Der Fall Mary Ellen - die Legende über den Beginn des Kinderschutzes

von Anja Eckhard

Steht der Fall Mary Ellen am Anfang der weltweiten Kinderschutzbewegung? In der Literatur heißt es, daß die Aufdeckung einer Mißhandlung in New York im Jahr 1874 die Gründung der ersten Organisation für den Schutz von Kindern nach sich zog. Die Rekonstrukion des Falles zeigt jedoch, daß nach dem Ereignis in der Stadt eher die moralische Kontrolle der Unter- durch die Oberschicht erweitert, als das Wohlergehen von Kindern verbessert wurde.

In New York lag eine arme Frau im Sterben und bat ihre Besucherin um einen letzten Herzenswunsch: Sie möge das Nachbarskind vor dessen brutalen Eltern retten. Kurz darauf erblickte die Wohltäterin das Opfer und war entsetzt über das halbnackte, unterernährte Mädchen, dessen Haut übersät war mit Peitschenstriemen. Ihre Suche nach Rettung blieb lange erfolglos: Behörden, Polizei und Gerichte verweigerten ihre Zuständigkeit, trotz der anwachsenden Gewalt gegen Mary Ellen, so der Name des Opfers. Zuletzt erklärte sich allein der Präsident der Tierschutzgesellschaft zur Hilfe bereit. Überzeugt, daß ein Kind das gleiche Recht auf körperliche Unversehrtheit wie ein Tier habe, brachte er den Fall spontan vor Gericht. In Ermangelung einer rechtlichen Handhabe wurde Mary Ellen mit Tierschutzgesetzen aus der Familie geholt. Die grausamen Eltern erhielten im Prozeß die Höchststrafe. Das Kind kam in ein gutes Heim. Um endlich Kindern die bisher von der Gesellschaft verwehrten Rechte sichern zu können, wurde noch im Gerichtssaal eine Organisation ins Leben gerufen. Diese schützte fortan Kinder und diente als weltweites, hundertfaches Modell. Der Fall Mary Ellen beendete somit nicht nur das Leiden eines Kindes, sondern wurde zum positiven Wendepunkt im Leben unzähliger Kinder. Und wenn sie nicht gestorben sind ...

Die Aufdeckung

Die Schilderung des Falles Mary Ellen kennzeichnet sich durch zahlreiche dramatische Elemente. In der aufgezeichneten Form ist sie eine Legende. Die Ahnung um die Existenz einer Legende hinderte bisher nicht an deren Verbreitung: Der Fall sei eine äußerst brutale Mißhandlung gewesen, die erstmals die Rechtlosig- und Schutzbedürftigkeit von Kindern in Familien aufzeigte und deshalb zur Gründung der ersten Kinder- schutzorganisation geführt hätte. Die historische Funktion der Legende muß jedoch in Frage gestellt werden, wenn hinter dem Fall weder die vorrangige Absicht stand, Mary Ellen zu retten, noch allein wohltätige Bestrebungen lagen, zukünftig Kinder vor körperlicher Gewalt zu schützen. Statt dessen barg der Fall ein Netz von Manipulationen, Kalkül und Machtstreben. Die Literatur und die zeitgenössischen Texte weisen zahlreiche Widersprüche auf. Der Schlüssel zum Verständnis des Falles liegt im historischen Kontext der viktorianischen Gesellschaft nach dem amerikanischen Bürgerkrieg. Ausgewertet habe ich die damalige Presseberichterstattung, die Gerichtsakte und die Schilderungen Beteiligter - mit überraschendem Ergebnis: die Informationen über den Fall verloren nicht erst im Laufe der Jahrzehnte ihren Wahrheitsgehalt und formten sich langsam zur Legende. Sie wurden vielmehr schon im Jahr 1874 absichtlich verfälscht.

 Im Fall Mary Ellen war es keineswegs so, daß das Flehen einer Sterbenden das Kind rettete. Die bis dahin Ahnungslose ließ ihr Bett nur widerwillig an die Wand zur Nebenwohnung rücken, um als Informantin zu dienen. Ihre fordernde Besucherin hieß Etta Angell Wheeler und gehörte zu den reichen Protestantinnen, die die Slumbevölkerung durch Gebete von ihrem katholischen Aberglauben abbringen wollten. Zahlreich missionierten sie gegen die Sünde selbstverschuldeter Armut. Eine Frau aus dem Nebenhaus hatte Wheeler über den Fall bereits früher informiert. Da Wheeler mit einem Journalisten verheiratet war, hatte sie Umgang mit den Medien. Die Presse formte den Fall zur Sensation und beachtete erstmals ausführlich das Leiden eines Kindes. Wheeler bat den populären Tierschützer Henry Bergh um Hilfe, ein Mann, der bereits seit Jahren Zeitungen für seine Zwecke zu nutzen verstand. Bergh wurde in dem Prozeß neben dem Opfer zur prägenden Figur für die Öffentlichkeit.

 Die Rettungsaktion für Mary Ellen wurde keineswegs spontan durchgeführt. Bergh beauftragte seinen gewieften Anwalt Elbridge T. Gerry mit der Ausführung. Beide Männer gaben vor Gericht wahrheitswidrig an, daß sie an einem Tag eine Planung ausfeilten, einen unterstützungswilligen Richter und ein Gesetz fanden, das ihr gewaltsames Vorgehen rechtlich absicherte, weiterhin zwölf ZeugInnen aufspürten und befragten, das Opfer holten und seine Unterbringung organisierten, Beweismaterial suchten und zudem eine Petition an das Gericht formulierten sowie die Presse benachrichtigten. Obwohl die beiden ihre einflußreiche Tierschutz-Organisation offen nutzten, wollten sie dieses Handeln nicht nur als plötzlich und emotional gesteuert verstanden wissen, sondern auch getrennt vom Tierschutz. Doch seit der Gründung ihrer 'Gesellschaft zur Verhinderung von Gewalt gegen Tiere' wurde lautstark gefordert, das Aufgabenfeld auf den Schutz von Kindern auszudehnen. Bereits Jahre zuvor hatten sich Bergh und Gerry erfolgreich und publikumswirksam um ein mißhandeltes Kind gekümmert. Danach besaßen sie genügend Zeit für die Suche nach einem geeigneten Gesetz zur Herausnahme von Kindern aus Familien. Der Fall Mary Ellen verhalf Gerry 1874 zu einem glanzvollen Auftritt: er nutzte einen alten Paragraphen des 'habeas corpus'-Rechtes. Dabei handelte es sich keineswegs um ein Tierschutz-Gesetz, wie es in der Legende heißt, die Verordnung regelte den Aufenthalt abhängiger Personen.

Die Inszenierung

Während des Prozesses feierte die Presse beide Männer und ihre Rettung des Kindes. Mary Ellen stellte das ideale Opfer dar, mit dem sich die Öffentlichkeit identifizieren konnte: als junges, weißes, intelligentes Mädchen war sie nach bürgerlichen Wertvorstellungen sexuell unschuldig und beschützenswert. Für die Inszenierung waren Bergh und Gerry die Schlüsselfiguren. Bergh setzte im Prozeß seine Popularität als Publikumsmagnet ein und seine Kontakte zu den Zeitungsmachern sicherten dem Fall Beachtung. Gerry war als Ankläger der Taktiker und erlangte letztlich eine Bergh gleichwertige Machtposition: Er wurde Präsident der 'Gesellschaft zur Verhinderung von Grausamkeiten gegen Kinder' (SPCC).

Schon vor Beginn des Prozesses um Mary Ellen rechtfertigte Gerry die gewaltsame Rettung des Kindes aus dessen Zuhause. Im Gericht dramatisierte er die Gewalt durch die Eltern und warf den Connollys Kindesraub vor - damals ein aktuelles Thema. Es war kein fairer Prozeß und die übertrieben erhobenen Beschuldigungen lassen sich daran ermessen, daß alle schweren Vorwürfe fallengelassen wurden. Zur Verurteilung gelangte ein einziger tätlicher Angriff gegen Mary Ellen. Für das Kind waren die Connollys keine leibliche Familie, sondern Pflegeeltern. Anfangs äußerte die Presse Kritik an der Behörde, die für die Abgabe des Kindes zuständig gewesen war. Gerry lenkte die Kritik allein auf die Pflegemutter und streute zudem das Gerücht, Mary Ellen sei ein ausgesetzter Säugling prominenter Eltern. Damit zielte der Anwalt auf das Mitgefühl der bürgerlichen Öffentlichkeit, die in dem Opfer eine der ihren sehen sollte. Da die Connollys arm waren, wäre ein Polizeigericht zuständig gewesen. Durch seinen Einfluß erreichte Gerry, daß der Fall vor dem Supreme Court verhandelt wurde - dort war ihm bürgerliches Publikum sicher. Obwohl die Zeit ausreichte, wurde Mary Ellen für ihren ersten Auftritt vor Gericht weder gewaschen noch neu eingekleidet. Die Dramatik war beabsichtigt. Optik spielte im Laufe des Prozesses eine wichtige Rolle: das Opfer wurde vom 'Aschenputtel' in eine 'Prinzessin' verwandelt. Auch diese Inszenierung war erfolgreich, die Zeitungen beachteten jedes Detail von Mary Ellens Erscheinungsbild. Nicht nur wurden die Mißhandlungen übertrieben dargestellt, die Anklage spielte den Medien auch die angebliche Zeugenaussage des Opfers zu. Offenbar durchschauten einige das Spiel Gerrys: eine Zeitung merkte an, daß der Anwalt bei den rührseligen Worten nachgeholfen hätte.

 Obwohl beide Connollys beschuldigt und als Gefahr für Leib und Leben des Kindes bezeichnet wurden, stand allein die Pflegemutter unter Anklage. Gerry konnte sie als Sündenbock nutzen, denn die Frau trug zahlreiche Stigmata: Sie war arm, katholisch, aus Europa immigriert und sexuell aktiv, somit 'tugendlos'. Ganz offen erklärte Gerry, an ihr ein Exempel statuieren zu wollen, als Warnung für gewalttätige Eltern. Die Schuld des Pflegevaters wurde ignoriert - vielleicht um sexuelle Gewalt gegen die Tochter zu verschleiern, doch diese Antwort bleibt spekulativ. Grundsätzlich durchzieht der Aspekt 'Sexualität' diese Inszenierung wie ein roter Faden, auch dadurch, daß die Anklage sich allein gegen die Frau richtete. Zwar bot diese dem Ankläger Gerry die Stirn, trotzdem wurde mit ihr der schwächere Teil des Ehepaares vor Gericht gebracht. Unter Anklage berichtete Mrs. Connolly über Mary Ellens Herkunft, ihr gutes Verhältnis zu dem Kind wie auch dem sexuellen zu ihrem Mann und bestritt sämtliche ihr zur Last gelegten Taten. Die Presse bestaunte die Furchtlosigkeit, mit der das Opfer der Frau begegnete. Sie schlossen sich aber der Meinung der Anklage an, die in der Pflegemutter das 'brutale, herzlose Monster' sah; eine Ansicht, die der Öffentlichkeit aufgrund ihres lauten, vulgären und selbstbewußten Auftretens gut zu vermitteln war. Die Rollen im Prozeß waren deutlich verteilt, der 'bösen' Frau gegenüber standen die 'guten' Wheeler, Bergh und Gerry.

 Trotz aller Manipulationen wurde ein milderes Urteil verhängt als von der Anklage gefordert. Die Jury folgte damit dem Vorschlag der Verteidigung. Die Verurteilte verbüßte ein Jahr in einer Anstalt für minderschwere Verbrechen. Mary Ellens anschließender Aufenthalt bleibt ungeklärt, vermutlich kam sie in eine polizeiliche Auffangstation für Straßenkinder. Trotz zahlreicher Adoptionsangebote wurde sie acht Monate später in einer Anstalt für arme, behinderte und kriminelle Waisen untergebracht. Es war kein Zufall, daß dies publikumswirksam an dem Tag erfolgte, als die SPCC gegründet wurde. Denn die Organisation sollte künftig den Fall als ihren ersten erfolgreichen Eingriff in eine gewalttätige Familie darstellen. Wheeler brachte Mary Ellen später bei ihren Verwandten unter, betrachtete sie fortan als Studien- wie Vorzeigeobjekt und rief ihren Anteil an deren Rettung häufig öffentlich ins Gedächtnis. Wheeler wiederum diente der SPCC, die über fünf Jahrzehnte keine Frauen als Mitglieder duldete, als 'weibliches Aushängeschild'. Mit ihrer Verbindung zu Mary Ellen stand die Frau für den Anfang der SPCC.

Die 'Vorbeugungsgesellschaften'

In der Arbeit wird die These vertreten, daß der Fall Mary Ellen allein nicht den Anfang der Kinderschutzbewegung darstellte. Zu dieser Erkenntnis führten die auftretenden Widersprüche und die Inszenierung des Falles. Wegweisend war vor allem die sozialhistorische Einordnung der damals gegründeten 'Society for the Prevention of Cruelty to Children'. Die SPCC war eine der vier New Yorker 'Preventive Societies', eng miteinander verwoben und gegen die wohltätige Konkurrenz abgegrenzt. Sie arbeiteten in sozialen Nischen und nahmen Einfluß auf die 'unmoralischen Laster' der Armen. In einer Organisation leitete Anthony Comstock die Zensur obszöner Schrift- und Bildmaterialien, Berghs Zielsetzung war die Maßregelung im Umgang mit Tieren, Gerry gab an, Kinder vor den Sünden der Erwachsenen zu schützen und in der vierten Organisation bekämpfte Howard Crosby das Geschäft mit der Sünde. Ihr Aktionsfeld waren die Slums mit den Vergnügungs- und Privaträumen der Unterschicht. Ihre Akteure waren alle männlich wie politisch konservativ, mehrheitlich protestantisch und wohlhabend. Sie bauten ein Netzwerk in Politik, Medien, Industrie und Justiz zur Überwachung ihrer viktorianischen Moralvorstellungen in New York auf: in diese Stadt kamen die meisten Menschen aus Übersee. Die Reformer befanden sich mit den ImmigrantInnen 'im Krieg'; sie sahen in ihnen Europas 'Abfall'. Die Immigration sollte kontrolliert werden, da die Neuen mit ihren fremden Sitten und Gebräuchen Kriminalität, Alkohol, Armut und käufliches Vergnügen ins Land brachten.

 Unter den Vorbeugungsgesellschaften kam der SPCC insofern eine besondere Rolle zu, da sie umfangreichste Möglichkeiten besaß, in den Privatbereich von Familien einzugreifen. Sie kontrollierte Eltern und Pflegepersonen, deren Armut und fremde Werte als Gefahr für die aufwachsende Generation betrachtet wurden. Die 'Zukunft Amerikas' galt es zu schützen. Schon vor dem Bürgerkrieg existierten Verordnungen, die Situation von Kindern in Anstalten und Arbeitsverhältnissen zu verbessern, sowie Maßnahmen, diese von der Straße zu holen und auf Farmen zu bringen. Oberflächlich betrachtet dehnte die SPCC bestehende Schutzmaßnahmen aus auf geschlagene Kinder in Familien. Doch ging es der Organisation, trotz des Namens 'zur Verhinderung von Gewalt gegen Kinder', nicht vorrangig darum, Mißhandlungen zu unterbinden. Es fehlte das Interesse am Wohl und der näheren Zukunft des Klientels. Die Kinder gaben sie in Anstalten, deren Qualität schon damals beklagt wurde. Die strikte Weigerung, erzieherische Verantwortung für Kinder zu übernehmen, brachte der SPCC den Ruf als 'feeder of the institutions' ein. Sie häufte ökonomische Macht durch die Kontrolle der Heimunterbringung.

Alle vier Vorbeugungsgesellschaften gingen willkürlich vor und nahmen, mit politischer und juristischer Zustimmung, das Gesetz in die Hand, wofür sie von der Unterschicht gefürchtet wurden - die SPCC hieß im Volksmund 'The Cruelty'. Immer unter dem Deckmantel, die Rechte von Kindern zu schützen, wurden Bordelle, Kneipen, Theater und Museen geschlossen. Die gesetzliche Grundlage, die sich die SPCC über Jahre schuf, spiegelt ihre eigentliche Zielvorstellung wider - nur wenige Texte behandelten überhaupt körperliche Gewalt gegen Kinder. Wie ihre Schwesternorganisationen maßregelte die SPCC hauptsächlich die Erwachsenen aus der Unterschicht. Diese erste Kinderschutzorganisation in New York riß arme Familien auseinander. Sie arbeitete anders als die ihr folgenden namensgleichen SPCCs. Gerrys SPCC zielte vorrangig auf die moralische und soziale Kontrolle der armen Bevölkerung. Die anderen Organisationen gaben Familien in Not karitative Hilfe. Nur der Name der ersten Gesellschaft in New York stand ihnen Pate. Die Untersuchung des Einzelfalles zeigte, daß Mary Ellen den Akteuren nur als Marionette diente und ihr Wohlergehen für die Fädenzieher ohne Belang war. Die Legende um den Fall wurde bis zu ihren Wurzeln zurückrecherchiert. Im weiteren Sinne gab das Ereignis gleichwohl den Ausschlag, daß sich Menschen stärker mit den Rechten von Kindern befaßten - für eine diesbezüglich weiterführende Recherche müßte New York verlassen werden.

Die Autorin

Dr. Anja Eckhard (30) promovierte über den 'Fall Mary Ellen' am Institut für Erziehungswissenschaften der Universität Oldenburg. Als Graduierte des Fachbereiches forschte sie für zehn Monate an der Harvard University Graduate School of Education (USA), finanziell gefördert vom DAAD. Nach Abschluß der Dissertation arbeitete sie für die Süddeutsche Zeitung in München und beim NDR-Radio in Hamburg. Sie lebt jetzt als freie Journalistin in Braunschweig.

Presse & Kommunikation (Stand: 20.06.2024)  | 
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