Zeit: Freitag, 09. September, 10:45–12:15 Uhr
Titel: Ausbauliteratur und Nischenkultur. Zum Werdegang niederdeutscher Literatur des 20. und 21. Jahrhunderts im Spiegel ausgewählter Texte und Konzepte
Dozent: Robert Langhanke, Europa-Universität Flensburg
Zusammenfassung:
Nach einer rückblickend betrachtet fulminanten Entwicklung einer erneuerten niederdeutschen Literatursprachlichkeit in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als Einzeltexte scheinbar mühelos in die nationale und internationale Hochkultur vordrangen und dort kulturhistorisch bleibende Spuren hinterließen, präsentiert sich auch noch das Textaufkommen des frühen 20. Jahrhunderts zwar sprachlandschaftsbezogener, aber fortgesetzt selbstbewusst und von der Idee einer alternativen niederdeutschen Literatur- und Kultursprache begleitet. Diese Vorstellungen lassen sich über das Jahrhundert hinweg bis in das Jahr 2022 nicht erhalten und sind einem immer kleinräumiger agierenden Literaturbetrieb gewichen, dessen Hauptmerkmal sowohl textliche als auch personelle und rezeptionelle Übersichtlichkeit geworden ist. Auf die weitreichenden Ideen einer sogenannten niederdeutschen Bewegung folgte die Nische einer niederdeutschen Szene, die sich in jeder Sprachraumregion anders entwickelte und präsentiert. Regionale niederdeutsche Literaturen bestimmen das Feld bei gleichzeitiger Überdachung durch vergleichbare Konzepte. Dass die aus dem 19. Jahrhundert stammende Idee niederdeutscher Literatur aber fortgesetzt lebendig ist, liegt an der ungebrochenen Fähigkeit einzelner Autorinnen und Autoren zur literarischen und sprachlichen Innovation, zum poetischen Wagnis in niederdeutscher Sprache, dem es nachzuspüren gilt und das einem vorschnell ausgesprochenen Provinzialitätsverdacht entgegensteht.
Angebote zur Ordnung neuerer niederdeutscher Literatur haben im frühen 20. Jahrhundert Stammler (1920) und Borchling (1927), in jüngerer Zeit Bichel, Meier und Eiben-von Hertell im Handbuch Cordes/Möhn (1983) und jüngst Möhn/Goltz (2016) gemacht. Eine gültige Definition dieser Literatur nach irritierenden Beanspruchungen im Verlauf des 20. Jahrhunderts ist Schuppenhauer (1969, 1972), Bichel (1974), Haas (1983) und Schröder (2004) ein Anliegen. Ob „[n]iederdeutsche Literatur […] Literatur wie jede andere [ist], nur eben in niederdeutscher Sprachform“, wie Schuppenhauer (1972, 33) formuliert, bleibt aber ebenso wie die Versuche zur literarhistorischen Traditionsbildung Ausgangspunkt einer offenen Diskussion, die auf der Sommerschule aufgegriffen wird.
Primär haben Dichterinnen und Dichter das Verständnis einer modernen oder angemessenen niederdeutschen Literatursprache über ihre Texte vermittelt. Der Leserschaft bietet sich ein unerwartet heterogenes Feld, das weder allein über konservative Klischeeausprägungen humoristisch, kleinbürgerlich oder primär dorfbezogen angelegter Text zu sichern noch ausschließlich über experimentelle und sprachschöpfende Textformen angemessen zu erfassen ist. Waltrud Bruhns Lyrik repräsentiert den Gegenstand ebenso wie Rudolf Kinaus Kurzprosa. Vielmehr gilt es, die Spannungen eines Literaturbetriebs zu beleuchten, der sich zwar noch selbst trägt, zugleich aber dem niederdeutschen Sprachverlust proportional ebenso ausgesetzt ist wie die alltagssprachliche Situation in Norddeutschland.
Von welchen Produzenten und Rezipienten ist also auszugehen, wo existieren welche niederdeutschsprachigen Literaturformen, und welche Lebens- und Sprachwelt gestalten Texte der aufgerufenen Strecke für welche Diskurse? Konkrete Textbeispiele und Thesen zur neueren niederdeutschen Literaturentwicklung regen zur Diskussion an. Die Lehreinheit versucht einen pointierten Überblick zu den angeführten Entwicklungen und Konzeptionen und lädt über einzelne Texte zur näheren Literaturerfahrung ein.