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Die Vermutung von Sendov - ein aktuelles mathematisches Problem

von Gerald Schmieder

Die zunehmende Spezialisierung in allen wissenschaftlichen Bereichen bringt es mit sich, daß die Fragen und Ergebnisse aktueller Forschung Laien und sogar Nicht-Experten des eigenen Fachgebietes nur schwer vermittelt werden können. Für die Mathematik gilt das in besonderem Maße, weil deren Forschungsgegenstände der Sinneswahrnehmung kaum zugänglich sind. Allerdings ist das nicht generell so. Neben allgemeinen Bemerkungen zur mathematischen Forschung früher und heute soll als Beispiel aktueller Untersuchungen die "Vermutung von Sendov" vorgestellt werden, deren Verständnis keine mathematische Vorbildung über das Schulwissen hinaus erfordert.

Gibt es noch etwas zu forschen in der alten Wissenschaft Mathematik? Wenn überhaupt, so das Vorurteil, fristet solche Tätigkeit fernab jeglicher Relevanz ein blutleeres Schattendasein. Die Darstellung mathematischer Methoden und Sachverhalte in Schule und Universität vermittelt den Eindruck eines in sich geschlossenen Weltbildes. Die zur Verfügung stehenden Methoden scheinen völlig ausreichend zu sein, alle mathematischen Probleme zu lösen. Außerdem nimmt heute der Computer langwierige Rechnungen ab.

Wie sieht die Wirklichkeit der mathematischen Forschung aus? Es ist nicht schwierig, mathematische Fragen zu stellen, zu deren Formulierung elementares Schulwissen ausreicht, die aber auch mit dem ganzen zur Verfügung stehenden Methodenapparat bisher nicht beantwortet werden können.

Vor kurzem erst ist die berühmte Vermutung von Pierre de Fermat (1601 - 1665), ein mehr als 300 Jahre altes Problem, von dem englischen Mathematiker Andrew Wiles bewiesen worden, ein mathematisches Forschungsergebnis, über das auch die Weltpresse berichtete. Was haben wir davon? Für das tägliche Leben ist es natürlich unerheblich zu wissen, daß die Gleichung xn + yn = zn für n = 3, 4, 5, ... keine ganzzahligen Lösungen x, y, z ungleich Null besitzt, wie Fermat behauptete. Aber an der Beschäftigung mit diesem Problem haben sich wesentliche Methoden der modernen Algebra entwickelt, die schon jetzt in der Kryptographie eine praktische Umsetzung erfahren haben.

Die Forderung Application Now! nach sofortiger Nutzanwendung ist auf mathematische Forschung darum genauso wenig anwendbar wie auf die Anpflanzung von Eichen. Ungelöste Probleme sind, sofern sie nicht generell unlösbar sind, ein Zeichen des Mangels adäquater Methoden. Diese zu finden, ist fast immer von größerer Bedeutung als die Beantwortung der Frage, die zu ihrer Suche geführt hat.

 So hat die heute unverzichtbare Differentialrechnung ihre Entstehung dem Problem zu verdanken, den Begriff der Tangente streng zu definieren. Vor Isaac Newton (1642 - 1727) und Gottfried W. Leibniz (1646 - 1716) hatten an diesem Problem schon andere gearbeitet, unter ihnen René Descartes (1596 - 1650), der es das "allgemeinste und nützlichste Problem" nannte, das er kenne. Das tägliche Leben kommt heute ohne Differentialrechung nicht aus, die nicht nur diverse Heinzelmännchen unserer Haushalte funktionieren läßt.

 Der expliziten Lösung eines mathematisch formulierbaren Problems sind im konkreten Fall oft Grenzen gesetzt. Im folgenden Beispiel ist es die große Anzahl der zu berücksichtigenden Parameter. In solchen Fällen kann auch kein Computer helfen.

Problem 1: Betrachtet werden vier Quadrate der Kantenlänge 1, die so in der Ebene verteilt sein sollen, daß sie sich untereinander zwar berühren, aber nicht überlappen dürfen. Als Durchmesser der jeweiligen Quadratkonfiguration bezeichnen wir den größten Abstand, den je zwei Punkte der vier Quadrate haben. In welcher Konfiguration ist der Durchmesser absolut minimal?

 Die Vermutung ist natürlich, daß der Durchmesser dann am kleinsten ist, wenn die vier Quadrate so gelegt sind, daß sie sich zu einem Quadrat der Kantenlänge 2 zusammenfügen. Einen Beweis kennt aber bisher niemand. Die Vermutung besitzt sicher hohe Evidenz, aber das ersetzt nicht einen wirklichen Beweis (wie das nächste Problem deutlich zeigt). Es ist jedoch kaum damit zu rechnen, daß eine strenge Lösung dieses Problems jemals gegeben werden kann. Ich wage die Prognose, daß eine Revolution mathematischer Methoden damit einhergehen müßte, ähnlich der Entdeckung der Infinitesimalrechnung durch Leibniz und Newton.

 Sind nicht mathematisch exakte Lösungen überhaupt überflüssiger Bildungs-Ballast, von dem sich der Praktiker heutzutage durch Anwendung "empirischer" Methoden zum Glück befreien kann und so Zeit für Wichtigeres gewinnt? Das nächste Beispiel zeigt deutlich, was von solchen Vereinfachungen zu halten ist.

Problem 2: Auf dem Rand einer Kreisscheibe seien n verschiedene Punkte gewählt und alle untereinander geradlinig verbunden. In wieviele Teile wird die Kreisfläche dabei zerschnitten?

 Wenn wir mit Gn die Anzahl der Teilbereiche bei n vorgegebenen Randpunkten bezeichnen, können wir durch Ausprobieren G1 = 1, G2 = 2, G3 = 4, und  <g4></g4>ermitteln. Damit scheint Gn = 2n-1 gesicherte Erkenntnis zu sein.

 Aber das stimmt nicht. Zwar stärkt G5 = 16 die Hypothese nochmals, jedoch mit sechs Punkten kommt die Ernüchterung: G6 = 31 (wenn sich drei Verbindunglinien in einem gemeinsamen Punkt treffen: G6 = 30), aber nicht 32!

In Wirklichkeit ist die Gleichung für Gn also nicht so offensichtlich zu erhalten. Sie zu finden, hat den Rang einer schwereren Übungsaufgabe für das Grundstudium Mathematik.

Allgemein bekannt sind Fragen der Art: Gegeben ist der Anfang einer Folge: a1, a2, a3, a4, a5. Wie groß ist a6? Etwa in Intelligenztests tauchen solche Fragen auf. Was ist davon zu halten? Wird etwa 1, 2, 4, 8, 16 präsentiert, ist es schlicht falsch, nur 32 als "einzig intelligente" Fortsetzung zu akzeptieren.

Die Vermutung von Sendov - physikalische Formulierung

Nun soll ein vor 35 Jahren publiziertes, trotz vielfacher (Beweis- und Widerlegungs-) Anstrengungen aber immer noch offenes Problem vorgestellt werden, die "Vermutung von Sendov". Der bulgarische Mathematiker Blagovest Sendov wurde schon von seinem Lehrer Nikola Obreschkoff in Fragen zur Nullstellenverteilung eingeführt. Seit einigen Jahren ist er in hohen Positionen politisch tätig, z.B. war er Präsident des bulgarischen Parlaments. Den Kontakt zur mathematischen Aktualität hat er jedoch stets gehalten (ein Treffen mit Boris Jelzin am Rand eines Mathematikerkongresses in Moskau hat 1996 zu Irritationen politischer Kreise in Sofia geführt, siehe www.b-info.com/places/Bulgaria/news/96-02/feb01.bta). Neben der rein mathematischen Formulierung gestattet die Vermutung von Sendov auch eine physikalische Schilderung, mit der hier begonnen werden soll.

Problem 3a: In einer Ebene seien endlich viele, aber mindestens zwei Elektronen innerhalb einer Kreisscheibe vom Radius 1 an verschiedenen Orten fixiert. Im erzeugten Kraftfeld existieren Ruhepunkte, das sind Stellen, in denen auf eine Probeladung keine Kraft ausgeübt wird. Die Vermutung ist nun: Zu jedem der beteiligten Elektronen hat der nächstgelegene Ruhepunkt einen Abstand von höchstens 1.

Die Zahlenebene

Die mathematische Formulierung des Problems erfordert Kenntnis der komplexen Zahlen, die hier kurz und allgemeinverständlich dargestellt werden sollen. Die Bezeichnung "komplexe Zahl" wurde von Carl Friedrich Gauß (1777 - 1855) eingeführt und taucht in seiner Abhandlung Theoria residorum biquadraticorum aus dem Jahr 1831 erstmals auf. Es wird eine Ebene betrachtet, in der ein Punkt als Nullpunkt und eine im Nullpunkt beginnende Halbgerade ("positive x-Achse") festgelegt sind. Bekanntlich lassen sich die Punkte einer solchen Ebene durch Angabe zweier reeller Zahlen, der sogenannten Koordinaten, beschreiben (zur Erinnerung: die reellen Zahlen sind die positiven oder negativen Zahlen mit beliebig vielen Nachkommastellen). Meist geschieht dies in Form der nach Descartes benannten cartesischen Koordinaten, aber manchmal sind die sogenannten Polarkoordinaten vorteilhafter. Dabei wird ein Punkt P in dieser Ebene durch Angabe seines Abstandes rP zum Nullpunkt und des Winkels aP beschrieben, den die Verbindungsstrecke Nullpunkt - Punkt mit der positiven x-Achse einschließt.

Für die Punkte der Ebene soll nun eine Addition und eine Multiplikation eingeführt werden. Die Addition wird als die übliche Vektoraddition erklärt. Das Produkt P×Q der Punkte P und Q mit den Polarkoordinaten (rP, aP) und (rQ, aQ) sei der Punkt mit den Polarkoordinaten (rP.rQ,aP+aQ). Die so definierten Rechenoperationen erfüllen die üblichen Rechenregeln.

Die Ebene mit diesen Rechenoperationen bildet die komplexen Zahlen. Eine Sonderstellung nehmen diejenigen Punkte der Ebene ein, die zum Winkel 0° oder 180° gehören. Diese Punkte bleiben sowohl bezüglich der Addition als auch bezüglich der Multiplikation unter sich, was sich aus der Definition ergibt. Identifizieren wir die Punkte (r, 180°) bzw. (r, 0°) mit der reellen Zahl -r bzw. r, so sehen wir, daß die eben erklärte Addition und Multiplikation auf dasselbe hinausläuft wie die entsprechende Rechnung mit den zugeordneten reellen Zahlen.

Wir finden also die reellen Zahlen "verkleidet" als Teil der komplexen Zahlen wieder. Nachdem wir dies erkannt haben, betrachten wir die reellen Zahlen als Teil der komplexen Zahlenebene. Bis zur hier geschilderten, völlig konkreten und anschaulichen Deutung, die erstmals 1799 durch Kasper Wessel (1745 - 1818) gegeben wurde, vergingen zweieinhalb Jahrhunderte. Seit ihrem ersten Erscheinen im Jahre 1545 (Geronimo Cardano (1501 - 1576): De Regula falsum ponendi) waren die komplexen Zahlen als zwar nützliche, aber wegen

i2 = (1, 90°).(1,90°) = (1,180°) = -1

 "in Wahrheit nicht existierende Gebilde" angesehen worden (i, die übliche Bezeichnung von (1, 90°), steht für "imaginär"), ein argumentativer Sumpf.

 Ein (normiertes) Polynom definieren wir nun als eine Funktion, die durch eine Gleichung der Form beschrieben ist, wobei a0, a1,..., an-1 feste (reelle oder komplexe) Zahlen sind und z für die Variable steht. Die höchste in einem Polynom auftretende Potenz n nennt man den Grad des Polynoms. Für ein solches Polynom bilden die komplexen Zahlen den natürlichen Bereich der Variablen z, nicht die reellen. Denn nach dem sogenannten "Fundamentalsatz der Algebra" gibt es komplexe Zahlen z1, ..., zn ,so daß sich p auch als Produkt für alle komplexen Zahlen z schreiben läßt. Da das Prinzip "ein Produkt ist genau dann 0, wenn mindestens ein Faktor 0 ist" auch für komplexe Zahlen gilt, heißt dieses: Ein Polynom der oben angegebenen Form besitzt in den komplexen Zahlen genau n Nullstellen.

 Die Ableitung p' des komplexen Polynoms p kann wie für reelle Funktionen definiert werden. Es gilt dieselbe Ableitungsregel für Polynome, also zum Verständnis des folgenden Textes reicht es völlig, diese Gleichung ohne weitere Sinngebung als Definition der Ableitung p' des Polynoms p zu nehmen.

 Nun ist alles vorbereitet für die mathematische Formulierung der Vermutung von Sendov.

Die Vermutung von Sendov – mathematische Formulierung

Problem 3b: Wenn p ein beliebiges komplexes Polynom (vom Grad mindestens 2) ist, dessen Nullstellen alle vom Nullpunkt höchstens 1 entfernt sind, dann besagt Sendovs Vermutung, daß der Abstand jeder einzelnen Nullstelle von p zur jeweils nächsten Nullstelle von p'> höchstens 1 ist.

Dabei entsprechen die Nullstellen des Polynoms in der mathematischen Formulierung den Elektronen in der physikalischen Formulierung und die Ableitungsnullstellen den Ruhepunkten. Zur Vermutung von Sendov sind eine Reihe von Teilergebnissen erzielt worden. So ist bekannt, daß sie für Polynome mit Graden bis einschließlich 7 richtig ist. Die Beweismethoden dafür sind aber kaum erweiterungsfähig.

 Es soll im weiteren in erster Linie der Frage nachgegangen werden, warum ein Beweis für diese Vermutung so schwer zu finden ist. Durch Betrachtung von "Bewegungen" der Nullstellen und der Ableitungsnullstellen lassen sich zwei Prinzipien heuristisch plausibel machen, die auch im physikalischen Modell der Elektronen und der Ruhepunkte gut nachzuvollziehen sind:

 (I) Liegen einige Nullstellen von p ausreichend nahe beieinander, so findet sich (mindestens) eine Nullstelle von p' in der Ansammlung.

 (II) In der Nähe einer einsamen Nullstelle von p gibt es eine Nullstelle von p'.

 Es ist jedoch sehr schwierig, diese Prinzipien qualitativ zu fassen und "nah" und "weit" zu präzisieren. Auf entsprechende Einzelheiten aus Arbeiten des Autors kann hier nicht näher eingegangen werden.

Es scheint zuzutreffen, daß die Vermutung von Sendov nicht mit einem der beiden Prinzipien allein zu begründen ist, sondern auf einem Zusammenspiel beider beruht: Liegen in ausreichender Nähe der gerade betrachteten Nullstelle zj von p weitere, so liefert (I) das Gewünschte; ist das nicht der Fall, so ist vielleicht zj vereinzelt genug, um (II) greifen zu lassen und garantiert so die gesuchte Ableitungsnullstelle. Qualitative Präzisierungen sind bisher noch nicht ausreichend, um sich im geschilderten Sinn zu einem Beweis der Vermutung von Sendov zu ergänzen.

Vielleicht ist die Einschätzung zu optimistisch, daß sich aus den beiden Prinzipien die Sendovsche Vermutung beweisen läßt. Es ist sogar durchaus nicht jenseits der Vorstellungskraft, daß sie falsch ist. Sehr falsch kann sie allerdings nicht sein. Um das zu verstehen, stellen wir die Frage in einer etwas allgemeineren Form:

Problem 3c: Wenn p ein beliebiges komplexes Polynom (vom Grad mindestens 2) ist, dessen Nullstellen vom Nullpunkt alle höchstens 1 enfernt sind, wie groß kann der Abstand r jeder einzelnen Nullstelle zur jeweils nächsten Ableitungsnullstelle höchstens werden?

 Die Vermutung von Sendov reduziert sich dann auf die Behauptung "r = 1". Klar scheint die Richtigkeit der Aussage für r = 2 zu sein, denn außerhalb der Kreisscheibe K kann anschaulich kein Ruhepunkt des Feldes zu finden sein, da die angreifenden Kräfte sich hier nicht aufheben können. So plausibel dieses allerdings auch er- scheint: Der Beweis für die mathematische Aussage " p' hat alle Nullstellen in der Kreisscheibe" ist keineswegs trivial, er wurde 1874 von F. Lucas gegeben. Einige Jahrzehnte früher hatte Gauß die Idee zu diesem Satz schon gehabt und in seinem Notizbuch vermerkt, allerdings ohne Beweis. Der heutige Stand der Erkenntnis ist aber über r = 2 weit fortgeschritten. Man weiß inzwischen, daß die Aussage schon für r = 1,084 zutrifft. Die Richtigkeit der Sendovschen Vermutung ist also "fast" gezeigt.

 Die vorhandenen Methoden sind, so können wir daraus schließen, nicht schlecht, aber eben doch zur Lösung der gestellten Aufgabe noch nicht ausreichend. Es bleibt also einiges zu tun. Ein künftiger vollständiger Beweis der Vermutung von Sendov wäre, wird nur der erzielte numerische Fortschritt von r = 1,084 auf r = 1 gesehen, sicherlich ein kleiner Schritt. Aber es könnte durchaus "ein großer Schritt für die Menschheit" sein, wenn nämlich die Beschäftigung mit dieser Frage neue, wirkungsvolle Methoden hervorbrächte, die dann anderswo und wahrscheinlich erst viel später ihre Früchte trügen.

Der Autor

Prof. Dr. Gerald Schmieder (50) lehrt und forscht seit 1990 an der Universität Oldenburg. Er studierte Mathematik und Physik an der Universität Hannover. Nach der Habilitation erfolgte ein Aufenthalt an der Université de Montréal (Kanada). Bevor er nach Oldenburg berufen wurde, lehrte er in Hannover und Würzburg. Sein Hauptarbeitsgebiet ist die Funktionentheorie, der auch die Vermutung von Sendov zuzurechnen ist. Seit April 1997 ist er Dekan des Fachbereichs Mathematik. Neben der Hochschullehrertätigkeit ist er passionierter Violinist. Einige Jahre war er Konzertmeister des Universitätsorchesters.

(Stand: 20.06.2024)  | 
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