Prof. Dr. Doreen Brandt

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Literatur in Zeiten der Schriftlosigkeit

Literatur in Zeiten der Schriftlosigkeit

Die niederdeutsche Literatur und Literatursprache von 1650 bis 1800

(Prof. Dr. Doreen Brandt)

Die niederdeutsche Schriftlichkeit hatte sich in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts kaum von der lateinischen emanzipiert, als sich bereits zu Beginn des 16. Jahrhunderts mit der Bevorzugung des Hochdeutschen in den fürstlichen und städtischen Kanzleien ein zweiter Schriftsprachenwechsel in der Geschichte der ndt. Sprache ankündigte, der in der Mitte des 17. Jahrhunderts zum Abschluss kam. Bis zur Rückkehr der ndt. Sprache in das Feld der Literatur im 19. Jahrhundert lässt sich deshalb zugespitzt von der Schriftlosigkeit der ndt. Sprache im Zeitraum von etwa 1650 bis 1800 sprechen.

Die Rede von der „Literatur in Zeiten der Schriftlosigkeit“ mag deshalb auf den ersten Blick in sich widersprüchlich erscheinen. Wenn man hingegen bedenkt, dass die ndt. Literatur in der angesprochenen Zeit zu einem erheblichen Teil nicht mehr das Ergebnis einer routinierten und eingeübten, einer allgemeinen und selbstverständlichen literarischen Praxis war, sondern das Resultat von bewussten und zeitlich wie räumlich punktuellen Handlungen, dann löst sich der Widerspruch auf. Der Verlust der Selbstverständlichkeit ndt. Literatur und Schriftkultur und das Bewusstsein dafür in Teilen der ndt. Sprachgemeinschaft zeigen sich u. a. daran, dass die überlieferten literarischen Zeugnisse nicht selten ihre eigene Sprachlichkeit und Sprachwahl thematisieren.

Diese vorläufigen Beobachtungen werden zum Ausgangspunkt für eine Untersuchung der ndt. Literatur im Zeitraum von 1650 bis 1800 gemacht. Ziel ist die Beantwortung der Frage, ob und inwiefern sich diese Literatur und der Verlust der Selbstverständlichkeit, auf Niederdeutsch literarisch produktiv zu sein, mit einem praxistheoretischen Zugriff beschreiben und auf diese Weise gegenüber der mittelniederdeutschen Literatur davor (13. bis 17. Jh.) und der neuniederdeutschen Literatur danach (19. Jh. bis heute) profilieren lässt. Vor dem Hintergrund von Diglossie und Mehrsprachigkeit im ndt. Sprachraum richtet sich der Fokus auf Kontinuitäten und Wandel, auf Abwesenheit, Brüche und Neuansätze literarischer Praktiken und damit zugleich auf die ndt. Schriftkultur – ein Interesse, das sich angesichts des Statuswandels und des Prestigeverlusts der in Rede stehenden Sprache geradezu aufdrängt. Wo die ndt. Literatur sich nämlich autoreflexiv zu ihrer Sprachlichkeit verhält, da geht dies nicht selten einher mit einer Klage über die verlorene Schriftkultur, z. B. in Caspar Abels Versepos von der „Hülflosen Sassine“ von 1738 (siehe Abb.).

Die Ergebnisse der Untersuchung sollen Eingang finden in eine handbuchartige Monographie mit Artikeln

(1) zu Forschungsgeschichte und Forschungsstand, wobei auch eine Verhältnisbestimmung zur Geschichte und Erforschung der Literatur anderer heute durch Nationalsprachen überdachter europäischer (Regional- oder Minderheiten-)Sprachen vorgenommen werden soll,

(2) zu den (sprachhistorischen) Bedingungen niederdeutscher literarischer Schriftlichkeit im Untersuchungszeitraum (siehe u. a. oben),

(3) zu Sprachwahl und Sprachthematisierung in der niederdeutschen Literatur,

(4) zu Phänomenen literarischer Mehrsprachigkeit und sprachlicher Variation,

(5) zu Gattungen, Textsorten und Medien, in denen das Niederdeutsche produktiv gemacht wurde oder produktiv blieb,

(6) zu Akteuren (und Akteurinnen?), die niederdeutsch dichteten oder schrieben oder die niederdeutsche Literatur herausgegeben oder gedruckt und verlegt haben, und schließlich

(7) zur Verhältnisbestimmung der untersuchten Literatur zur älteren mittelniederdeutschen, zur gleichzeitigen hochdeutschen und zur nachfolgenden neuniederdeutschen Literatur des 19. Jahrhunderts.

Auf diese Weise wird der Versuch unternommen, den Untersuchungszeitraum umfassend literaturhistorisch zu profilieren und damit die Lücke zu schließen, die sich in der Wahrnehmung dieses Zeitraums als ‚Übergang‘, ‚Zwischenzeit‘ und ‚Kluft‘ bisher immer noch auftut.

Das bislang zu beobachtende geringe Interesse am Untersuchungsgegenstand steht im völligen Widerspruch zum Erkenntnisgewinn, den eine Untersuchung verspricht, die sich für den Wert von Schriftkultur und Literatur interessiert, und zwar aus Sicht einer Sprachgemeinschaft, die ihre verloren hat oder als verloren begreift.

Voraussetzung für das angestrebte Vorhaben ist die bislang fehlende umfangreiche Dokumentation und eine nach bibliografischen und literaturwissenschaftlichen Kategorien zu leistende Systematisierung der ndt. literarischen Überlieferung in Druck und Handschrift im Untersuchungszeitraum.

Ein Antrag auf Drittmittelförderung des Projekts wird derzeit vorbereitet und unterstützt durch die Anschubförderung des Präsidiums der Universität Oldenburg un der Fakultät III Sprach- und Kulturwissenschaften.

Weiterführend: Doreen Brandt: Niederdeutsch nirgendwo? Neue Perspektiven auf die niederdeutsche Literatur von 1650 bis 1800. In: 100 Jahre Niederdeutsche Philologie. Ausgangspunkte, Entwicklungslinien, Herausforderungen. Teilbd. 2: Aktuelle Forschungsfelder. Hrsg. v. Andreas Bieberstedt, Doreen Brandt, Klaas-Hinrich Ehlers, Christoph Schmitt. Berlin u. a. 2024 (Regionalsprache und regionale Kultur 7), S. 503–534.

Niederdeutsch-Webmaster (Stand: 14.11.2024)  | 
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