Fischer, Lisa Marie

Lisa Marie Fischer: Herodots Ethnographie – eine dichotome Weltbevölkerung?

Die Masterarbeit widmet sich einem der Großthemen der antiken Historiographie: Herodot von Halikarnassos und seinem so kolossalen wie stellenweise bis heute rätselhaften Werk, den Historien. Der gedankliche Reichtum des herodoteischen Stoffes regt seit seiner Veröffentlichung zu einer vielschichtigen Rezeption an und noch immer bietet die Forschung in Anbetracht der Pluralität legitimer Zugänge ein uneiniges Bild.  Dies tangiert zugleich eine Problematik: Indem diese Arbeit Herodot zu ihrem Untersuchungsgestand erhebt, reiht sie sich ein in gewaltige Gesellschaft – die Forschungsliteratur über die Historien ist kaum zu überblicken, kaum eine Fragestellung hat man an den antiken Text nicht herangetragen. In der Betrachtung der Forschungsliteratur offenbart sich gleichsam ein Phänomen: Während das Hauptaugenmerk häufig auf der Ergründung des historiographischen Charakters des Werkes und seiner Anbindung an einen geistesgeschichtlichen Entstehungshorizont liegt, erfährt die ethnographische Exkurs-Narration der Historien nur eine marginale Einbindung. Um sich dieser Exkursnarration zu nähern, ist es sinnvoll, dort zu beginnen, wo auch Herodot beginnt: Er stellt seiner Erzählung ein Prooimion voran, das kurz, aber sprachlich dicht einen ersten Blick auf seine Person, sein Werk und seine Ziele zulässt: „Herodot von Halikarnass gibt hier eine Darlegung seiner Forschungen, damit durch die (fortschreitende) Zeit nicht in Vergessenheit gerate, was durch Menschen einst geschehen ist; auch soll der Ruhm großer und wunderbarer Taten, die sowohl die Griechen als auch die Barbaren getan haben, nicht vergehen; besonders aber soll man die Ursachen wissen, weshalb sie gegeneinander Krieg führten.“ JeneÜbersetzung - „Darlegungen seiner Forschungen“ – zeigt bereits auf, dass der griechische Original-Terminus historíe vor dem Hintergrund eines prädisziplinären Umfelds, in dem Herodots Arbeit anzusiedeln ist, in seiner ursprünglichen Bedeutung eine persönlich eingebrachte, empirische ‚Erkundung‘ von was auch immer meint, entsprechend ein methodisches Vorgehen, welches gekennzeichnet ist durch die Ungebundenheit an einen bestimmten Gegenstand. Nicht allein die Erhellung der Vergangenheit determiniert das Erkenntnisinteresse, auch Fragen der Geographie, der Biologie, der Ethnologie und schließlich der Geschichte widmet sich Herodot. Diese Exkurse weichen vom chronologischen Hauptstrang, der die Auseinandersetzungen zwischen den Völkern Asiens und den Griechen fokussiert, ab. Buchstäblich am Rande des Weges flechtet Herodot völkerkundliche Exkurse, erdkundliche Skizzierungen, historische Rückblicke, ausführliche Beschreibungen herausragender Leistungen sowie anschauliche Anekdoten in seine Historien ein – Abschweifungen dieser Art lägen „[…] ja aber ganz in der Absicht meines Werkes […]“. In der Forschung steht die textimmanente Untersuchung der Gestaltungs- und Interpretationsschemata dieser Episoden nur selten voll und ganz im Vordergrund – eine Feststellung, die schließlich zur Hauptfragestellung der Masterarbeit leitete: Wie gestaltet Herodot seine literarischen Begegnungen mit der Fremde? Für die Beantwortung dieser Frage sind einmal mehr die einleitenden Zeilen des Gesamtwerkes von Interesse: In Anbetracht der Verwendung des Begriffs „Barbaren“ für die erste Bezeichnung der hellenischen Kriegsgegner ebnen die einleitenden Worte der Historien der Vermutung den Weg, Herodot habe die Kontrahenten des Konflikts in dichotomer Gegenüberstellung konstruiert: Jene Angehörigen eines fremden Volkes – so könnte man meinen – erfahren eine Diskreditierung, die bis heute mit dem Terminus ‚Barbar‘ verbunden ist. Tatsächlich interpretierte beispielsweise Marcello Gigante das herodoteische Werk in diesem Sinne als entscheidende Erfassung des unvereinbaren Gegensatzes zwischen Griechen und Barbaren als jenen zwischen „[…] der Würde des kultivierten Menschen […]“ und dem „[…] Knechtwesen des Barbaren […]“. Konträr dazu steht der Vorwurf, den der griechische Philosoph und Schriftsteller Plutarch im frühen 1. Jahrhundert n. Chr. gegen die Historien und ihren Verfasser erhob: In der beispiellos umfangreichen Skizzierung der am Konflikt beteiligten, nicht-griechischen Akteure erblickte er das Delikt einer Barbarenfreundschaft und einer gleichzeitigen Griechenfeindlichkeit Herodots. Darüber hinaus betten sich in den geistesgeschichtlichen Horizont der Werkgenese Positionen der griechischen Publizistik, Rhetorik und Staatsphilosophie, die immer wieder die natürliche Feindschaft zwischen Hellenen und den Barbaren betonen. Figurieren sich in den Historien tatsächlichjene angedeuteten Stereotypisierungen innerhalb der Gegenüberstellung der Griechen und Barbaren? Eine Spurensuche durch die Historien offenbart in der Tat zuweilen Episoden, in denen Herodot explizit von einer Überlegenheit der Hellenen gegenüber den ‚Barbaren‘ spricht. Über ihren differenten Intellekt merkt Herodot im Zusammenhang mit einem Putschversuch des Peisistratos in Athen etwa an: „[Sie] ersannen […] nun, um [Peisistratos] Rückkehr zu bewerkstelligen, eine Sache, die, wie ich wenigstens finde, äußerst einfältig war, nachdem doch schon in älterer Zeit der griechische Stamm sich aus dem barbarischen herauslöste und sowohl wendiger im Geist als auch von törichter Einfalt stärker befreit war; damals aber setzten in der Tat diese Leute bei den Athenern, die in Sachen Klugheit als die Ersten unter den Griechen gelten, einen solchen Vorgang ins Werk.“ Ferner weiß Herodot durch den Mund des spartanischen Heerführers in der Schlacht von Plataiai, Pausanias, davon zu berichten, „einen Leichnam zu schänden […] ziemt sich mehr für Barbaren als für Griechen.“ Und letztlich sind es die Perser, die von Herodot von allen Ethnien in höchster Frequenz mit dem Begriff barbaroi bedacht werden, die als Besiegte aus der Auseinandersetzung hervorgehen. Eine Destabilisierung dieses abwertenden Barbarenbildes setzt allerdings bereits in den ersten, zuvor zitierten Worten des herodoteischen Prooimions ein: Ebendiese Zeilen schließen bereits das Faktum ein, auch von denkwürdigen Taten der Barbaren sei im Kommenden zu berichten. Barbaros, von Herodot sowohl substantivisch als auch adjektivisch gebraucht, bezeichnet zunächst nur, daß der so Bezeichnete eine nicht-griechische Sprache spricht, ohne ihn sonst irgendwie zu qualifizieren oder gar zu disqualifizieren. Die Definition des Barbaren operiert entsprechend mit dem Kriterium der Sprache, die eine Trennlinie zwischen Bekanntheit und Fremdheit bildet. Der Barbarenbegriff Herodots umfasst entsprechend alle Nicht-Griechen und wird – abgesehen von den zuvor geschilderten Ausnahmen – in den Historien ebendiesem Verständnis entsprechend vor allem in den ethnographischen Passagen des Werkes weitestgehend wertfrei verwendet.  Die Bemühungen Herodots, die Heterogenität der Oikumene und der in ihr existierenden nomoi unterschiedlichster Völkerschaften objektiv abzubilden, figurieren sich zum einen in der sachlichen Beschreibung und partiellen Bewunderung der Fremde. Im ethnographischen Vergleich zeigt der Autor nicht nur Kontraste, sondern auch Ähnlichkeiten und Übereinstimmungen auf. Zum anderen theoretisiert Herodot das Phänomen wertender Fremd- und Selbstwahrnehmung in einem bemerkenswert einsichtigen wie modernen Passus wie folgt: „Wenn nämlich jemand allen Menschen Gebräuche vorlegte und ihnen dann auftrüge, die besten unter allen Gebräuchen zu wählen, dürfte jedes Volk, nachdem es alle geprüft hat, die eigenen wählen; so sehr ist jedes Volk der Meinung, dass seine Gebräuche bei Weitem die besten sind.“ Diese Theorie belegt Herodot mit einer raffinierten Anekdote von Persern, Indern und Griechen. Diese werden von Dareios jeweils nach dem Preis gefragt, den man ihnen zahlen müsse, damit sie bereit wären, ihre eigenen Totenbräuche abzulegen und jeweils gänzlich andere zu adaptieren – jedes Volk zeigt sich jeweils schockiert über diese Bitte. Herodot schließt diese Geschichte mit der Erkenntnis, ‚der Brauch‘ sei ‚der König von allen‘“ und die Hochschätzung der eigenen Kultur damit ein universales Phänomen. Indem Herodot sich nun Werturteilen weitestgehend verweigert und seiner Leserschaft ihre eigene Perspektivität, ihren Ethnozentrismus vor Augen führt, wendet er sich ausdrücklich gegen die Erklärung des Eigenen zum Absoluten. Dieser Einsicht folgend lässt Herodot die Barbaren ihre eigenen Barbaren haben: Indem die Ägypter „alle, die nicht ihre Sprache sprechen“, als Barbaren bezeichnen, landen die Hellenen selbst in dieser linguistisch abgesteckten Kategorie. Wer ein Barbar ist, liegt im Auge des Betrachters, ist also relativ, nicht absolut. So ist für Herodot Fremd- und Selbstwahrnehmung stets von der eigenen Perspektive abhängig und in höchstem Maße subjektiv – eine Einsicht, die die Historien an ihre Leserschaft herantragen. Wenngleich die Griechen den Barbaren in ethnographischer Hinsicht nicht in linearer Überhöhung gegenübergestellt sind, so konstruiert Herodot in einem Aspekt doch einen stabilen Kontrast. In einem metaphorisch aufgeladenen Passus verweigern griechische Gesandte den Kniefall vor dem persischen Großkönig Xerxes und erklären einem persischen Statthalter ihr Verhalten mit den Worten: „Hydarnes, nicht aus gleichartiger Ausgangslage kommt dieser Rat, der auf uns zielt. Denn das eine hast du erprobt und gibst infolgedessen deinen Rat, während du mit dem anderen keine Erfahrung hast: Ein Sklave zu sein, das verstehst du gründlich, die Freiheit dagegen hast du noch nicht erprobt, oder ob sie süß ist, noch ob nicht. Wenn du sie nämlich erprobt hättest, würdest du uns raten, nicht nur mit Speeren um sie zu kämpfen, sondern auch mit Äxten.“ So wird der Kniefall zum metaphorischen Sinnbild der Unterschiede, die zwischen Orient und Okzident bestehen: Der Grieche ist verwurzelt in der Idee politischer Freiheit, der Perser – der Barbar – in Knechtschaft und Despotie. Ein Kulturgefälle in Bezug auf Asien und Europa geht weniger von der Reflektion unterschiedlicher nomoi als vielmehr vom konstituierenden Spezifikum griechischer Freiheit aus. Der Konflikt zwischen Asien und Europa wird dabei aus griechischer Warte zu einem globalen Konflikt stilisiert. Dabei wird Asien mit imperialer, hybrider Königsherrschaft und geknechteten Völkerschaften assoziiert. Europa erscheint dagegen mit den Hellenen als Protagonisten der Freiheit als unbeugsam und dadurch überlegen. Abschließend entbehren sowohl das Postulat Plutarchs, Herodot sei ein griechenfeindlicher Barbarenfreund gewesen, als auch die unter anderem durch Gigante tradierte Ansicht, die Historien seien durch eine Hellenen-Barbaren-Antithese konstituiert, im Rahmen der Untersuchung ihrer Legitimität. Schematischer Zuschreibungen verweigert sich der Autor sowohl in Episoden theoretischer Tiefe als auch in den Worten und Taten seines literarischen Personals. Eine zunächst vermutete Dichotomie findet lediglich partielle Fortführung im Rahmen der Überlegenheit der Idee der griechischen Freiheit, während die ethnographischen Passagen im Bewusstsein eines universalen Ethnozentrismus ein weitgespanntes, bemüht vorurteilsfreies Bild einer heterogenen Oikumene entwerfen.


Zitiert nach: Herodt., I, Prooimion.

Zitiert nach: Herodt., I, 1, Prooimion.

Zitiert nach: Gigante, Marcello: Herodot. Der erste Historiker des Abendlandes, in: Walter Marg (Hg.): Herodot. Eine Auswahl aus der neueren Forschung, 3. Aufl., Darmstadt 1982, S. 263.

Zitiert nach: Ebd.

Plut., mor., 43.

Zitiert nach: Herodt., I, 60, 3.

Zitiert nach: Herodt., IX, 79, 1.

In seiner Herleitung des Begriffs ‚Barbaros‘ definierte der Geograph Strabon (1. Jh. v. Chr.) diesen als Schallwort: Die Silbe in lautmalender Verdopplung ahme unverständliche, stammelnde Laute nach, beziehe sich also auf ein sprachliches Unverständnis des Gegenübers. Vgl. Will: Herodot und Thukydides, München 2015, S. 145.

Zitiert nach: Herodt., III, 38, 1.

Zitiert nach: Herodt., III, 38, 4.

Zitiert nach: Herodt., II, 158, 5.

Zitiert nach: Herodt., VII, 135, 3.

Plut., mor., 43.

(Stand: 19.01.2024)  | 
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