Die Werksausgabe Louise Farrenc
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- Energie-Meteorologie
- EXPO 2000 - Das Oldenburger Entmüdungskonzept
- Die Werksausgabe Louise Farrenc
- Die Vorurteile gegenüber Deutschen sind eine Aufgabe der Niederländer selbst
- Die soziale Lage behinderter Frauen
- Die Polizey und die Mütter
- Nachrichten der Universitätsgesellschaft
- Notizen aus der Universität
- Summaries
Die Werksausgabe Louise Farrenc
Die Werkausgabe Louise Farrenc
von Christin Heitmann, Katharina Herwig und Freia Hoffmann
Louise Farrenc (1804 bis 1875) ist für die französische Musikgeschichte als Pianistin, Komponistin und Musikgelehrte in gleicher Weise bedeutsam. Mit ihrer Orchester- und Kammermusik vertritt sie eine in Paris um 1850 wenig gepflegte Musikrichtung. Um ihre Kompositionen für Konzertsaal und Musikforschung wieder zu erschließen, finanziert die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) an der Universität Oldenburg eine Werkedition.
Zwei Ereignisse soll Johannes Brahms in seinem Leben als "wahr-haft epochal" empfunden haben: die Gründung des deutschen Reiches 1871 und das Erscheinen der Bach-Gesamtausgabe (1851-1899). Obwohl Brahms damit sicher einen für ihn spezifischen Rückbezug auf die Musikgeschichte akzentuiert hat, kann seine Äußerung auch allgemein wieder ins Bewußtsein rufen, daß es bis in unser Jahrhundert hinein keineswegs selbstverständlich war, daß die großen Werke der Musikgeschichte oder auch weniger bekannte Kompositionen in gedruckten Ausgaben zugänglich waren. Erst mit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts begann in der Musikhistoriographie die große Zeit des Sichtens und der philologischen Erschließung dessen, was man damals als "kulturelles Erbe" verehrte und für bewahrenswert hielt. Mit erheblichem personellen und finanziellen Aufwand wurden vielbändige Gesamtausgaben begonnen: Beethoven und Palestrina (1862), Mendelssohn (1874), Chopin (1878), Schubert (1883), Schütz (1885). Auffallend ist aber auch, wie spät andere Komponisten in den Genuß eines solchen Forschungsaufwandes kamen: Monteverdi (1926), Tschaikowsky (1940), Vivaldi (1947), Telemann (1950) oder Gluck (1951).
Heute sind Laien daran gewöhnt, nahezu jegliche Musik nicht nur auf Tonträgern, sondern auch in gedruckten Noten vorzufinden, ob in Bibliotheken oder im Handel. MusikerInnen, die Kompositionen jenseits des gängigen Repertoires aufspüren, oder MusikwissenschaftlerInnen, die Spezialthemen recherchieren wollen, machen allerdings die Erfahrung, daß die Geschichte der musikalischen Edition eine bestimmte Auswahl von Musik begünstigt hat. Kriterien waren etwa das lange gepflegte Bild von den großen Meistern, ein begrenzter Kanon von in Konzertprogrammen und Opernspielplänen bevorzugten Werken, der Musikalienmarkt und die jeweiligen rezeptionsgeschichtlichen, nationalen und kulturpolitischen Akzentuierungen.
Zu den Musikrichtungen und -gattungen, die in diesem Sinn nicht "denkmalfähig" waren, gehört z. B. Gebrauchsmusik aller Art, etwa Tanz- und Unterhaltungsmusik, Theater- und Filmmusik. Aber auch die Kompositionen von Frauen suchen wir heute in den Bibliotheken meist vergeblich. Seit die Neue Frauenbewegung uns in dieser Hinsicht neugierig gemacht und die musikinteressierte Öffentlichkeit sensibilisiert hat, ist gewöhnlich ein Bewußtsein dafür vorhanden, daß Clara Schumann, Fanny Mendelssohn, Ethel Smyth oder auch Francesca Caccini, Barbara Strozzi, Marianne Martinez und Luise Adolpha Le Beau schöne und interessante Musik komponiert haben. Aber wo sind die entsprechenden Werkausgaben? Es gibt bisher eine einzige Komponistin, der eine kritische Gesamtausgabe gewidmet worden ist. Es handelt sich - und dies ist angesichts der qualitativen Dürftigkeit ihrer Musik fast ein Kuriosum - um Annette von Droste-Hülshoff, die neben ihrem literarischen Werk auch etwa 70 Lieder und Liedbearbeitungen, vier Chorsätze und Fragmente zu drei Singspielen hinterlassen hat. Daß die neue 27-bändige Droste-Ausgabe zwei Bände Musikalien enthält, ist ein gutes Beispiel für die entscheidende (und ausschließende) Bedeutung von Rezeptions- und Bewertungstraditionen.
Um so notwendiger, überraschender und erfreulicher war 1995 die Entscheidung der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG), an der Universität Oldenburg eine Werkausgabe von Louise Farrenc zu finanzieren. Bis dahin galt diese französische Komponistin allenfalls als Geheimtip von Kammermusikinteressierten. Viele ihrer Kompositionen für kleinere Besetzungen waren bereits auf CD oder bei Rundfunkanstalten eingespielt, darunter zwei Klaviertrios, eine Violoncellosonate und ein Nonett; besonders zwei Quintette für Klavier und Streichinstrumente hatten Interesse erregt, als eine Aufnahme der Firma cpo 1994 mit dem Preis der Deutschen Schallplattenkritik ausgezeichnet wurde. Aber von den Orchesterwerken (drei Sinfonien und zwei Konzertouvertüren) war nur die 3. Sinfonie durch einige Aufführungen in Deutschland und der Schweiz bekannt. Und obwohl Musikerinnen und Musiker die Kompositionen von Louise Farrenc gern in ihre Konzertprogramme aufgenommen hätten, war dies kaum möglich: Im Handel waren Noten nur von einem einzigen Werk (einem Klaviertrio) erhältlich, und zwar als Reprint eines Druckes aus dem 19. Jahrhundert.
Klassisch-romantische Vorbilder
Für die Entscheidung der DFG war aber weniger ein aufführungs-praktisches Interesse ausschlaggebend als ein wissenschaftliches. Als Zeitgenossin der Mendelssohns, von Schumann, Chopin und Liszt vertritt Louise Farrenc innerhalb der französischen Musikgeschichte - sozusagen als Kontrapunkt zu Hector Berlioz - eine klassisch-romantische Kompositionstradition, die bisher noch wenig erforscht ist. Vor allem von Kreisen um die akademischen Lehrer am Pariser Nationalkonservatorium gepflegt, vollzog sich diese Tradition noch ganz im Geist einer universalen europäischen Musiksprache. Erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, besonders mit dem Krieg von 1870/71, entstanden jene Abgrenzungsbedürfnisse, Bemühungen um die Herausbildung nationaler Musikstile, Ineinssetzungen von Mentalität und Musikästhetik, wie sie etwa an den Zielsetzungen Wagners und Debussys deutlich werden. Louise Farrenc war ein solches Denken noch fremd. Als Kompositionsschülerin des aus Böhmen stammenden, in Bonn und Wien geschulten Anton Reicha, als exzellente Kennerin Beethovens, Mozarts und Haydns, später auch als Spezialistin für Alte Musik, betrachtete sie es als ihre Aufgabe, klassische Werke in Frankreich bekanntzumachen und deren Stilmittel in eigenen Kompositionen weiterzuentwickeln. Dies geschah etwa, indem sie klassische Formen mit neuartigen Besetzungen verband, z. B. in ihrem Nonett für Bläser und Streicher sowie in dem Sextett für Bläser und Klavier. Hier löste sie die Blasinstrumente aus der Tradition der Divertimenti und Serenaden und band sie in anspruchsvollere Stil- und Gattungszusammenhänge ein. Eine andere Besonderheit der Farrenc'schen Kompositionsweise war wohl ebenfalls von ihrem Lehrer Reicha angeregt worden: die Vermeidung dramatischer Gegensätze und dualistischer Formgestaltung. Anders als die Theoretiker der deutschen Beethoven-Nachfolge empfahl Anton Reicha in seiner Kompositionslehre als Ausgangsmaterial nicht zwei gegensätzlich gestaltete Themen, sondern zwei oder mehrere "idées mères", phantasieanregende musikalische Gedanken. Ihre Variierung und thematische Verarbeitung geschieht bei Farrenc allerdings wiederum in deutlicher Orientierung an den Wiener Komponisten. Die Verbreitung ihrer Werke war zu ihren Lebzeiten beträchtlich. Von 51 numerierten Opera sind etwa 40, meist Klavierwerke, gedruckt worden, in vielen Fällen sowohl in Frankreich als auch in England und Deutschland. Aufführungen der (ungedruckten) Sinfonien und Ouvertüren in Frankreich, Dänemark, Belgien und in der Schweiz sind nachgewiesen. Louise Farrenc war kompositorisch vielseitig und produktiv, schulte kontinuierlich Technik und Stil und hatte - im Gegensatz zu anderen Musikerinnen ihrer Zeit - als Komponistin ein entschieden professionelles Selbstverständnis. Trotzdem wurde sie - anders als Clara Schumann und Fanny Mendelssohn - nach ihrem Tod von der Öffentlichkeit fast ganz vergessen. Dies ist auch damit zu erklären, daß sie nicht wie ihre deutschen Kolleginnen als Ehefrau oder Schwester eines berühmten Musikers und damit in einer typischen, gesellschaftlich akzeptierten Frauenrolle in die Musikgeschichte eingehen konnte. Für etwa ein Jahrhundert blieb ihre Musik unaufgeführt.
Von der Handschrift zum lebendigen Klang
In Zusammenarbeit mit dem Florian Noetzel Verlag in Wilhelmshaven wird die Farrenc-Forschungsstelle bis zum Jahr 2000 die Orchester- und Kammermusik sowie eine repräsentative Auswahl der Klaviermusik herausgeben. Der Aufwand bei der Beschaffung der Quellen ist dabei, verglichen mit anderen Werkausgaben, relativ gering: Der Nachlaß der Komponistin, der u. a. alle erhaltenen Autographe umfaßt, befindet sich in der Bibliothèque nationale de France in Paris. Auch einige Originaldrucke, d. h. von der Komponistin autorisierte Ausgaben, werden dort aufbewahrt. Recherchen in anderen europäischen Bibliotheken waren teils ergiebig (Brüssel, Lüttich, London, Berlin, Dresden), teils muß auf den Vergleich mit (in zeitgenössischen Quellen nachgewiesenen) Drucken aber verzichtet werden, weil sich nirgends mehr Exemplare davon auffinden lassen. Die editorische Bearbeitung soll, so die Konzeption der Ausgabe, sowohl aufführungspraktischen wie auch wissenschaftlichen Bedürfnissen genügen. So werden z. B. WissenschaftlerInnen, die sich analytisch mit den Werken befassen wollen, in einem Kritischen Apparat darüber informiert, welche Quellen der Ausgabe zugrunde liegen, welche Korrekturen die Komponistin in ihrer eigenen Niederschrift vorgenommen hat, worin sich Autographen von autorisierten Drucken unterscheiden und welche - offensichtlichen - Schreibfehler die Herausgeberin korrigiert hat. Wenn eine Ausgabe auch aufführungspraktischen Zwecken dienen soll, muß sie im Notentext übersichtlich sein, und sie muß in bestimmten Fällen Vortragsbezeichnungen (Dynamik, Artikulation) vereinheitlichen. Eine unbearbeitete Wiedergabe des Quellentextes, etwa in Form einer Urtextausgabe, würde z. B. die Probenarbeit eines Orchesters erschweren, weil die Beteiligten notwendige Anpassungen mit erheblichem Zeitaufwand erst noch vereinbaren müßten. Herausgeberzusätze dieser Art sind selbstverständlich im Druck als solche kenntlich gemacht.
Ein drittes Arbeitsfeld der Edition ist die Klärung von Datierungen, Kompositionsumständen bzw. -anlässen, Uraufführungen (Daten, Resonanz) und weiteren zeitgenössischen Aufführungen. Im Fall von Louise Farrenc ist durch eine amerikanische Dissertation eine grundlegende Vorarbeit geleistet worden (Bea Friedland: Louise Farrenc, 1804-1875. Composer, Performer, Scholar, Ann Arbor 1975/1980). Gegenüber dem dort dokumentierten Forschungsstand haben sich inzwischen schon umfangreiche Ergänzungen und Korrekturen ergeben.
Es wäre sicher vermessen zu hoffen, daß jemand eines Tages sagen wird, die Farrenc-Edition sei für sein Leben von besonderer Bedeutung gewesen, so wie Brahms und seine ZeitgenossInnen dies in bezug auf die großen Werkausgaben ihrer Zeit empfunden haben. Aber auch die Farrenc-Edition ist von einiger Resonanz getragen, von der Erfahrung, daß viele Musikinteressierte das Projekt mit Spannung verfolgen. Vor allem seit der Verlag ein Subskriptionsangebot weltweit verbreitet, erreichen die Oldenburger Forschungsstelle zahlreiche Anfragen nach Aufführungsmaterial für Konzerte und CD-Einspielungen. Seit 1997 bereitet die Radio-Philharmonie Hannover des NDR Aufnahmen aller Sinfonien und Ouvertüren für die Schallplattenfirma cpo vor. Ensembles in Deutschland, Österreich, der Schweiz, in England und Kanada haben Werke von Louise Farrenc in ihr Repertoire aufgenommen, und voraussichtlich Ende 1998 werden weitere Kammermusikwerke auf CD eingespielt sein.
Für den 11. Juni 1998 ist geplant, im Zusammenhang mit der Einweihung des neuen Hörsaalzentrums der Universität Oldenburg eine der beiden Sinfonien, die seit etwa 150 Jahren nicht mehr erklungen sind, erstmals wieder öffentlich aufzuführen. Der Rahmen wird ein Sinfoniekonzert der Radio-Philharmonie Hannover des Norddeutschen-Rundfunks unter derLeitung von Johannes Goritzki sein.
Die Autorinnen
Christin Heitmann und Katharina Herwig sind Doktorandinnen und Wissenschaftliche Mitarbeiterinnen der Farrenc-Edition im Fachbereich 2 (Kommunikation und Ästhetik). Katharina Herwig legte 1995 in Oldenburg ihr erstes Staatsexamen für das Lehramt an Gymnasien ab (Musik, Deutsch). Christin Heitmann schloß ihr Studium der Musikwissenschaft an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn 1995 mit einer Magisterarbeit über die Kammermusik Louise Farrencs ab. Prof. Dr. Freia Hoffmann , seit 1992 Hochschullehrerin für Musikpädagogik und musikwissenschaftliche Geschlechterforschung in Oldenburg und Leiterin des Farrenc-Projektes, wurde nach ihrem Studium an der Musikhochschule und der Universität in Freiburg promoviert. Anschließend arbeitete sie als Rundfunkjournalistin und Musiklehrerin. Seit 1980 ist sie an den Universitäten Hildesheim und Oldenburg in der Musiklehrerausbildung tätig. 1988 habilitierte sie sich mit einer Arbeit über "Instrument und Körper. Die musizierende Frau in der bürgerlichen Kultur", (Frankfurt/Main und Leipzig 1991). 1993/94 gehörte sie der Niedersächsischen Frauenforschungskommission an. Von 1990 bis 1997 war sie Mitherausgeberin der Zeitschrift "Musik und Unterricht."