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Laufzeit
Oktober 2019 bis September 2025
Konzept
Thematischer Fokus und Beobachtungsperspektive
Digitalisierung gehört zu den am heftigsten diskutierten Themen der Gegenwart. Bilder, Visionen und Gestalten einer digitalen Zukunft finden sich in allen Bereichen der Gesellschaft – in der Bildung, die sich mit neuen Curricula, virtuellen Methoden und entsprechenden Medien für die Zukunft wappnet (Dräger/Müller-Eiselt 2018); im Gesundheitssektor, in dem digitale Technologien und Messverfahren verbesserte Behandlungs- und Vorsorgemethoden versprechen (Haring 2018; vgl. auch die Initiative der Bundesregierung „E-Health – Digitalisierung im Gesundheitswesen“); in der Wirtschaft, in der die Notwendigkeit der Digitalisierung mit dem Erhalt von Wettbewerbsfähigkeit (Huber 2018) und besseren Erträgen begründet wird (vgl. etwa die Stellungnahmen des DIHK zu Digitalisierung als „Wachstumstreiber für die Wirtschaft“); auf dem Feld der Politik, auf dem die Regierung mit einer „digitalen Agenda“ Leitlinien der Digitalpolitik definiert und Gewerkschaften eine arbeitnehmer*innengerechte Gestaltung der Digitalisierung fordern (vgl. bspw. die Stellungnahmen der 2014 eingerichteten Fachabteilung des DGB „Digitale Arbeitswelten und Arbeitsweltberichterstattung“) usw.
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So unterschiedlich der Begriff der Digitalisierung in diesen Bereichen verwendet wird, um einen auch den Alltag radikal verändernden Transformationsprozess zu beschreiben, auf den mit Maßnahmen zukunftsbezogener Steuerung und Gestaltung reagiert werden müsse, so unterschiedlich sind auch die Zukunftserwartungen, die diese Maßnahmen bedingen und in sie eingeschrieben sind. Einige Beobachter*innen verbinden mit der Digitalisierung den Beginn „einer neuen Ära, in der Computer anspruchsvolle Aufgaben von Wissensarbeitern übernehmen und gut bezahlte Arbeitsplätze wegfallen“ (Der Spiegel 03.09.2016, S. 12), einen „Rise of the Robots“ also (Ford 2016), in dem Kritiker*innen einen „Angriff auf unsere Freiheit“ (Welzer 2016) sehen. Andere hingegen schätzen Digitalisierung positiv „als einen (ökonomischen) Fortschrittsmotor der Gegenwartsgesellschaft“ ein (Der Spiegel Wissen 26.04.2016). Wieder andere verteidigen die „digitale Moderne“ gegen kulturpessimistische Modernekritik als Schauplatz nicht nur eines „egalitäre[n] Strukturwandel[s] der Öffentlichkeit“, sondern auch eines Umdenkens und Einstellungswandels, in dem sich die „Sehnsucht nach einer resonanten Weltbeziehung“ artikuliere (Der Spiegel 28.05.2016, S. 132f.). Die Diskurse und Praktiken, die Politiken und Technologien der Digitalisierung bilden mithin Kristallisationskerne vielfältiger, miteinander konkurrierender, mitunter einander auch widersprechender Zukunftsbilder und -szenarien, von mehr oder weniger populären Utopien und Dystopien (vgl. „Verteufelt nicht das Digitale“ [Gastbeitrag von Heinrich Bedford-Strohm], in: Die Zeit, Nr. 45, 31.10.2018; oder Precht 2018). Sie sind Trägermedien und Triebfedern euphorischer und apokalyptischer Zukunftserwartungen, von Verheißungen und Katastrophenszenarien, von positiven und negativen Affekten (vgl. u. a. Butler 2015) – bis hin zu Reflexionen über eine „digitale Ontologie“, die nach dem Stellenwert der Digitalisierung als Horizont menschlicher Seinsbestimmung fragt (Capurro 2017; Volkens/Anderson 2017).
Das Promotionsprogramm möchte das vielstimmige Geflecht aus Bildern und Erwartungen, aus Hoffnungen und Ängsten, das sich um den Begriff, die Techniken und die Praktiken der Digitalisierung rankt und vielfältige, z. B. wirtschafts- und bildungspolitische Maßnahmen anstößt, kritisch-reflexiv beobachten und begleiten. Dazu nimmt es eine geistes-, kultur- und gesellschaftswissenschaftlich informierte Meta-Perspektive auf Digitalisierungsprozesse ein. Seinem leitenden Interesse liegen die Beobachtungen zugrunde, 1. dass ‚Digitalisierung‘ in den letzten Jahren zu einem Schlagwort für höchst disparate, positive wie negative Projektionen und Zukunftsvorstellungen geworden ist, sowie 2., dass die an ‚Digitalisierung‘ sich heftenden Erwartungen, Imaginationen und Narrative eine eigene Dynamik und Realitätsmacht entfalten. Sie wirken, so die Annahme, als Treibstoff der digitalen Transformation durch entsprechende Politiken und Planungen (vgl. bspw. den programmatischen Entwurf der Bundesregierung „Digitalisierung gestalten Umsetzungsstrategie der Bundesregierung“). Dies gilt auch für die Geistes-, Kultur- und Gesellschaftswissenschaften selbst. So hat sich mit den Digital Humanities eine eigene Disziplin etabliert, deren Konzepte und Verfahren sich von tradierten geisteswissenschaftlichen Perspektiven und Textverständnissen stark unterscheiden, und die darauf angelegt ist, die Potentiale quantitativer Textanalysen und digitaler Editionen nicht nur für den eigentlichen Forschungsprozess, sondern auch für die breitenwirksame Inszenierung und Vermarktung von Wissenschaft zu nutzen (Schmale 2015, S. 10): Auch in geistes-, kultur- und sozialwissenschaftlichen Gegenwartsdiagnosen werden Bilder einer digitalen Zukunft entworfen, die wissenschaftsbezogene Praktiken initiieren und beflügeln.
Das titelgebende Leitkonzept ‚Gestalten‘ erlaubt uns eine spezifische analytische Fokussierung auf den für uns zentralen Zusammenhang zwischen disparaten Entwürfen einer digitalen Zukunft einerseits und der wirkmächtigen Kraft dieser Entwürfe andererseits. Denn dieses, u. a. auf die Gestaltpsychologie des frühen 20. Jahrhunderts rekurrierende, Konzept lenkt den Blick sowohl auf die Gestalthaftigkeit von Zukunftsentwürfen als auch auf deren Gestaltungsmacht. Es betont die sinnhaft-sinnliche Verdichtung ungleichartiger Elemente (Wirklichkeitsaspekte, Vorstellungen, Zeitstrukturen usw.) in einem Bild, einem image, einer Figur, die sich der Wahrnehmung als eine Ganzheit aufdrängt, die mehr ist als die Summe ihrer Teile. „Gestalten“ eignen mithin eine besondere synthetisierende und affizierende Kraft, die ihre formgebende Wirkung bedingt. Sie sind damit mehr als bloße Zeichen oder Symbole, die eine als bereits gegeben unterstellte Wirklichkeit signifizieren oder repräsentieren, sondern konstitutiv für diese Wirklichkeit selbst (vgl. u. a. Kittsteiner 2005, S. 25-57; grundlegend Etzemüller 2019).
Um die Dynamik der in diesem Sinne gestaltvermittelten Zukunftsgestaltung erklären und verstehen zu können, so lautet vor diesem Hintergrund unsere Ausgangsthese, ist es von zentraler Bedeutung, die Entstehung und die Entstehungsbedingungen, die Bauweisen, die medialen Formen, die Inhalte und Funktionsweisen, die Überzeugungskraft und Wirkmacht der an ‚Digitalisierung‘ sich knüpfenden „imaginierten Zukünfte“ (Beckert 2018) aus einer kulturwissenschaftlich informierten Perspektive zu untersuchen. Dies ist vor allem deshalb vonnöten, weil sich die digitale Transformation nur dann bewusst kontrollieren und partizipativ gestalten lässt, wenn auch ihre imaginären und somit überwiegend unbewusst wirkenden Triebkräfte in den Blick gebracht werden (zur techniksoziologischen Forschung über Akzeptanz und Partizipationsverfahren vgl. u. a. Häußling 2014, S. 381-400). Technokratische Sachzwangbehauptungen sollen im Ergebnis der Forschungen des Promotionsprogramms mit dem Aufzeigen von Handlungs- und Gestaltungsalternativen beantwortet werden können. Damit akzeptiert das Promotionsprogramm die gegenwärtig gerade an ‚Digitalisierung‘ sich knüpfenden Imaginationen und Rhetoriken der Wettbewerbsfähigkeit und des (technischen) Fortschritts nicht als Disposition für die eigenen Forschungen, sondern stellt diese Imaginationen und Rhetoriken selbst zur Disposition.
Somit handelt es sich bei der reflexiven Perspektive der Forschungen des Promotionsprogramms weder um einen neutralen noch um einen einseitig parteiischen, sondern um einen spezifisch engagierten Blickwinkel: Die Untersuchungen sollen sich von einer „komplex[er]en Innenposition“ (Boltanski 2010, S. 149) ‚auf der Grenze‘ zwischen Forschung und Beforschtem bzw. Beforschten mit ihrer je eigenen, theoretisch informierten Stimme in gegenwärtige Debatten um die Möglichkeiten einer (Mit-)Gestaltung der digitalen Transformation einbringen, welche die vielfältig bedingten Interessen, Bedürfnisse und Fähigkeiten der Leute berücksichtigt (vgl. Aulenbacher et al. 2017; Scheffer/Schmidt 2013; Gans 2010; Burawoy 2005). Insgesamt zielt das Promotionsprogramm damit auf die empirisch begründete Erarbeitung einer kritischen Theorie digitaler Transformation, die sich durch Bescheidenheit auszeichnet. Sie feiert weder, noch verteufelt sie, sondern sie „interessiert sich dafür, welche Digitalisierung wir inwiefern wollen (können) – und welche nicht.“ (Hochmann 2018, S. 39)
Dieser reflexive Zugang sieht – je nach Anlage des Promotionsprojekts – auch die Option vor, dass die Forscher*innen im Forschungsprozess mit den Akteuren und Interessengruppen des jeweiligen Feldes in einen gemeinsamen Diskurs eintreten, in dem Fragestellungen formuliert werden und neues Wissen produziert, diskutiert, eingeschätzt, bewertet und verbreitet wird (vgl. Alkemeyer/
Buschmann/Sulmowski 2019). Zu den Interessengruppen können Benutzergemeinschaften der digitalen Community, Repräsentant*innen von Politik und Medien, anerkannte Expert*innen oder Wirtschaftsunternehmen und Bildungseinrichtungen gehören, die ihre je eigenen (Zukunfts-)Vorstellungen einer digitalen Transformation der Gesellschaft entwerfen und auf deren Grundlage die Gestaltung der gesellschaftlichen Gegenwart orientieren und legitimieren. Ziel dieses Vorgehens ist es, ein produktives Zusammenspiel zwischen akademischen und nicht-akademischen Wissensformen so zu organisieren, dass alternative Möglichkeitsräume des gesellschaftlichen Umgangs mit ‚Digitalisierung‘ sichtbar, enthusiastische wie defätistische Narrative einschätzbar und technizistische Engführungen der Digitalisierungsdebatte etwa auf Diskurse und Praktiken der Vermittlung ‚digitaler Kompetenz‘ vermieden werden.
Leitfragen und theoretische Orientierung
Die Leitfrage des Promotionsprogramms richtet sich auf die Gestaltungs- und somit Realitätsmacht der vielfältigen Gestalten einer digitalen Zukunft bereits im Hier und Jetzt einer historisch kontingenten Gegenwart (vgl. bspw. Staab 2016; Klauß/Mierke 2017). Sie berücksichtigt damit, dass ‚Digitalisierung‘ derzeit zu den umstrittensten, evokativsten und einflussreichsten Auslösern, Katalysatoren und Kristallisationskernen kollektiver Imaginationen und Affekte gehört, und dies nicht nur regional, sondern auch global. ‚Digitalisierung‘ ist, so gesehen, nicht nur ein technischer, sondern auch ein gesellschaftlicher Prozess. Sie betrifft die sogenannten gesellschaftlichen „Basisprozesse“ (Dipper 2012) – das System und die Praktiken der materiellen Reproduktion durch Wirtschaft, Technologie, Berufssystem usw. – ebenso wie die kollektive Wahrnehmung bzw. jenes „selbstgesponnene Bedeutungsgewebe“ (Geertz 1983, S. 9), das in den jüngeren Kultur- und Gesellschaftswissenschaften als ‚Kultur‘ bezeichnet wird. Sollen mögliche reale Folgen der Digitalisierung offengelegt und eingeschätzt werden, genügt es mithin nicht, ausschließlich das in Technikphilosophie und -soziologie etablierte Instrument einer ‚harten‘ Technikfolgenabschätzung (vgl. z. B. Häußling 2014, S. 361-372; Grunwald 2010) zu bemühen. Denn diese kommt meist zu spät, weil ihr ständig ihr Gegenstand entwischt. Sie vernachlässigt, anders gesagt, die temporale Ordnung der technischen, ökonomischen, politischen und gesellschaftlichen Dynamik der Moderne, insofern sie den diese Dynamik befeuernden Erwartungen verschiedener sozialer Akteure und Interessengruppen zu wenig Gewicht beimisst. Erwartungen sind unweigerlich fiktional, „beruhen sie doch auf Imaginationen der Zukunft [...], und nicht auf der Kenntnis der Zukunft [...] als empirisches Objekt“ (Beckert 2018, S. 113).
Die Dynamik der modernen Gesellschaft verständlich zu machen, setzt mithin voraus, sich mit fiktionalen Erwartungen zu beschäftigen – in unserem Falle mit fiktionalen Erwartungen der Digitalisierung. Diese artikulieren sich u. a. in wissenschaftlichen, ökonomischen, künstlerischen, populärkulturellen und politischen Imaginationen, Narrativen und Entwürfen davon, was die Zukunft bringen wird: Sie fließen ein in politische und wissenschaftliche Programme, in Curricula von Schulen und Hochschulen, in Bildungsinitiativen und Gesetzestexte, sie nehmen eine oft besonders eindringliche Gestalt an in Science Fiction-Romanen, -Filmen und -Fernsehserien (wie, schon klassisch, in „The Matrix“ [1999], oder in Spielbergs „Ready Player One“ [2018]), in Form von Cyborg-Charakteren in Computerspielen (wie z.B. in „Deus Ex: Human Revolution“[2011]; vgl. u. a. Horn 2014), gehen in Fitness-Apps ein, bedingen Beschäftigungsverhältnisse oder materialisieren sich in technischen Innovationen und Infrastrukturen. Damit knüpft das Promotionsprogramm in Teilaspekten durchaus an die techniksoziologische Leitbildforschung der späten 1980er Jahre an (Dierkes/Hoffmann/Marz 1992; Degele 2002), sucht jedoch auch deren Beschränkungen zu überwinden. Dazu nimmt es erstens die spezifische temporale Ordnung einer an fiktionalen Zukunftsentwürfen orientierten Gegenwartsgestaltung ernst, spürt zweitens genealogisch-historiografisch der Provenienz der mit ‚Digitalisierung‘ verknüpften Zukunftsentwürfe aus disparaten Herkünften (Wissenschaft, Wirtschaft, Populärkultur, Science Fiction usw.) nach, entschlüsselt drittens die Synthese disparater ‚Elemente‘ zu sinnlich-sinnhaften Gestalten und nimmt viertens soziologisch die handfesten gesellschaftlichen und politischen Effekte dieser Zukunftsgestalten in gegenwärtigen gesellschaftlichen Konstellationen in den Blick (vgl. Elder-Vass 2018; Zuboff 2018; Betancourt 2015).
Dieses Forschungsprogramm ist in seinem Kern kulturtheoretisch fundiert. Zwar ist ‚Kultur‘ kategorial erst in der neuzeitlich-modernen Gesellschaft institutionalisiert worden, als eine Dimension menschlicher Lebenspraxis ist das Kulturelle jedoch allgegenwärtig. Wir verstehen darunter, in der gebotenen Kürze, jene Dimension des Zusammenlebens, in der Menschen ihr Handeln deuten, auslegen und sinnvoll machen. Von der sozialen bzw. sozialstrukturellen Dimension ist die kulturelle Dimension insofern nur analytisch zu trennen, als beide Dimensionen empirisch ko-konstitutiv sind: Die materiellen Strukturen des gesellschaftlichen Zusammenlebens, des Mensch-Natur- und des Mensch-Maschine-Verhältnisses sind ohne Sinn ebenso wenig zu haben, wie Sinn ohne materielle Institutionen, Apparate und körperlich-sinnliche Praktiken (vgl. Alkemeyer 2003, S. 2777-2780).
Um die spezifische Materialität von Imaginationen, Entwürfen, Bedeutungen und Gestalten einer digitalen Zukunft einzufangen, profilieren wir diesen grundlegenden kulturtheoretischen Zugang weiterhin praxistheoretisch. Wie u. a. bereits Althusser hervorgehoben hat, ist die Materialität von (imaginären oder ideologischen) Bedeutungen zwar nicht auf gleiche Weise dingfest zu machen wie die Materialität „eines Pflastersteins oder eines Gewehrs“, aber es handelt sich insofern doch um eine Materialität, als gesellschaftlich relevante Vorstellungen und Bedeutungen stets in Institutionen bzw. in einen „Apparat und dessen Praxis oder dessen Praxen“ eingeschrieben sind (Althusser 1977, S. 136f., zitiert nach Djoufack 2010, S. 43). Unter einem, von einigen Antragssteller*innen des Promotionsprogramms bereits in unterschiedlichen Forschungszusammenhängen erfolgreich erprobten praxistheoretischen Blickwinkel (vgl. u. a. Alkemeyer/Budde/Freist 2013; Alkemeyer/Schürmann/Volbers 2015; Alkemeyer/Buschmann 2017; Reckwitz 2003; Schmidt 2012) sind die Selbstauslegungen einer Gesellschaft mithin keine ideelle Zutat oder bloßer Überbau zu den materiellen „Basisprozessen“ (Dipper 2012), sondern eine eigene materielle Kraft, welche die Wahrnehmung affiziert, orientiert, formiert und so realitätskonstituierend wirkt. Dies betrifft die Welt- und die Selbstverhältnisse der Menschen, ihre Beziehungen zur Umwelt wie zu sich selbst.
Gesellschaftliche Selbstauslegungen materialisieren und fixieren sich in der Sprache und in Bildern, in Gebäuden und Artefakten, in Gewohnheiten und Institutionen, in sprachlichen und nichtsprachlichen Praktiken z. B. des Arbeitens und Spielens, des Lehrens und Lernens. Mit den Diskursen und Praktiken, in denen Entwürfe einer digitalen Zukunft und die damit einhergehenden Einstellungen und Vorannahmen, Ängste und Wünsche, Befürchtungen und Hoffnungen zum Ausdruck kommen, sollen zudem die geschichtlich-gesellschaftlichen Konstellationen in den Blick genommen werden, in denen die Imaginationen einer digitalen Vernetzung von Menschen und Dingen Gestalt annehmen, also in besonderen Gestalten gebündelt und verdichtet werden. Gleichzeitig soll nach den gesellschaftlichen und politischen Effekten bereits in der Gegenwart gefragt werden, die durch die Etablierung bestimmter Gestalten einer digitalen Zukunft bedingt werden. Diesbezüglich interessieren beispielsweise die an Szenarien einer vernetzten Zukunft orientierten Vorstellungen digitaler Räumlichkeit als Cyberspace oder Virtual Reality sowie darauf bezogene techno-liberale Pionierrhetoriken und Grenzmythologien, welche die Erschließung dieses Raums anleiten und diesen zugleich hervorbringen (vgl. Willim 2017).
Um reine ‚Hirngespinste‘ von potentiell realitätsmächtigen fiktionalen Zukunftsgestalten unterscheiden zu können, soll dabei auch dem ‚Realismus‘ dieser Entwürfe nachgegangen werden, denn ohne Ankerpunkte in der Erfahrungswirklichkeit wird Realitätsmacht nicht zu haben sein. Ein prägnantes Beispiel für in diesem Sinne ‚realistische‘ Zukunftserzählungen mögen die Romane von Marc Elsberg sein, etwa „Black Out“ von 2012, der die katastrophalen Auswirkungen eines europaweiten Stromausfalls in einer digital vernetzten Welt ausmalt. Gleichzeitig zeigt dieses Beispiel die auf Verstärkereffekten beruhende Wirkmacht, die in einer bestimmten historisch-gesellschaftlichen Konstellation von den Resonanzen zwischen verschiedenen Zukunftsentwürfen und deren Autor*innen ausgehen können: Elsbergs offenbar sorgfältig recherchierte Fiktion interagierte mit einer großangelegten wissenschaftlichen Studie über die „Gefährdung und Verletzbarkeit moderner Gesellschaften – am Beispiel eines großräumigen und langandauernden Ausfalls der Stromversorgung“, die im Büro für Technikfolgen-Abschätzung des Deutschen Bundestags entstanden war.
Die übergeordnete Leitfrage des Promotionsprogramms lässt sich nun in verschiedenen Dimensionen konkretisieren, spezifizieren und differenzieren:
In den Promotionsprojekten soll erstens der Vielfalt der Entwürfe und Gestalten einer digitalen Zukunft in verschiedenen gesellschaftlichen Feldern – Wirtschaft, Erwerbsarbeit, Politik, Bildung, Literatur, Kunst, populäre Kultur, Sport usw. – nachgegangen werden. Mit Bourdieu (vgl. u. a. Bourdieu 1996) gehen wir dabei von der relativen Autonomie der verschiedenen gesellschaftlichen Felder aus: von ihrer Eigenlogik und Eigenzeitlichkeit, ihren Regeln und Konventionen, ihren Einsätzen, Interessen und illusiones. So geraten die feldspezifischen Eigenheiten, Formatierungen und Bedingtheiten der Bilder einer digitalen Zukunft beispielsweise durch etablierte narrative Strukturen und Kodes in den Fokus, und damit auch die Frage, inwiefern und wie sich ein allgemeines gesellschaftliches Imaginäres einer digitalen Zukunft jeweils feldspezifisch gebrochen zeigt. Um dem Ziel der ‚Kartierung‘ der Diversität von Zukunftsentwürfen angemessen Rechnung zu tragen, werden neben unterschiedlichen gesellschaftlichen Feldern in einigen Promotionsprojekten auch verschiedene regionale oder nationale Kontexte in den Blick genommen.
Die Promotionsprojekte gehen zweitens der Positionalität und damit der Interessengebundenheit und Relationalität der Entwürfe einer digitalen Zukunft nach. Stets hängt die konkrete Ausgestaltung eines solchen Entwurfs sowie der aus diesem abgeleiteten (technologischen, politischen, wirtschaftlichen) Programme und Maßnahmen von der Position ab, die ein diesen Entwurf artikulierender sozialer Akteur im sozialen Raum der Gesellschaft bzw. in einem sozialen Feld einnimmt. Soziologisch betrachtet bedingen gesellschaftliche Positionen objektive Interessen, die von denen verfolgt werden, die diese Positionen einnehmen (vgl. u. a. Bourdieu 1985). Mit den Interessen wiederum hängen jeweilige (Be-)Wertungen und Gemütslagen zusammen: Während sich die einen Profite (durch das Einsparen von Personalkosten in digitalisierter Produktion, ein Big Data-gestütztes Erstellen von Nutzer*innenprofilen usw.) versprechen, stehen für die anderen Arbeitsplätze oder die Privatsphäre auf dem Spiel usw. Entsprechend unterscheiden sich die Bedeutungen und Einschätzungen, die Affekte und Gefühle, die sich auf den verschiedenen Positionen mit der digitalen Transformation verbinden. Zu untersuchen ist somit auch die Art und Weise der Beziehungen verschiedener (feldspezifischer) Entwürfe zueinander: Stehen sie sich antagonistisch gegenüber oder resonieren sie miteinander? Inwiefern verändert sich dabei das gesellschaftliche Postionengefüge und entstehen neue Interessenkonstellationen? Welche Sprecher*innenpositionen bringt die im Zeichen der Digitalisierung sich vollziehende Neuvermessung des Diskurses über Gesellschaft hervor?
Dies führt drittens zu der Frage danach, welche Entwürfe einer digitalen Zukunft sich in den gesellschaftlichen Auseinandersetzungen um Macht, Einfluss und öffentliche Aufmerksamkeit durchsetzen und Überzeugungskraft erlangen, sich zu prägnanten, Evidenz erzeugenden Gestalten verdichten und welche Faktoren dafür verantwortlich sind (neben der sozialen Position der entwerfenden Akteure bspw. die Medialität des Entwurfs, das kulturelle Genre, in dem der Entwurf artikuliert wird, seine Legitimierung durch wissenschaftliche Expertise usw.). Diese Frage ist nicht zuletzt deshalb von Relevanz, weil es sehr unterschiedliche, zum Teil gravierende Konsequenzen nicht nur für die Technikentwicklung, sondern auch für das politische und wirtschaftliche Handeln und in der Folge für die Sozialstruktur und den sozialen Zusammenhalt haben kann, welche Zukunftsgestalt sich zu einem historischen Zeitpunkt durchsetzt und das Handeln relevanter Akteure der Digitalisierung orientiert.
Die (potentielle) Wirkmacht einer imaginierten Zukunftsgestalt kann viertens nur dann erschlossen werden, wenn genealogisch der Frage nachgegangen wird, aus welchen (Sinn-)Elementen unterschiedlicher Herkunft, Materialität und Medialität sie sich zusammensetzt und wie sich diese Elemente zu einer evidenten Gestalt verdichten. In Abgrenzung von einem Denken in Kontinuitäten und Diskontinuitäten richtet die genealogische Methode das Forschungsinteresse auf die kontingente, ereignishafte Begegnung verschiedener materieller und symbolischer Elemente und Kräfte, aus der der Sinn einer jeden Realität allererst entsteht (vgl. Foucault 1971/2002; Althusser 2010): Welche älteren und neuen Wissensformen und Narrative verdichten sich in gegenwärtig zirkulierenden Entwürfen einer digitalen Zukunft? Und welche Wanderungsbewegungen, Adaptionen und Re-Artikulationen von kulturellen Mustern und Leitmotiven lassen sich in einer genealogischen Perspektive beobachten, etwa von einem Roman in eine wissenschaftliche Studie und umgekehrt, wie oben am Beispiel von Elsbergs „Black Out“ angedeutet? Genealogisch gilt das Augenmerk somit immer auch den intertextuellen und intermedialen Verstrebungen der analysierten Zukunftsentwürfe und -gestalten sowie daraus resultierenden Wirklichkeitseffekten. Vor diesem Hintergrund soll in den Dissertationen an Fallbespielen u. a. nachgezeichnet werden, auf welchen Rezeptions- und Reisewegen und wie bestimmte imaginierte Zukünfte der Digitalisierung beispielsweise in auf den Bildungssektor bezogene Realpolitiken, in Gesetzestexte, Rechtsprechung oder die Forderung von ‚Usern‘ eingehen, ihre Ansprüche auf eine selbstbestimmte Nutzung der ihnen von globalen Tech-Unternehmen abgeschöpften digitalen Daten rechtlich zu fixieren. Konkret wären in solchen Fallstudien Reisewege einzelner fiktionaler Erwartungen nachzuverfolgen und zu rekonstruieren, welcher soziale Akteur wann, wie und unter welchen Umständen auf einen bestimmten Zukunftsentwurf zurückgreift, um dadurch seinem positionsgebundenen Interesse im öffentlichen Raum Gehör und Plausibilität zu verschaffen.
Zielsetzungen
Ein mit der Ausbildung exzellenter Nachwuchswissenschaftler*innen für die Wissenschaft und andere Berufsfelder korrespondierendes übergreifendes wissenschaftliches Ziel der im Promotionsprogramm gebündelten Einzelstudien besteht in der Erarbeitung einer Typologie der in unterschiedlichen Feldern und kulturellen Genres an ‚Digitalisierung‘ sich knüpfenden fiktionalen Erwartungen, im Aufdecken ihrer (feld- und genrespezifischen) Entstehungs- und Funktionsweisen sowie in der Rekonstruktion ihrer Reichweite und Wirkmacht. Im interdisziplinären Dialog der verschiedenen Perspektiven auf diese Prozesse und Phänomene soll dem übergeordneten gesellschaftspolitischen Anliegen des Programms zugearbeitet werden, eine an den Leitwerten des gesellschaftlichen Zusammenhalts, der gesellschaftlichen Teilhabe und der kollektiven Selbstbestimmung orientierte Gestaltung der digitalen Transformation zu ermöglichen. Der gesellschaftspolitische Anspruch des Promotionsprogramms orientiert sich somit am Leitbild einer critical digital literacy, der Bildung einer Sensibilität für die den Prozess der digitalen Transformation bedingenden Kräfte sowie für die Effekte imaginierter Zukunftsgestalten im Hier und Jetzt. Es geht dem Programm also nicht vordringlich um den Erwerb von Kompetenzen, die es einer Person ermöglichen, digitale Werkzeuge und Medien gekonnt zu nutzen und zu verstehen, um sich in digitalen Umgebungen bewegen zu können, sondern vielmehr um die Befähigung zu einer kritischen Distanznahme insbesondere hinsichtlich der eigenen Involviertheit in digitale Praktiken – mit der Aussicht, das eigene digitale Handeln als eine Form der Selbst- und Gesellschaftsveränderung und damit des politischen Engagements zu begreifen (Pangrazio 2016, S. 172). Denn ohne eine solche kritisch-reflexive Sensibilisierung auf der Basis der Erforschung, rationalen Vermittlung und Kontrolle der disparaten Perspektiven und Interessen, die sich in unterschiedlichen Entwürfen, Szenarien und Gestalten der digitalen Zukunft artikulieren und verdichten, droht der gesellschaftliche Zusammenhalt moderner Gesellschaften zu erodieren.
Mit der Ausbildung exzellenter Nachwuchswissenschaftler*innen, deren Arbeiten zu dieser Sensibilisierung beitragen, und die durch fachliche und überfachliche Qualifizierung für Karrierewege in unterschiedlichen Berufsfeldern vorbereitet werden, nimmt das Promotionsprogramm also zugleich seine Verantwortung in der und für die (Mit-)Gestaltung gesellschaftlicher Transformationsprozesse wahr. Es positioniert sich offensiv im Kontext einer öffentlichen Debatte darüber, wie eine demokratische Kontrolle und Gestaltung der digitalen Transformation angesichts der von technischen Möglichkeiten und disparaten Interessen entfachten Kräfte und Konfliktdynamiken sowie unter Berücksichtigung der relativ autonomen Strukturlogiken der unterschiedlichen sozialen Felder gelingen kann. Damit behandelt das Promotionsprogramm eines der weltweit drängendsten Bezugsprobleme gesellschaftlichen und politischen Handelns in der Gegenwart.
Zusätzlich zur Einsicht in die praktische Realitätsmacht von Zukunftsentwürfen, die erst eine rationale demokratische (Mit-)Gestaltung der digitalen Transformation möglich macht, kann das Forschungsprogramm des Promotionsprogramms mit seinem Ansatz zudem einen sozialtheoretischen Mehrwert erzielen, indem es imaginierte Zukünfte als eine transformative Kraft in den Blick nimmt, ohne die gegenwärtige Entscheidungen und Gestaltungsprozesse nicht zu verstehen sind. Von besonderer Relevanz für das Promotionsprogramms ist also auch die innovative Frage nach der Bedeutung und Funktion nicht nur von Traditionen oder „Traumruinen“ (Walter Benjamin), die einer wirklichen oder erfundenen Vergangenheit entstammen, sondern auch von gegenwartsdiagnostisch antizipierten fiktionalen Erwartungen für die Gestaltung gegenwärtiger gesellschaftlicher Realität.
Die Ergebnisse des Programms werden nicht nur in den entstehenden Dissertationen gesichert und kommuniziert, sondern auch über eine regelmäßige Dokumentation im WiZeGG-Blog (s. u.) sowie ein bis zwei interdisziplinär angelegte Buchpublikationen. Diese könnten im theoretisch und thematisch einschlägigen transcript-Verlag erscheinen, mit dem bereits eine Vielzahl von Kooperationen existiert.
Aufbau und Struktur des Programms
Die Dissertationen bearbeiten die Leitfrage des Programms nach der Gestaltungskraft der Entwürfe und Gestalten einer digitalen Zukunft unter Berücksichtigung der genannten Dimensionen ihrer Vielfalt, Entstehung, Relationalität und Positionalität, Konkurrenz sowie gegenwärtigen Wirkungen. Aus diesen Dimensionen lassen sich unterschiedliche Beobachtungsschwerpunkte ableiten. Diese können empirisch nicht scharf getrennt werden, bieten aber die Möglichkeit, die Untersuchungsinteressen möglicher Promotionsprojekte zu orientieren.
Beobachtungsschwerpunkt „Narrativität & Medialität“: Die hier angesiedelten Projekte fokussieren die narrative und mediale Herstellung von Entwürfen einer digitalen Zukunft. Sie fragen danach, auf welche Art und Weise und in welchen Medien Zukünfte entworfen und gestaltet werden; und sie untersuchen die Formen, Muster, Metaphern und Topoi, die narrativen Verfahren und Stilmittel dieser Entwürfe. Sie interessieren sich also für die medien- und genrespezifischen ästhetischen Verfahren des Entwerfens, Gestaltens und Plausibilisierens einer digitalen Zukunft, die Techniken, die ihnen Evidenz und Überzeugungskraft verleihen, und die technologischen Bedingungen ihrer Herstellung und Verbreitung. Dabei gehen sie davon aus, dass die Entwürfe einer digitalen Zukunft eine wahrnehmungslenkende Funktion haben, auf diese Weise den Blick auf die Gegenwart (mit) prägen und so beispielsweise zur Legimitation von als notwendig erachteten Interventionen zur Verhinderung oder Begünstigung bestimmter zukünftiger Entwicklungen beitragen.
Beobachtungsschwerpunkt „Konstellationen“: Projekte in diesem Bereich fragen schwerpunktmäßig nach den Prozessen der Entstehung von Entwürfen einer digitalen Zukunft in verschiedenen sozialen und kulturellen Feldern. Ausgehend von der Annahme, dass solche Entwürfe im (reaktiven) Zusammenspiel unterschiedlicher Akteure (Journalist*innen, Autor*innen Wissenschaftler*innen, Forschungsinstitutionen usw.) hervorgebracht und unter bestimmten – medialen, technologischen, ökonomischen, politischen – Bedingungen wirkmächtig werden (können), gehen die Projekte vor allem der Frage nach, wer an der Verfertigung bestimmter Entwürfe der Zukunft beteiligt ist, welche (feld-spezifischen) Positionen sich in diesen Entwürfen artikulieren, wie sich diese Gehör verschaffen und (gegenüber anderen Entwürfen) als Zukunftsgestalten durchsetzen, und welche alternativen Entwürfe ungehört bleiben bzw. dethematisiert werden. In der Auseinandersetzung mit den Konstellationen der Hervorbringung und Positionierung von Zukunftsentwürfen wird zudem danach gefragt, wem überhaupt die Kompetenz und Autorität zugesprochen wird, Zukunftsentwürfe zu artikulieren, und wen diese Entwürfe mit welchen Zielsetzungen adressieren (sollen).
Beobachtungsschwerpunkt „Effekte“: Projekte dieses Bereichs untersuchen die Auswirkungen der Entwürfe einer digitalen Zukunft auf das Hier und Jetzt. Sie fragen nach den Bedingungen, unter denen Zukunftsentwürfe handlungsleitende Impulse entfalten, welcher Art diese Impulse sind und welche Richtung sie dem (intervenierenden, planenden usw.) Handeln geben. Sie richten ihren Blick somit auf die Effekte von Zukunftsentwürfen und -gestalten in verschiedenen Feldern wie Bildung, Wirtschaft, Politik oder Wissenschaft, in denen Vorstellungen einer digitalen Zukunft Anlass zur Einflussnahme auf den Status Quo durch oft als ‚alternativlos‘ erscheinende Maßnahmen, Politiken und Programme geben. Darüber hinaus werden in diesem Bereich die durch Zukunftsgestalten bewirkten Reformulierungen und Umdeutungen von Vorstellungen des Sozialen, von Urheberschaft, demokratischer Teilhabe usw. untersucht.
Im Dialog von Promovend*innen und Antragssteller*innen werden die Untersuchungen unterschiedlicher Gestalten einer digitalen Zukunft, der Bedingungen ihrer Verfertigung und ihrer (potentiellen) Wirkung mit dem genannten Ziel der Typologisierung aufeinander bezogen.