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Wie entstehen Strukturen?

von Jürgen Parisi und Stefan C. Müller

In vielen Beispielen physikalischer, chemischer und biologischer Systeme treten Erregungszustände auf, die sich wellenförmig als spiralförmig rotierende Strukturen ausbreiten. Diese Phänomene sind unter anderem in der Biomedizin von Bedeutung. Im Rahmen eines Schwerpunktprogramms der Deutschen Forschungsgemeinschaft, an dem in Oldenburg die Abteilung Energie- und Halbleiterforschung beteiligt ist, werden zahlreiche Projekte zu solchen räumlich-zeitlichen Strukturbildungen in sogenannten dissipativen kontinuierlichen Systemen gefördert, die aus Bereichen der Hydrodynamik, der physikalischen Chemie und der Halbleiterphysik stammen. Aufgrund ihrer interdisziplinären Bedeutung besitzen die geförderten Projekte ausstrahlende Wirkung auf angrenzende Bereiche naturwissenschaftlicher Forschung.

How structures develop

Many examples of physical, chemical and biological systems show states of excitement which are propagated as spiral waves. This phenomenon is, among other fields, of importance in biomedicine. Numerous projects of these spatio-temporal developments of structure are supported by a cooperative programme of the Deutsche Forschungsgemeinschaft. Focus of research are projects from hydrodynamics, physical chemistry and semiconductor physics. The Department of Energy and Semiconductor Research at the University of Oldenburg takes part in these investigations. The interdisciplinary relevance of these projects make them important for adjacent fields of natural sciences.

Im Lebenszyklus des Schleimpilzes Dictyostelium discoideum wachsen einzelne Amöbenzellen bei Ernährungsverknappung zu einem vielzelligen Gebilde zusammen, und zwar mittels chemotaktischer Bewegungen. Diese Art der Bewegung beruht auf der Fähigkeit der Zellen, das räumliche Konzentrationsgefälle eines Signalstoffes mittels spezifischer Rezeptoren zu erkennen und als Richtungsvorgabe für die eigenständige Fortbewegung zu nutzen. Das entstandene Gebilde differenziert dann zu einem Schleimpilz aus Stiel und Fruchtkörper, dessen Sporen später einen neuen Zyklus des Amöbenwachstums einleiten. In den frühen Stadien der Zellaggregation können im Dunkelfeld-Mikroskop durch Unterschiede im Lichtstreuverhalten ruhender und sich bewegender Zellen kreis- und spiralförmige Muster sichtbar gemacht werden.

Maßgebend ist die räumliche Verteilung des Signalstoffs zyklisches Adenosin-Monophosphat (cAMP), der von den einzelnen Zellen oszillatorisch produziert und in die Umgebung ausgeschüttet wird. Dadurch erzeugte Konzentrationsgefälle veranlassen die Zellen dazu, eine pulsierende chemotaktische Bewegung in Richtung des zukünftigen Aggregationszentrums auszuführen.

Eine solche cAMP-Spirale bewirkt pro Umdrehung einen Schub von Amöbenzellen zum Zentrum hin, und dort entsteht vorerst eine wirbelartige Bewegungsstruktur. Später führt die Akkumulation von Zellen in diesem Bereich zum Wachstum eines pilzähnlichen Pseudoplasmodiums aus der Ebene heraus in die Höhe. Der präzise Mechanismus, welcher die anfängliche Zellbewegung in das spätere Pseudoplasmodium überführt, ist jedoch noch unbekannt.

Das dynamische Verhalten des Schleimpilzes bei der Aggregation läßt sich hervorragend im Rahmen sogenannter Reaktions-Diffusions-Modelle behandeln. Damit gehört dieses Verhalten zu den Ausnahmen von der Regel, daß biologische Strukturen sich häufig gut in den Rahmen dissipativer kontinuierlicher Systeme einpassen, jedoch im Vergleich zwischen Experiment und Theorie bis auf wenige Ausnahmen meist nur qualitative Aussagen zulassen.

Der Schleimpilz Dictyostelium discoideum ist ein Beispiel für ein erregbares System. Das wohl bekannteste Beispiel dafür ist die Nervenfaser, die sich - vermittelt über ein Ruhepotential - in einem erregbaren Ausgangszustand befindet. Durch kurzzeitiges Öffnen von Ionenkanälen wird ein Erregungspuls hervorgerufen, der als Potentialänderung (Spike) die Nervenfaser entlang läuft, gefolgt von einer Erholungs- oder Refraktärphase. Während dieser Phase werden Ladungsunterschiede zwischen Membranen wieder aufgebaut, bevor ein weiterer Erregungspuls ausgelöst werden kann. Der für die Nervenleitung charakteristische Erregungsprozeß ist ein nichtlinear-dynamisches Phänomen, wie es sich auch in zahlreichen weiteren räumlich ausgedehnten Medien manifestiert. Erregbarkeit kann durch die Wirkung von Kopplungsmechanismen mit kurzer Reichweite wie z.B. Diffusion zur Ausbreitung scharf abgegrenzter Fronten führen, die einen aktiven, erregten Zustand mit bestimmter Geschwindigkeit durch ein räumliches Volumen tragen. Der aktive Zustand kann dabei die erhöhte Konzentration einer schnell produzierten chemischen oder biochemischen Substanz sein; bei der Belousov-Zhabotinsky (BZ)-Reaktion, einer chemischen Reaktion, die je nach Wahl der Ausgangskonzentrationen periodisch oszilliert und die typischen Merkmale eines erregbaren Systems aufweist, ist dies beispielsweise unterbromige Säure als chemisches Zwischenprodukt. Die geometrischen Formen, die solche Fronten dabei bilden, sind in dünnen Schichten konzentrisch angeordnete Kreisscharen, sogenannte "Zielscheibenmuster", oder, wie beim Schleimpilz Dictyostelium discoideum, die noch bemerkenswerteren Spiralen, deren Spitzen unverdrossen um einen zentralen Kernbereich kreisen, wobei in rhythmischer Abfolge pro Umdrehung eine Front in die Umgebung ausgesendet wird. Die erste Abbildung (S. 23) enthält einige Momentaufnahmen von Spiralwellen aus Chemie und Biologie. Als klassisches Beispiel wird in Bild A ein Spiralsystem in der BZ-Reaktion gezeigt. Bild B zeigt die spiralförmigen Verteilungen des Signalbotenstoffs in den Amöbenkolonien von Dictyostelium als eines von zahlreichen Beispielen aus der Biologie. Das dritte Bild C führt zu biomedizinisch relevanten Fragestellungen hinsichtlich der Bedeutung von Erregungswellen bei der sogenannten "Spreading Depression" in neuronalem Gewebe. Dieses dynamische Phänomen im zentralen Nervensystem, bei dem sich nach mechanischer oder chemischer Stimulierung eine Welle stark reduzierter elektrischer Aktivität der Nervenzellen mit einer Geschwindigkeit von nur 3 mm/min ausbreitet, wird hier in der Hühnernetzhaut demonstriert. Spreading Depression wird im Zusammenhang mit dem Auftreten von Migräne und fokaler Epilepsie diskutiert.

Strukturbildung - ein wachsendes Forschungsgebiet

Strukturbildung in Systemen, die sich wie die oben genannten Systeme nicht im Gleichgewicht befinden, ist in den vergangenen Jahren zu einem wichtigen interdisziplinären Forschungsgebiet herangewachsen, das auf viele Zweige der Naturwissenschaften und der Mathematik befruchtend wirkt. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) unterstützt deshalb seit einigen Jahren in einem ihrer Schwerpunktprogramme etwa 30 Arbeitsgruppen, die sich mit "Strukturbildung in dissipativen kontinuierlichen Systemen" befassen und an zahlreichen wissenschaftlichen Institutionen Deutschlands angesiedelt sind. Im Unterschied zur nichtlinearen Dynamik von Systemen mit wenigen Freiheitsgraden, die ja vielerorts ein aktives Arbeitsgebiet darstellt und mit der Dynamik kontinuierlicher Systeme manche Gemeinsamkeit hat, werden in diesem DFG-Schwerpunktprogramm diejenigen Aspekte betont, für deren Beschreibung die Kontinuumseigenschaften und nichtlineare Transportgleichungen wichtig sind.

Die Entwicklung präziser Meßmethoden und neuer theoretischer Konzepte sowie die stark angewachsene Kapazität von Computern haben die Möglichkeit geschaffen, die nichtlineare Entwicklung von regelmäßigen und chaotischen Strukturen in kontinuierlichen Medien im Detail zu verfolgen und besser verstehen zu lernen. Zahlreiche Beispiele finden sich in der Hydrodynamik und in Systemen, in denen nichtlineare chemische oder biochemische Reaktionen mit einem Transportprozeß, insbesondere mit molekularer Diffusion, gekoppelt sind. Hier wird der Zusatz "Experiment und Theorie im quantitativen Vergleich" wesentlich, der dem Titel des DFG-Schwerpunktprogramms folgt, um zu betonen (was eigentlich gängige Praxis sein sollte), daß einzelne Teilfragen zur Strukturbildung in vergleichbarer Intensität sowohl im Labor als auch in Theorie, Modellbildung und Simulation bearbeitet werden sollten.

Inhaltlich wurde dieser Schwerpunkt unter der Koordination von Prof. Dr. Friedrich H. Busse (Bayreuth) und in enger organisatorischer Zusammenarbeit mit den Autoren ursprünglich als "Kern mit Mantel" konzipiert: Im Zentrum der wesentlichen Fragestellungen stehen experimentell zugängliche Strukturen aus dem Bereich der Hydrodynamik und der schon erwähnten Reaktions-Diffusions-Systeme in der physikalischen Chemie und Biophysik. Zu diesem Kernbereich gehören quantitative numerische Studien zu den individuellen Systemen und allgemeine theoretische Methoden und Konzepte, welche einen übergreifenden universellen Kontext herstellen sollen. Über diese Grundpfeiler hinaus sollte dieser Kernbereich auf einen ihn umgebenden "Mantelbereich" ausstrahlen, der eine recht große Anzahl angrenzender Forschungsbereiche betrifft - so die Strukturbildung in optisch aktiven Medien, biologische Strukturen, physiologische Phänomene oder numerische Studien zu diesen Gebieten bis hin zur Meteorologie und Astrophysik. Als besonders interessierender Bereich galten dabei von Beginn an dynamische Strukturierungsphänomene in Festkörpern, insbesondere Halbleitern. Ihre Behandlung wurde daher explizit in das Schwerpunktprogramm einbezogen, und mittlerweile haben sich diese Forschungsprojekte als dauerhafte Teilbereiche des Kernbereichs etabliert.

Wie läßt sich nun ein erregbares Medium in kompakter Weise charakterisieren, so daß auch klassische biologische Prozesse wie die Nervenleitung, die elektrophysiologischen Erscheinungen auf dem kontrahierenden Herzmuskel sowie die genannten Phänomene einbezogen werden? Im wesentlichen genügen die für Nervenfasern schon genannten drei Zustände, um eine typische Erregungskinetik zu beschreiben: entweder das System verharrt in einem erregbaren Ruhezustand; oder es befindet sich in einem aktiven, erregten Zustand, der durch eine lokale Störung, beispielsweise durch das Eintauchen eines dünnen, heißen Drahts in die reaktive chemische Lösungsschicht, erzeugt werden kann; oder es ist refraktär, d.h. es kann während der Erholungsphase, der Rückkehr vom erregten in den Ruhezustand, vorübergehend nicht neu erregt werden

Mathematische Modelle erklären die Dynamik

Ein einfaches mathematisches Modell solchen kinetischen Verhaltens beruht auf der Annahme, daß sich eine schnelle Aktivatorvariable (in der BZ-Reaktion die autokatalytisch erzeugte unterbromige Säure, mit Änderungen auf einer Zeitskala von Millisekunden) im Wechselspiel mit einer viel langsameren Inhibitorvariablen (in der BZ-Reaktion der Katalysator Ferroin, mit Änderungen auf einer Zeitskala von Sekunden) entwickelt. Die zeitliche Dynamik wird mathematisch im allgemeinen durch nichtlineare Funktionen beschrieben. Geeignete Funktionen sind für eine Reihe von erregbaren Systemen eingeführt und erfolgreich zu qualitativen oder semi-quantitativen Vergleichen mit experimentellen Daten herangezogen worden. So wird die BZ-Reaktion mit dem sogenannten "Oregonator"-Modell mit den oben angegebenen Variablen beschrieben; vergleichbare Modelle gibt es für die Amöbenaggregation bei Dictyostelium und für elektrophysiologische Systeme.

Die Dynamik des Systems läßt sich dann in ihren wesentlichen Zügen aus den Eigenschaften dieser Modellfunktionen ableiten. So ist der erregbare Ruhezustand gegenüber kleinen Störungen stabil, bei überschwelli- ger Erhöhung des Aktivators jedoch findet ein schneller Sprung in einen Erregungszustand statt. Steigt der Inhibitor in der Erregungsphase auf seinen maximalen Wert, so fällt das System in den dritten Zustand, die Erholungs- oder Refraktärphase. Dann kann erst nach einiger Zeit ein erneuter Erregungspuls ausgelöst werden.

Wie kommt es zur Frontausbreitung in räumlich ausgedehnten Systemen? Grundlegender Mechanismus ist die Kopplung von Reaktions- und Diffusionsgeschehen: Ausgehend von einem durch eine externe Stimulation erzeugten Erregungskeim, wie etwa bei der BZ-Reaktion durch den heißen Draht oder durch Injektion des Aktivators, übernimmt molekulare Diffusion die Erhöhung der Aktivatorkonzentration. Benachbarte Bereiche werden somit "angesteckt", den Aktivator zu produzieren. Aus Symme- triegründen entsteht so eine kreisförmige Wellenfront des aktiven Zustands, gefolgt von einer refraktären Zone, die einen gewissen minimalen Abstand vorgibt, in dem eine nächste Kreiswelle entstehen kann. Mathematisch findet diese Kopplung ihren Niederschlag in der Addition von Diffusionstermen zu den die Reaktion beschreibenden Funktionen.

Wegen der sehr unterschiedlichen Zeitskalen der Aktivator- und Inhibitorvariablen können spezielle Verfahren zur analytischen Behandlung der resultierenden Gleichungssysteme verwendet werden. Daraus lassen sich zwei für Wellenlösungen charakteristische Beziehungen ableiten: Die Wellenausbreitung gehorcht einer Dispersionsbeziehung, d.h. die Geschwindigkeit ebener Wellenfronten wird kleiner, wenn sich die Frequenz der Wellenerzeugung erhöht und damit der Abstand aufeinanderfolgender Fronten abnimmt. Zweitens gibt es eine Abhängigkeit der Wellengeschwindigkeit vom lokalen Krümmungsradius einer Wellenfront. Letztere Beziehung sagt die Existenz eines minimalen Radius für Kreiswellen voraus, unterhalb dessen keine Propagation nach außen stattfindet. Weiterhin sorgt die Beziehung für eine Stabilisierung der Frontgeometrie.

Spiralen entstehen aus Kreismustern durch Störungen

Ausgangssituation für die Ausbildung von Spiralen ist die Existenz eines offenen Wellenendes, das man in einer wässrigen Lösungsschicht der BZ-Reaktion erhält, indem eine geschlossene Front mittels eines Luftstoßes aus einer Pipette aufgebrochen wird. In biologischen Systemen wie bei der Amöbenaggregation entstehen offene Enden häufig spontan an einer Inhomogenität, die sich der wandernden Front als Hindernis in den Weg stellt. Bei genügend hoher Erregbarkeit des Systems wickelt sich das Ende im Laufe der Zeit zu einer regelmäßigen, annähernd archimedischen Spirale auf. Eine solche voll ausgebildete Spiralstruktur rotiert gleichförmig um einen Kernbereich. Im Kernbereich der Spirale herrschen besondere Verhältnisse. Dieser Bereich ist von jeglicher Erregung ausgenommen und bildet ein ruhendes Zentrum.

Es sollte möglich sein, das bisherige Verständnis von Erregungswellen auch auf andere Bereiche der Biologie auszuweiten. So unterstreichen aktuelle Arbeiten an isoliertem Herzmuskelgewebe, daß elektrophysiologische Aktivität am Herzen in Form von Spiralmustern erfolgen kann. Spiralspitzen werden dabei durch natürliche Inhomogenitäten im Gewebe wie Arterien eingefangen und verankert, wie es auch in BZ-Lösungen mit künstlichen Hindernissen beobachtet wird. So verharren sie in einer stabilen Rotation um dieses Zentrum und sind nur schwer von diesem Anker zu lösen. Hiermit könnte der lebensgefährdende Prozeß des Herzflimmerns eingeleitet werden. Folglich ist es ein medizinisch dringliches Anliegen, zu verstehen, wie sich eine rotierende elektrophysiologische Erregung in kürzester Frist abbauen läßt. Ein aktueller Forschungsschwerpunkt ist daher, wie eine solche von innen gesteuerte Dynamik mit geeigneten Mitteln von außen beeinflußt werden kann, um damit das Spiralverhalten einer gezielten Kontrolle zu unterwerfen.

Die hier kurz angerissenen biologischen Beispiele unterstreichen die Bedeutung der Erforschung räumlich-zeitlicher Selbstorganisation auf der Grundlage von Reaktions-Diffusions-Kopplung. Für kontrollierte Experimente im Labor sind physikalisch-chemische Modellsysteme besonders geeignet.

Die Autoren

Prof. Dr. Jürgen Parisi (48), Leiter der Abteilung Energie- und Halb- leiterforschung, wurde 1995 nach Oldenburg berufen. Sein Studium hatte er an der Universität Stuttgart aufgenommen und an der Universität Tübingen abgeschlossen, wo er auch 1982 promovierte und sich fünf Jahre später habilitierte. 1990 erhielt er - nach einer Gastprofessur an der Universität Zürich - einen Ruf an die Universität Bayreuth. Zahlreiche For- schungsaufenthalte führten ihn ins Ausland - u. a. Enschede, Cardiff, Grenoble, Peking, Sao Paulo. Die oben vorgestellte Arbeit ist ein Gemeinschaftsprodukt mit dem Fachbereich Physik der Universität Magdeburg. Mitautor Prof. Dr. Stefan C. Müller ist Mitglied des dortigen Instituts für experimentelle Physik, Abteilung Biophysik.

(Stand: 19.01.2024)  | 
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