Was ist ein Erinnerungsort?

Das Konzept der Erinnerungsorte ist erst etwa 25 Jahre alt und stammt von dem französischen Historiker Pierre Nora, der durch die Arbeiten zum kollektiven Gedächtnis von Maurice Halbwachs beeinflusst worden war. Nora hatte sich zum Ziel gesetzt, „Kristallisationspunkte unseres [französischen] nationalen Erbes“ (Nora 1995) zu identifizieren – das Ergebnis waren die siebenbändigen „Les lieux de mémoire“, die über 130 derartiger Orte beinhalteten und als Beispiel für weitere „Erinnerungsortprojekte“ in vielen Ländern Europas gelten sollten. Erst in der jüngsten Vergangenheit begannen Historiker, die Unterschiede zwischen historischer Forschung und dem Gedächtnis von Personen und Kollektiven ernst zu nehmen. Im Gegensatz zu der um (sicherlich zeitgebundene) Objektivität bemühten Historiografie ist kollektive Erinnerung emotional und wandelbar, sie passt das Überlieferte an die jeweilige Gegenwart an und verändert die Deutungsmuster der Vergangenheit weitgehend unreflektiert.

Individuelle Erinnerungen sind es, die unser Leben und unsere Persönlichkeit prägen – sie formen die Herausbildung eines jeden Individuums. Dieses gilt gleichsam auch für Kollektivindividuen, wie z.B. die Bewohner und Bewohnerinnen einer Stadt bzw. einer Region oder auch für ganze Nationen. Denn nicht nur der einzelne Mensch erinnert sich, auch Kollektive haben ein gemeinsames Gedächtnis. Nach Etienne François und Hagen Schulze sind Erinnerungsorte „langlebige, Generationen überdauernde Kristallisationspunkte kollektiver Erinnerung und Identität.“ Konjunktur haben sie insbesondere seit einigen Jahren, seit Historiker in einer immer stärker auf die Zukunft ausgerichteten und immer globaler denkenden Welt das Phänomen der „permanenten Gegenwart“ ausgemacht haben, die „jegliche organische Verbindung zur Vergangenheit ihrer eigenen Lebenszeit“ (Eric Hobsbawn) vermissen lässt.

Der Begriff des Erinnerungsortes ist schwierig, denn er meint viel mehr als reine Örtlichkeiten. Viele Konzepte von Gedächtnis betonen die Verortung von Erinnerungen im Raum. Pierre Nora selbst hebt hervor, dass sich kollektive Erinnerungen in irgendetwas, sei es in einem Ort, einer Persönlichkeit, einer mythischen Gestalt, einem Ritual, einem Brauch oder einem Symbol manifestieren, [also quasi eine Gestalt annehmen bzw. einen begrifflichen Topos (wörtlich: einen Ort) bilden, in dem gemeinsame Assoziationen kondensieren.] Die Bände über die „Deutschen Erinnerungsorte“ von Etienne François und Hagen Schulze erfassen als die Erinnerungsorte der Deutschen so unterschiedliche Begriffe wie Wartburg, Mauer, Brandenburger Tor, Johann Sebastian Bach, Heinrich Heine, Johann Wolfgang von Goethe, Pickelhaube, Mitläufer, „Wir sind das Volk“, Hausmusik, Duden, Feierabend und Bundesliga.

Die Erinnerungsorte sind identitätsstiftend für Kollektive. Dabei haben verschiedene gesellschaftliche Gruppen durchaus unterschiedliche Erinnerungsorte. Ein Vorwurf an die bisherigen Arbeiten ist die Vernachlässigung der Erinnerungsorte von Frauen, Arbeitern, Kindern usw. Hier ist noch einiges aufzuarbeiten. Außerdem reichen sie unterschiedlich weit in die Vergangenheit zurück. Manche, wie z.B. die Varusschlacht, schweben über Jahrtausende zwischen Gedächtnis und Vergessen und haben ganz unterschiedliche Konjunkturen. Andere bewegen vor allem die Erinnerung der Zeitgenossen und müssen erst zeigen, inwieweit sie Generationen überdauern. Gemeinsam ist den Erinnerungsorten, dass viele Menschen etwas mit ihnen verbinden, dass sie sie für ihre Identität als relevant einstufen. Dabei kann die Erinnerung durchaus konflikthaft oder negativ besetzt sein und eine Identität ex negativo konstruieren.

Die geschichtswissenschaftliche Auseinandersetzung mit Erinnerungsorten möchte nicht nur dazu beitragen, die Kluft zwischen offizieller Geschichtsschreibung und kollektiver Erinnerung zu überbrücken, sondern die Symbolisierung und Tradierung kollektiven Gedächtnisses nachzeichnen. Insbesondere die verschiedenen Deutungen und Aneignungen der Orte im Laufe der Zeit, die Herausarbeitung ihrer Instrumentalisierung durch politische Gruppierungen sollen für die Manipulierbarkeit des kollektiven Gedächtnisses sensibilisieren.

Die Region und ihre Geschichte bilden einen der Rahmen für die kollektive Erinnerung der Oldenburger. Wie bei den Projekten zu französischen und deutschen Erinnerungsorten stellt die Auswahl der „richtigen“ Orte die größte Schwierigkeit dar. Daher trägt das Projekt vor allem zu einer „Selbstentdeckung“ (Pierre Nora) bei. Spannend sind neben den in öffentlichen Diskursen ständig aktualisierten Topoi vielleicht gerade die verschütteten, verdrängten und überlagerten erkalteten Erinnerungsorte.

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