Prof. Dr. Dietmar von Reeken im Interview zur Erinnerungskultur:

Welche Rolle nimmt die Demokratie in der Erinnerungskultur ein?

Dietmar von Reeken: Die Erinnerungskultur in Deutschland ist nach wie vor sehr auf das Scheitern der Weimarer Republik und die Verbrechen des Nationalsozialismus fokussiert. Man ging lange – auch in der Geschichtsdidaktik – davon aus, dass diese abschreckenden Negativbeispiele ausreichen, um zu verdeutlichen, was wir an der Demokratie haben. Doch dies ist ein Trugschluss. Wir müssen sowohl im Geschichtsunterricht als auch an außerschulischen Orten der Erinnerungskultur mehr und konstruktiver über die Demokratie sprechen.

Was kann man konkret tun?

Von Reeken: Geschichtslehrkräfte sollten vor Ort mit ihren Schülerinnen und Schülern Plätze der Demokratiegeschichte – Rathäuser, Marktplätze und so weiter – erkunden, sie mit Zeitzeugen sprechen und selbst forschen lassen. Der Vorteil: Wenn man über historische Fälle statt über aktuelle Konflikte spricht, nimmt man zum einen die Emotionalität raus und kann zum anderen überprüfen, wie sich demokratische Lösungen historisch ausgewirkt haben. Anhand solcher Beispiele können Jugendliche erfahren, dass es selten einfache Lösungen gibt. Und sie lernen, wie wichtig Frustrations- und Ambiguitätstoleranz sind, weil man in einer Demokratie seinen Willen nie vollständig durchsetzen kann.

Welchen Einfluss haben neue Medien auf die Erinnerungskultur?

Von Reeken: Einen sehr großen. Es ist eine Herausforderung für Institutionen der Geschichtsvermittlung, ihre Inhalte auch auf TikTok, Instagram oder X zu verbreiten – aber unumgänglich, um dieses Feld nicht Akteuren mit unguten Absichten zu überlassen. Am besten bezieht man auch hier die Adressatinnen und Adressaten aktiv mit ein. Sie wissen am besten, was sie interessiert. Denn der Geschichtsunterricht alleine reicht nicht aus, um Menschen gegenüber Extremismus zu immunisieren.

Interview: Henning Kulbarsch