Die Vorurteile gegenüber Deutschen sind eine Aufgabe der Niederländer selbst
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- EXPO 2000 - Das Oldenburger Entmüdungskonzept
- Die Werksausgabe Louise Farrenc
- Die Vorurteile gegenüber Deutschen sind eine Aufgabe der Niederländer selbst
- Die soziale Lage behinderter Frauen
- Die Polizey und die Mütter
- Nachrichten der Universitätsgesellschaft
- Notizen aus der Universität
- Summaries
Die Vorurteile gegenüber Deutschen sind eine Aufgabe der Niederländer selbst
von Rüdiger Meyenberg
Kaum ein europäisches Land leistet sich eine so intensive wissenschaftliche Beobachtung der Jugend wie Deutschland. Das hat in erster Linie historische Gründe, die insbesondere im Übergang vom Dritten Reich in die parlamentarische Demokratie der Bundesrepublik zu suchen sind. Die "Shell-Studien", seit den 50er Jahren in Auftrag gegeben, sowie die Untersuchungen der Landeszentralen für politische Bildung zu den politischen Kenntnissen, Werthaltungen und Einstellungen von Jugendlichen sind hierfür beredte Beispiele.
Vergleichbare Untersuchungen in den anderen (west)europäischen Ländern sind eher rar, und wenn vorhanden, beziehen sie sich auf Teilaspekte jugendlichen Denkens und Verhaltens (z.B. Konsumverhalten); erst in den mittel- und osteuropäischen Ländern wächst unter WissenschaftlerInnen das Bedürfnis, die Wirkung der Demokratisierung ihrer politischen Systeme auf das demokratische Bewußtsein von Jugendlichen auszuloten.
Da überrascht in diesen Tagen eine Publikation in den Niederlanden, die sich mit dem Deutschlandbild in den Köpfen junger Niederländer befaßt. Henk Dekker, Rob Aspeslagh und Manuela du Bois-Reymond (Duitsland in Beeld - Gemengde gevoelens blootgelegd. Swets & Zeitlinger Publishers, Lisse 1997) legen eine umfangreiche Untersuchung darüber vor, welche Kenntnisse und Einstellungen Jugendliche im Alter von 14 bzw. 15 bis 19 Jahren vom Charakter der Deutschen besitzen. Die Autoren referieren drei Untersuchungen (zwei empirische Befragungen des "Niederländischen Instituts für internationale Beziehungen - Clingendael" sowie eine qualitative Untersuchung), die in den Jahren 1993 bis 1995 bei ca. 1.800 Schülerinnen und Schülern durchgeführt wurden und für erhebliches Aufsehen bei Politik und Medien sorgten. Unter anderem versuchte die Deutsche Botschaft in Den Haag, Einfluß auf den Zeitpunkt der Veröffentlichung zu nehmen, um Bundespräsident Herzog, der in den Niederlanden im Oktober 1995 einen Staatsbesuch absolvierte, Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben. Als dann die eher ernüchternden, d.h. negativen Einstellungen bekannt wurden, spielte man von deutscher Seite die Ergebnisse herunter und verwies auf die guten politischen und wirtschaftlichen Beziehungen.
Im Kern nämlich - so die Ergebnisse der ersten Untersuchung (Clingendael 1993) - verfügen junge Niederländer über geringe Kenntnisse von Deutschland und haben darüber hinaus eine schlechte Meinung von den Deutschen. Von allen EU-Ländern genießt dieses Land die geringste Wertschätzung; mit Deutschland wird Rechtsextremismus, 2. Weltkrieg, Gewaltanwendungen gegenüber Asylanten assoziiert; insbesondere seien die Deutschen überwiegend kriegstreibend und wollten die Welt beherrschen; ihre Haltung sei grundlegend arrogant.
Die Einstellungen werden auch in der zweiten Untersuchung, die 1995 von der Rijksuniversiteit Leiden durchgeführt wurde, erhärtet; Deutschland sei nicht "friedensliebend" und es erhielt nur eine geringe Zustimmung bei "freundlich, gemütlich, tolerant". Differenzierter sind dann schon die Ergebnisse der dritten Untersuchung von Manuela du Bois-Reymond, die sich mit Kindern im Alter von 11 bis 13 Jahren befaßt. Um ihre Vorurteile und gegebenenfalls Stereotypen analysieren zu können, sollte diese Gruppe (58 Teilnehmer) einen Aufsatz über die Frage anfertigen: " Beschreibe ein englisches, belgisches und deutsches Kind Deines Alters. Mit welchem möchtest Du am liebsten befreundet sein?" Auch hier überwiegt die skeptische Grundhaltung gegenüber Deutschen, wenngleich stärker auch die Normalität mit ihnen zum Ausdruck kommt: "Deutsche Kinder sind angenehm und versuchen sich gegenüber Ausländern so angenehm wie möglich zu verhalten, um den schwarzen Krieg Hitlers wieder gut zu machen. So dachte ich darüber. Aber nun weiß ich, daß wir alle gleich sind", so ein 12jähriger Junge; oder ein anderer: "Die deutsche Sprache finde ich nicht schön, aber vielleicht sind sie doch angenehm". Hier mischen sich überlieferte Vorurteile mit der Frage, ob Menschen von sich aus schlecht, intolerant oder gar herrschsüchtig sein können.
Eine vierte Untersuchung, die das Clingendael-Institut im November 1997 veröffentlichte, bestätigte im wesentlichen die negativen Grundhaltungen gegenüber den Deutschen. Henk Dekker, Rob Aspeslagh und Bastian Winkel (Burenverdriet - Attituden ten aanzien van de lidstaten van de Europese Unie - 's Gravenhage, 1997) wiederholen ihre schon 1993 und 1995 durchgeführten Befragungen und bleiben bei ihrer Aussage, daß junge Niederländer schlecht über Deutschland und Deutsche urteilen. Alle Untersuchungen haben in den Niederlanden, aber auch in Deutschland ein lebhaftes Echo vor allem in den Medien ausgelöst und Fragen nach den Ursachen aufgeworfen (auf die dritte von du Bois-Reymond wurde weitgehend nicht eingegangen). Dabei blieb aber völlig unberücksichtigt, ob die gezogene Stichprobe überhaupt für Jugendliche repräsentativ ist, und ob die Fragen wissenschaftlich haltbar sind; ich selbst habe große Bedenken, die ich in folgenden Thesen zusammenfasse.
Zunächst aber liegt eine große Schwäche der Untersuchungen in der isolierten Fragestellung; sie reduziert damit eine Komplexität auf einen Aspekt, der erst verständlich wird, wenn er in ein Ganzes eingebettet ist. Offensichtlich wollen die Wissenschaftler doch das politische Bewußtsein von Jugendlichen analysieren und dabei auch Aspekte von Haltungen und Einstellungen gegenüber Deutschland berücksichtigen. Wie ist aber z.B. das Interesse der Befragten an Politik, an gesellschaftlichen Ereignissen, wie ihre Werteorientierung, die ja eine wichtige Grundlage menschlichen Urteilens und Verhaltens ist? Wie urteilen sie über (damals) aktuelle Ereignisse, Golfkrieg, Bürgerkrieg in Jugoslawien, in denen auch holländisches Militär massiv involviert war? Wie über das Auftreten von neofaschistischen Gruppen in den Niederlanden? Oder welche Aufgabe/Funktion hat der Geschichtsunterricht in den Augen der befragten Schülerinnenund Schülern? Doch solche Fragen und Antworten suchen wir vergeblich. Weiterhin:
• Die gezogenen Stichproben sind für Jugendliche nicht repräsentativ. Fast alle internationalen Jugenduntersuchungen beziehen in ihr Sample 13 bis 25jährige, teilweise auch 29jährige ein, die in den Altersgruppen entsprechend der Gesamtbevölkerung vertreten sein müssen. Bei den holländischen Untersuchungen (erste, zweite und vierte Untersuchung) sind über 70 % der Befragten nicht älter als 16 Jahre; ein Vergleich zur Gesamtbevölkerung fehlt in der zweiten und vierten Untersuchung. Gänzlich fehlen Auswertungen nach Altersgruppen, die, wenn auch nicht zwingend, zu einem besserem Verständnis und größerer Differenziertheit der Studienergebnisse beigetragen hätten.
• Es macht keinen Sinn, Schülerinnen und Schüler über Einstellungen zu Ländern und Menschen zu befragen, die sie weder bereist, noch persönlich "erfahren" haben. Worin besteht der qualitative Wert einer Aussage eines Jugendlichen, der die Deutschen als intolerant bezeichnet, aber weder das Land kennt, noch mit Deutschen je in Kontakt gekommen ist?
• Die drei niederländischen Hauptuntersuchungen sind quantitative Studien, denen die qualitativen Seite gänzlich fehlt. Einzelne Interviews oder biographische Darstellungen wären notwendige methodologische Ergänzungen gewesen und hätten wahrscheinlich so manche Aussage relativiert.
• Die niederländischen Kollegen operieren teilweise mit normativen Suggestivfragen und Fragen, die völlig an der Sozialisationsentwicklung junger Menschen vorbeigehen und damit die Aussagekraft der Ergebnisse erheblich beeinträchtigen. Was bedeuten für 12 bis 15jährige Kategorien wie "demokratisch", "will die Welt beherrschen" oder "kriegslüstern"?
• Die Untersuchungsergebnisse werden teilweise nur referiert und zu wenig interpretiert; auch werden geringe "Fortschritte" in der Bewertung der Respondenten 1997 im Vergleich zu 1993 und 1995 kaum positiv bewertet. Warum werden z.B. Frankreich, Schweden, Portugal, Irland und auch Finnland bei den Befragten "schlechter" beurteilt als Deutschland? 1993 stand Deutschland noch auf dem vorletzten Platz der Sympathieskala, während es sich 1997 um vier Plätze verbessert hat. Wie ist das zu erklären?
• Die niederländischen Kollegen beziehen in die Interpretation ihrer Ergebnisse zu wenig andere Untersuchungen ihres Landes über Haltungen junger Niederländer über Deutschland und Deutsche ein. So kommt Jan Pieter van Oudenhoven in seiner Untersuchung "Nederlanders over Duitsers: Enkele empirische gegevens" (Rijksuniversiteit Groningen, 1997) zu folgenden Ergebnissen:
"Der Eindruck, den die sogenannte Clingendaelstudie geweckt hatte ... ist nicht (mehr) korrekt. 1. Einer in der Tat großen Gruppe von Niederländern, die ein negatives Deutschlandbild hat, steht eine beträchtliche Gruppe von Niederländern mit einem positiven Deutschlandbild gegenüber. 2. Jugendliche denken nicht negativer über Deutsche als andere Altersstufen; sie finden sich den Deutschen ähnlicher als ältere Mitbürger. 3. Im europäischen Vergleich kommen die Deutschen nicht auf den letzten Platz, sondern Italiener und Franzosen stehen noch weiter hinten."
• Last but not least wäre es bildungspolitisch klüger gewesen - gerade für ein Institut wie Clingendael, das sich ja mit den internationalen Beziehungen beschäftigt - die Frage zu klären, wie junge Menschen in den Niederlanden, die offensichtlich, und dies sei ja zugestanden, mit einseitigen Informationen über Deutschland und den Deutschen konfrontiert sind, auf ein zusammenwachsendes Europa vorbereitet werden können, als problematische Untersuchungsergebnisse zu fokussieren.
Was bleibt, sind die Konsequenzen aus den ja durchaus nicht immer falschen Ergebnissen der Studien. Insbesondere der vorherrschende Geschichtsunterricht, aber auch die "Gedenkkultur" der Niederländer scheinen aus der Sicht der Wissenschaftler Hauptursachen für diese Bilder von jungen Menschen zu sein.
Neben den ruhmreichen Zeiten im 16. und 17. Jahrhundert weist die niederländische Geschichte selbst auch Schattenseiten auf: Wo aber werden in den Schulen die Ausrottungsfeldzüge der Holländer gegen die Hottentotten in Südafrika und gegen südamerikanische Indianer behandelt? Welchen Stellenwert in den Geschichtsbüchern haben die Strafexpeditionen gegenüber vertragsbrüchigen Gewürzinseln, die Massaker während des indonesischen Unabhängigkeitskrieges? Warum verhängten die Niederlande in den 30er Jahren so scharfe Einwanderungsbestimmungen gegenüber Juden?
Um jedwedem Mißverständnis vorzubeugen: diese Fragen können und dürfen nicht entschuldigen, was Deutsche dem niederländischen Volk während der Herrschaft des Nationalsozialismus angetan haben; es bleibt ein schweres Verbrechen. Gleichwohl schärfen sie die Vorstellung: Bevor wir uns mit den - manchmal nicht unberechtigten - Vorwürfen gegenüber anderen Völkern beschäftigen, dürfen wir im eigenen Land bestimmte historisch/politische Fragen nicht tabuisieren. Nur wer seine eigene Vergangenheit kennt, weiß doch um die Gegenwart. Das gilt für jedes Land.
Wenn wir wissen, daß viele junge Niederländer Deutschland und die Deutschen nicht kennen, dann liegt es nahe, daß Begegnungen, gemeinsame Konferenzen, Jugendaustausch, das unbefangene Sich-Erleben, offeriert werden. Hier werden von den Autoren der Jugendstudien zwar einige konstruktive Vorschläge gemacht. Im Mittelpunkt stehen aber die Vorurteile.
Die Vorurteile, aber auch die politische Haltung gegenüber den Deutschen ist zunächst eine politische und pädagogische Aufgabe der Niederländer selbst; aber sie darf auch uns Deutsche nicht unberührt lassen, erhalten wir durch sie doch häufig einen Spiegel unserer selbst.
Der Autor
Prof. Dr. Rüdiger Meyenberg, Sozialwissenschaftler mit dem Schwerpunkt Didaktik der politischen Bildung am Institut für Politikwissenschaft II des Fachbereichs 3 Sozialwissenschaften, lehrt und forscht - nach Studium und Schuldienst - seit 1974 an der Universität Oldenburg. Er leitet die Arbeitsstellen Europäische Integration und politische Bildung (EURIPOL) sowie Schulische Sucht- und Drogenprävention.