Fischer, Lisa Marie
Fischer, Lisa Marie
Lisa-Marie Fischer:
Ideal und Umsetzung der historischen Methode bei Thukydides
Eine höchst aktuelle ist die Forderung nach objektiver Berichterstattung der verschiedenen Medien, ihre Konsumenten fordern illusionslose, wahrheitsgemäße Aufklärung von Ereignissen und Ereigniszusammenhängen. Dieser Wunsch und der Versuch der bestmöglichen Umsetzung dieser - gegenwärtig gleichsam Kriterium für die Qualität von Journalismus sowie Historiographie - ist kein Phänomen der globalisierten Moderne.
Bereits ab dem 5. Jahrhundert v. Chr. gab es Bestrebungen, dem Rezipienten einer Vergangenheitsdarstellung heutige Ideale einer wissenschaftlichen Geschichtsschreibung - Objektivität und Genauigkeit der Fakten - zu bieten. Der griechische Geschichtsschreiber Thukydides gilt häufig als Begründer dieses um Genauigkeit und Nutzen bemühten literarischen Umgangs mit historischen Ereignissen. Seine "höchste methodologische Maxime"[1], das betont er selbst in seiner Abhandlung über den Peloponnesischen Krieg, sei es, den Hauptinhalt möglichst nah an dem zu orientieren, was wirklich vorgefallen sei. Seine Ideale sind deshalb so exakt zu benennen, da er - als erster Historiker überhaupt - innerhalb eines Methodenkapitels und damit der eigentlichen Kriegsdarstellung vorangestellt ein Bild der von ihm vertretenen Vorstellungen über die Möglichkeiten, Pflichten und Hürden des Metiers entwirft und seiner Rezipientenschaft damit einen außergewöhnlich detailreichen Einblick in seine historiographische Arbeit gewährt. Beispiellos freimütig und aufrichtig - so scheint es - lässt der Historiker den Leser an seiner in besonderer Weise kritisch-reflektierenden Vorgehensweise teilhaben. Epochal ist zudem das Ziel des Thukydides: "ein[en] Besitz für immer"[2] soll das Werk sein, welches Einsicht in die innersten, universalen Kräfte der menschlichen Geschichte gewährt und ein durchdringendes Verständnis dieser ermöglicht.
Der postulierte und in der Forschung häufig gelobte thukydideische Objektivitätsanspruch bildet - auch diese Ansicht wird in der Literatur erbittert diskutiert und zuweilen geteilt - einen Widerspruch zu den werkimmanenten Zugeständnissen an eine Subjektivität, sodass Zweifel an der Glaubwürdigkeit und Zuverlässigkeit des Geschichtsschreibers und seiner Arbeit entstehen. Die Reden, so teilt der Historiker seiner Rezipientenschaft mit, seien "wiedergegeben unter möglichst engem Anschluss an den Gesamtsinn des Gesagten"[3]. Inwieweit jedoch in Folge einer zugestandenen, sich in diversen Formulierungen des Thukydides manifestierenden Fiktionalität von historiographischem Authentizitätsverlust des Werkes gesprochen werden kann, wird für entscheidende Kapitel untersucht.
Im Zuge einer eingehenden Analyse bemerkenswerter Passagen sowie Stil und Ausdruck des Historikers zeichnet sich zunehmend ab, dass Thukydides eine konstruktive Eigenaktivität in Anspruch nimmt, die gleichsam sein Verständnis von Wahrheit und Objektivität einem übergeordneten Ziel anpasst. Diese Zielsetzung beinhaltet das Bestreben, tieferliegende anthropologische Kräfte sowie historische Gesetzmäßigkeiten aufzudecken und der Leserschaft damit eine zeitunabhängige Orientierungshilfe im politischen und gesellschaftlichen Gefüge zu sein. Die Konzentration auf den vom Geschichtsschreiber so benannten "Gesamtsinn",[4] steuert damit seinen Arbeits- sowie Verschriftlichungsprozess und bringt eine innovative Definition des Wahrheitsbegriffs hervor. Wahrheit ist im thukydideischen Verständnis eben nicht gleichzusetzten mit absoluter Faktentreue. Wahrheit ist für den antiken Historiker eng an das Ermöglichen von Verständnis geknüpft. Der Schlüsselbegriff des handlungsorientierten Verstehens ist daher weniger auf der Vermittlung von isolierten Kenntnissen und Fakten ausgerichtet, als vielmehr auf die Offenlegung einer Gesamttendenz, die das Werk letztlich zu einer konstanten Quelle anthropologischer Dispositionen erhebt - im Sinne seines Autoren zu einem "Besitz für immer."