von Reinhard Schulz
Begriffe wie Bildung, Nachhaltigkeit und Solidarität haben besondere Strahlkraft und beinhalten ein großes Versprechen. Doch kann dieses Versprechen auch eingehalten werden? Die Pandemie macht möglich, dass die hinter den alten Versprechen verborgenen Krisen und Probleme umso greller ans Tageslicht treten.
Bei dem Versprechen auf Bildung ist das die Ungleichheits-, bei der Nachhaltigkeit die Klima- und bei der Solidarität die Flüchtlingskrise. Das Bildungsversprechen freier Selbstbestimmung („Ausbilden können uns andere, bilden kann sich jeder nur selber“, Peter Bieri) entpuppt sich im „Homeoffice“ als Unbekannte mit vielen Variablen der Ungleichheit, die angeborener (einheimisch oder fremd), individueller (Lust auf Lernen), sozialer (Herkunftsmilieu), familiärer (Alleinerzieher bis Großfamilie), ökonomischer (Einkommen der Eltern), pädagogischer (Kompetenzen der Lehrer und Eltern) oder technischer (Hardware und Internetzugang) Natur sein können. Die technische Variable hat das Zeug zu einem weiteren großen Versprechen in Gestalt der Digitalisierung, die uns nicht nur bei Schularbeiten die Quarantäne versüßen soll. Anders als die Pandemie kennt sie aber keine Maskenpflicht und liefert uns den „Infektionen“ des Überwachungskapitalismus (Zuboff 2018) schutzlos aus. Angesichts dieser Gemengelage kann sich das Versprechen auf Bildung für viele sehr schnell als ein Versprecher erweisen bzw. die milieu- und technikabhängige Teilhabe an Bildung von vornherein unterbinden.
Aber allen, die deshalb jetzt stöhnen sollten, sei das Buch Namen und Nummern (2020) der Mailänder Forensikerin Christina Cattaneo empfohlen, die den anonymen Opfern von Lampedusa mit dem Sammeln ihrer persönlichen Habseligkeiten ein wenig von ihrer Würde zurückgeben möchte. Eingenäht in seiner Jacke fand sie bei einem jungen Ertrunkenen ein Stoffsäckchen mit etwas heimatlicher Erde und sein Schulzeugnis. Die drei Versprechen zu Beginn verdienen offensichtlich viel mehr gemeinsame Aufmerksamkeit.
Reinhard Schulz, Dr. phil. habil., ist em. Professor für Philosophie an der Universität Oldenburg und Präsident der International Association of Jaspers Societies.
Kontakt: reinhard.schulz@uni-oldenburg.de