachkriegsphilosophie vergrößerte damals im beeindruckenden Tempo ihren Einfluss und kontrollierte das größte Territorium der akademischen Geisteslandschaft. Ihr Pate Max „The Butscher“ Horkheimer war alles andere als zimperlich und machte, wie wir uns erinnern, so manch einen Nachwuchswissenschaftler mundtot. Und es war kein anderer als Habermas, der diesen Terror am eigenen Leibe zu spüren bekam. Dass ihm aber unter Berufung auf seine kommunikative Rationalität die Rettung gelang, weil er seine Kontakte zu Gadamer mobilisierte und in dem Marburger Clan Unterschlupf fand, lässt durchblicken, über welche Qualitäten der gewiefte Habermas verfügen musste, um nach Horkheimers Ableben zum Don von Francoforte aufsteigen zu können.

Serientauglich wäre sicherlich auch Adorno, Habermas’ Mentor und Horkheimers Adlatus, der seinerzeit als Underboss der Frankfurter Gang die Bundesrepublik mit Sätzen wie diesem einschüchterte: „Versuche der Formulierung, die, um die gemeinte Sache genau zu treffen, gegen das übliche Sprachgeplätscher schwimmen und gar sich bemühen, verzweigtere gedankliche Zusammenhänge getreu im Gefüge der Syntax aufzufangen, erregen durch die Anstrengung, die sie zumuten, Wut. Der sprachlich Naive schreibt das Befremdende daran den Fremdwörtern zu, die er überall dort verantwortlich macht, wo er etwas nicht versteht.“ Oh ja, seine Waffe war das Wort. Wenn dies für jemanden gilt, dann für Theo den „Kugelblitz“ Adorno, dem Grausamsten der Grausamen, der in den 60er Jahren gegen das Bestehende aufwiegelte und so zum gefürchteten Public Enemy avancierte. Sein Mitstreiter Marcuse, auch bekannt unter dem Spitznamen „homo multidimensionalis“, mischte derweil die amerikanische Studentenschaft auf und leitete die Geschäfte des Frankfurter Clans jenseits des Atlantiks. Ach, tempi passati! Ein Platz in der Hall of Fame der akademischen Unterwelt ist diesen Gangster-Größen sicher, aber reicht das aus, um ihre Geschichte zu einem Film, ja zu einer Qualitätsserie zu verarbeiten? Wohl kaum! Denn wer – wie  „Kugelblitz” Adorno – sich, wenn es darauf ankommt, so schnell aus der Ruhe bringen lässt und den Anblick einer barbusigen Studentin nicht verkraftet, ist als Pop-Ikone einfach unbrauchbar.

Und darum schauen wir Woche für Woche Serien, wo nicht Horkheimer und Adorno die Zuschauer in Atem halten, sondern eben Al Capone,  „Lucky” Luciano, Meyer Lansky und  „Bugsy” Siegel. Sie und andere Mobster halten sich immer noch als charismatische Helden, die mit Stil und Witz Selbstermächtigung wie Imagebildung lehren. Wie man dies dann in den unterschiedlichsten sozialen Feldern umsetzt, das veranschaulicht mittlerweile eine neue Generation von Protagonisten, die in den Qualitätsserien das Erbe der Mafiosi beispielhaft anzutreten beginnt. In Breaking Bad hat sich Walter White bereits von einem biederen Chemie-Lehrer zum unerbittlichen Drogenbaron entwickelt. Nun wird Better Call Saul eine ähnliche Geschichte erzählen, mit dem Unterschied, dass wir diesmal die kriminelle Entwicklung eines Anwalts miterleben dürfen. Solange also diese Kriminalisierung des Sozialen und Gangsterisierung der Helden im Pay-TV weiter voranschreiten, besteht noch Hoffnung, dass schon bald auch ein akademischer Mobster die Serienformate erobert. Denn von schlechten Eltern ist die kriminelle Energie des Wissenschaftlers nun wirklich nicht.

(Bild: Wikipedia, FBI-Foto)

Eugen Zentner, Dr. phil., ist Kollegiat am DFG-Graduiertenkolleg „Selbst-Bildungen“ der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg.
Kontakt: eugen.zentner@uni-oldenburg.de 

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