Über diesen Blog.

Hier schreiben Wissenschaftler*innen der Universität Oldenburg und Gastautor*innen darüber, wie sich Gesellschaften selbst wahrnehmen und thematisieren, sich ihrer jeweiligen Gegenwart vergewissern und dabei in die Zukunft entwerfen.

Wie stehen diese Selbstwahrnehmungen und -entwürfe mit Institutionen, Medien und Techniken zur Gestaltung von Natur, Gesellschaft und Subjektivität in Verbindung? Wie modellieren sie den lebensweltlichen Alltag und halten Menschen zu einem bestimmten Verhalten an? Wie werden diese Interventionen in das Gegebene begründet und legitimiert, aber auch kritisiert, verworfen oder unterlaufen?

Diesen Fragen, deren interdisziplinäre Reflexion eines der zentralen Anliegen des Wissenschaftlichen Zentrums „Genealogie der Gegenwart“ ist, gehen die Blogger aus unterschiedlichen Fachperspektiven und Tätigkeitszusammenhängen mit Blick auf kontrovers verhandelte Themen wie Migration, Ungleichheit, Digitalisierung, Kriminalität, Gesundheit und Ökologie nach.

Bei Fragen oder Anmerkungen schreiben Sie gerne an wizzeg@uni-oldenburg.de.  

Nachhaltige Mobilität – nachhaltige Arbeit

von Thomas Barth - Georg Jochum - Beate Littig

von Thomas Barth - Georg Jochum - Beate Littig

Zwar reden scheinbar alle von Digitalisierung und den damit verbundenen Veränderungsprozessen, jedoch werden die Verbindungen zur Zukunft der Arbeit und Nachhaltigkeitstransformationen bisher selten ausgelotet. Betrachten wir einen konkreten Problemsektor, wie beispielsweise den Verkehr und das Ziel einer nachhaltigen Mobilität, wird deutlich, dass die derzeitigen Transformationen im Bereich der Nachhaltigkeit, Digitalisierung und Arbeit nur gemeinsam verstanden und bearbeitet werden können.

Die Folgen der Digitalisierung erscheinen sowohl mit Blick auf Arbeit als auch nachhaltige Mobilität zwar ungewiss, aber letztlich doch irgendwie nach vorne weisend. Abseits von den Schreckensszenarien des rasanten Arbeitsplatzabbaus stehen im Diskurs um Arbeit 4.0 etwa vor allem die sogenannten Herausforderungen und Chancen im Mittelpunkt. Und auch in Bezug auf Nachhaltigkeit biete sich mit der digitalen Vernetzung von technischen Artefakten wie Fahrzeugen und individuellen Verhaltensmustern ein vielversprechendes Szenario: Wir alle bewegen uns digital vernetzt, in geteilten Fahrzeugen, flexibel und individuell, nahezu emissionsfrei. Wird aber die Frage, wie wir arbeiten werden, hierbei ausgeklammert, droht eine Sackgasse. Ja mehr noch: der Schuss könnte eventuell nach hinten losgehen – es drohen Arbeitsmehrbelastung, mehr Ressourcenverbrauch, mehr Verkehr.

Deshalb muss die Gestaltungsperspektive einer digitalen, sozial und ökologisch nachhaltigen Mobilitätswende mit einem ökologisch erweiterten Konzept zukünftigen Arbeitens – eben: nachhaltiger Arbeit – konvergieren. 

Eine nachhaltige Mobilitätswende braucht nachhaltige Arbeit

Eine nachhaltige Mobilitätswende zielt vor allem auf die Überwindung des dominierenden individualisierten Automobilverkehrs, der bisher aber noch – dank historisch starker gewerkschaftlicher Präsenz – vergleichsweise zahlreiche gute Arbeitsplätze bietet. Ökologisch aber liegt hier ein Grundproblem des Verkehrssektors, der weithin als Sorgenkind der Umwelt- und Klimaschutzpolitik gilt: Die bisherigen Effizienzgewinne wurden nahezu vollständig durch den globalen Trend des automobilen Verkehrswachstums kompensiert. Nur wenn die Zunahme großer schwerer Automobile gestoppt wird, dann können andere Elemente wie die Elektrifizierung des Antriebs, die Verlagerung auf Fuß- und Radverkehr sowie öffentliche Verkehrsmittel und Konzepte des Car-Sharing und Ride-Pooling greifen. Denn bisher findet mit neuen Sharing-Mobilitätsangeboten (günstiger und flexibler als die öffentlichen Verkehrsmittel) und E-Automobilen (als Zweitwagen) offenbar eher eine Verlagerung auf die Straße, d.h. mehr Verkehr und mehr Ressourcenverbrauch statt. Die mit der elektrifizierten Automobilität gestiegene Rohstoffnachfrage für Batteriezellen ist zudem – analog zum fossilen Sektor – absehbar ein erheblicher Konfliktherd und schon heute mit ebenso fatalen Arbeitsbedingungen verbunden. Der Trend zu vermeintlich fortschrittlichen E-Rollern und neuen Mobilitätsdienstleistungen ist zudem hinsichtlich Arbeitsqualität und Ressourcenaufwand sozial und ökologisch nicht nachhaltig.

Weniger und andere Automobile auf den Straßen – und sowieso: mehr Fuß- und Radverkehr – das sind die Herausforderungen, vor denen Politik und Automobilindustrie (und damit auch die hier Beschäftigten) folglich stehen. Die Zielstellung ist klar: weniger Verkehr, bei mindestens gleichbleibender Mobilität im Sinne der Erreichbarkeit von notwendigen und wünschenswerten Angeboten und Services. Was bedeutet das aber für die Arbeit der Zukunft und die Arbeitenden, wenn grundsätzlich andere und insgesamt weitaus weniger Automobile produziert werden sollten? Eine diese Fragestellungen verbindende Perspektive ergibt sich durch das Konzept nachhaltiger Arbeit.

Nachhaltige Arbeit als Zukunftskonzept

Nachhaltigkeit wird bis heute nur selten mit Arbeit verbunden. Jedoch ist in diesem Themenfeld in der Wissenschaft und Politik derzeit einiges in Bewegung. Im Prozess der 2015 von der UN verabschiedeten Sustainable Development Goals (SDGs) wurde im UNDP–Bericht „Arbeit und menschliche Entwicklung“ ein Prozess in Richtung „nachhaltiger Arbeit“ eingefordert. Diese wird definiert als „Arbeit, die der menschlichen Entwicklung förderlich ist und gleichzeitig negative Außenwirkungen […] in verschiedenen geographischen und zeitlichen Zusammenhängen verringert oder ausschaltet.“

Über die Frage der ökologischen Konsequenzen der Arbeit hinaus werden auch globale Entwicklungsfragen thematisiert und eine umfassende gesellschaftliche Transformation der Arbeitsgesellschaft nahegelegt, die alle Formen menschlicher Arbeit einbezieht. Neben der Erwerbsarbeit rücken die privaten Sorge- und Pflegtätigkeiten, alle kreativen und zivilgesellschaftlichen Aktivitäten, die Menschen leisten, ins Blickfeld. Auf die Erwerbsarbeit bezogen ist auf dem Weg zu nachhaltiger Arbeit zwar mit dem Abbau von bestehenden Arbeitsplätzen – zum Beispiel im fossilen Automobilsektor – zu rechnen, aber auch mit der Verlagerung und dem Entstehen von neuen Arbeitsmöglichkeiten. Bisher verbleiben aber derartige Ansätze bei allen Fortschritten dem Paradigma des Wirtschaftswachstums verhaftet – Ziel 8 der SDGs lautet etwa „Menschenwürdige Arbeit und Wirtschaftswachstum“. Hier müssten sich Diskussionen um alternative Wohlstandskonzepte und ihre Beziehungen zu Fragen der Arbeit und zum Beispiel einer demokratischen Gestaltung der Wirtschaft anschließen.

Eine nachhaltige Mobilitätswende verbindet gutes Leben und gute Arbeit

Vor diesem Hintergrund des Leitbilds nachhaltiger Arbeit lassen sich vier Denkanstöße für die Frage nach dem Zusammenhang von Nachhaltigkeit, Digitalisierung und Arbeit am Beispiel der Mobilitätswende formulieren.

Erstens befinden sich die Automobilindustrie und der Verkehrssektor derzeit ohnehin in der Transformation, jedoch eher in Richtung sozial-ökologisch nicht-nachhaltiger alternativer Mobilitätsformen auf Kosten von Natur, Arbeitsqualität und Arbeitsplätzen.

Hier schließt zweitens die Einsicht an, dass die betrieblichen Veränderungsprozesse über Fragen der Absicherung von Arbeitsplätzen hinausgehend mit vertiefter Mitbestimmung zu verbinden sind: Was in den Automobilfabriken der Zukunft unter welchen Bedingungen produziert wird, sollte sich an den gesellschaftlichen Mobilitätsbedürfnissen orientieren. Spätestens hier wird deutlich, dass nachhaltige Arbeit auch eine Machtfrage ist.

Drittens ergibt sich weniger Verkehr nicht notwendig aus einer digitalen Vernetzung der Verkehrsträger sowie von Angebot und Nachfrage. Erforderlich sind dagegen kürzere Wege, etwa auch Arbeitswege, durch solidarische und moderne Formen der Regionalisierung, d.h. eine tatsächliche Nutzungsmischung auf Quartiersebene.

Diese neuen Mischungen würde schließlich viertens auch das Verhältnis von Erwerbsarbeit und nicht erwerbsförmiger Arbeit im Sinne der Aufwertung letzterer umfassen. Denn wenn zukünftig weniger Automobile zunehmend digitalisiert produziert und Wirtschaftskreisläufe regional organisiert würden, verschafft das vielleicht mehr Zeit für andere Dinge: Zeit für eine solidarische Lebensweise, die gutes Leben und gute Arbeit verbindet.

Autorinnenangaben

Thomas Barth, Dr. phil, ist akademischer Rat auf Zeit am Institut für Soziologie der Ludwig-Maximilians-Universität München.
Kontakt: thomas.barth@lmu.de 

Georg Jochum, Dr. phil., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Wissenschaftssoziologie des Munich Center for Technology in Society der Technischen Universität München.
Kontakt: g.jochum@tum.de 

Beate Littig, Dr. rer. soc. habil, ist Universitätsdozentin an der Universität Wien und leitet die Forschungsplattform sozial-ökologische Transformationsforschung am Institut für Höhere Studien in Wien.
Kontakt: littig@ihs.ac.at 

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