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Hier schreiben Wissenschaftler*innen der Universität Oldenburg und Gastautor*innen darüber, wie sich Gesellschaften selbst wahrnehmen und thematisieren, sich ihrer jeweiligen Gegenwart vergewissern und dabei in die Zukunft entwerfen.

Wie stehen diese Selbstwahrnehmungen und -entwürfe mit Institutionen, Medien und Techniken zur Gestaltung von Natur, Gesellschaft und Subjektivität in Verbindung? Wie modellieren sie den lebensweltlichen Alltag und halten Menschen zu einem bestimmten Verhalten an? Wie werden diese Interventionen in das Gegebene begründet und legitimiert, aber auch kritisiert, verworfen oder unterlaufen?

Diesen Fragen, deren interdisziplinäre Reflexion eines der zentralen Anliegen des Wissenschaftlichen Zentrums „Genealogie der Gegenwart“ ist, gehen die Blogger aus unterschiedlichen Fachperspektiven und Tätigkeitszusammenhängen mit Blick auf kontrovers verhandelte Themen wie Migration, Ungleichheit, Digitalisierung, Kriminalität, Gesundheit und Ökologie nach.

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Bildung. Krise. Krieg.

von Steffen Hamborg

von Steffen Hamborg

Keynote-Vortrag auf der Nachwuchstagung „Gesellschaftliche Transformation und politische Bildung“ der Gesellschaft für Politikdidaktik und politische Jugend- und Erwachsenenbildung (GPJE) an der Stiftung Universität Hildesheim, 04. März 2022

Krieg in der Ukraine

Die aktuellen Ereignisse in der Ukraine und darüber hinaus lassen – so wage ich anzunehmen – uns alle nicht kalt. Sie machen das alltägliche Leben, das ungemindert weitergeht und dem externen Anspruch nach auch weiterzugehen hat, obwohl sich doch vieles gerade grundsätzlich ändert und infrage steht, nicht gerade einfacher. Zumindest geht es mir so und die Vorbereitung auf diesen Vortrag fand so gesehen unter nicht gerade optimalen Umständen statt.

Doch was wiederum sind das für Befindlichkeiten in Anbetracht dessen, was derzeit geschieht: Der russische Staat führt unter der Regentschaft von Wladimir Putin einen Angriffskrieg in der Ukraine; Deutschland ist – neben vielen anderen Ländern – durch direkte Waffenlieferungen an die Ukraine und nie dagewesene Wirtschaftssanktionen längst zur womöglich mehr als nur mittelbaren Konfliktpartei geworden. Quasi über Nacht wurde zudem entschieden, die Bundeswehr mit einem Sondervermögen von 100 Milliarden Euro auszustatten und die Rüstungsausgaben auch künftig deutlich zu erhöhen.

Während wir hier tagen, sterben Menschen in der Ukraine im Krieg, werden physisch und seelisch verwundet. Über eine Million Menschen befinden sich auf der Flucht, andere verharren in U-Bahnstationen, Bunkern und Kellern – teils ohne Wasser, Essen, Strom und Wärme. Das Ganze passiert nur gute tausend Kilometer, etwa eine Tagesreise mit dem Auto von uns entfernt. Und auch die Sorge, dass sich die derzeit regional begrenzten Kampfhandlungen ausweiten, es möglicherweise sogar zum Einsatz von Atomwaffen kommt, scheint nicht gänzlich unbegründet. Im Vergleich zur Situation vor dem russischen Einmarsch in die Ukraine ist auch die Gefahr hierfür zumindest eine deutlich größere geworden.

Was bedeutet es, sich im Angesicht dieser Ereignisse mit der Frage zu befassen, welche Rolle (politische) Bildung für gesellschaftlichen Wandel spielen kann, darf und sollte, wie es in der Programmankündigung heißt. Für mich bedeutete es zunächst ganz konkret, dass ich den Vortrag, wie ich ihn ursprünglich angedacht hatte, nicht würde ausarbeiten können. „Turning a blind eye“ – wie Annalena Baerbock es in ihrer Rede vor der Generalversammlung der Vereinten Nationen ausgedrückt hat – wegschauen und so tun, als wenn nichts wäre, war keine Option.

Was also dann? Ich möchte im Folgenden versuchen, anhand und im Angesicht der aktuellen Geschehnisse eine Argumentation zu entwickeln, was Bildung im Hinblick auf gesellschaftliche Krisenverhältnisse leisten kann, was sie nicht leisten kann und inwiefern es gefährlich sein könnte, würde man darauf setzen oder hoffen, dass sie funktionalistisch Wirk-, Verwert- oder Verrechenbares zu leisten imstande sei. Mancher Gedanke mag dabei auf den ersten Blick skurril anmuten und wir können am Ende gerne diskutieren, inwiefern hier nicht auch unpassende Analogien gezogen werden. Meine den Vortrag antreibende Vermutung jedoch ist, dass es gerade diese harte und unumstößliche Realität des Krieges in der Ukraine ist, die uns einen demütigeren und am Ende dennoch nicht pessimistischen Blick auf die Chancen und Grenzen von Bildung im Angesicht von Krisen, Wandel und Transformation zu werfen erlaubt.

Jenseits von Eingreifen und Wegschauen

Wo also beginnen? Ich schlage vor, hier und heute auf unserer Nachwuchstagung, die nicht nur im Gegenstand der politischen Bildung, sondern auch institutionell im Hybrid von Bildung und Forschung, von Promotionsstudium und Wissenschaft dem Bildungssektor zuzuordnen ist. Es ist offenkundig: Von dieser Tagung werden keine unmittelbaren Wirkungen auf den Krieg in der Ukraine oder die darauf bezogene Politik Deutschlands ausgehen. Diese Tagung ist kein Hilfskonvoi, keine internationale Brigade, keine Institution, die Sanktionen erlässt oder Verhandlungen befördert, ja nicht einmal öffentlich Stellung bezieht und Verlautbarungen erlässt. Doch warum ist das eigentlich so? Warum ist unser Zusammenkommen dergestalt entkoppelt von dem aktuellen geopolitischen Geschehen? Schließlich versammeln sich hier doch allerhand Menschen, die sich – so meine Annahme – selbst als politisch bezeichnen würden und vom Interesse der Arbeit an gesellschaftlicher Veränderung zum Besseren hin, zur Arbeit an einer besseren Welt geleitet sind.

Meine These, die ich im Weiteren näher entfalten möchte, ist, dass dies weniger an den Menschen, ihren Werten, Interessen und Absichten liegt, sondern in der Form begründet ist, in der wir hier zusammenkommen; einer Form, die – so meine ich – eine Reihe von Charakteristika aufweist, die Bildungsangelegenheiten insgesamt zugesprochen werden kann und die uns einige Auskünfte über den Zusammenhang von Bildung und Transformation zu geben vermag.

Zentral für diese Form ist – und hier greife ich erneut auf die deutsche Außenministerin Baerbock zurück –, dass sie sich genau nicht in der Opposition von „taking action and turning a blind eye“ erschöpft. Die Form, in der Bildung sich als Vollzugsrealität prozessiert, ist vielmehr konstitutiv auf ein Drittes verwiesen, das sich jenseits von Eingreifen und Wegschauen bewegt. Ob in der Aneignung eines Wissens, dem Einüben eines Könnens oder der Herausbildung und Veränderung eigener Haltungen und Positionierungen – Bildung ist nicht Wegschauen, sondern eine tätige Auseinandersetzung, ein ‚Sich-in-Beziehung-setzen‘ mit der Welt. Sie ist dabei jedoch ebenso wenig selbst schon ein Eingreifen, sondern formiert als individueller Prozess, als Selbstkonstruktion in Wechselwirkung mit der Welt vielmehr die Voraussetzungen, die Bedingtheit künftigen Handelns.

Auf unsere Tagung gemünzt könnten wir sagen: Wir kommen zusammen, um uns einander etwas zu zeigen und voneinander zu lernen. Nicht etwa die Beschlussfassung als operative Basis des Gebrauchs von Verfügungsrechten – wie z.B. die Verabschiedung von Sanktionen – oder die öffentliche Kundgebung als operative Basis des Protests – wie z.B. gegen den Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine –, sondern das Zeigen in Hinsicht auf Lernen, das mit Klaus Prange als operative Basis des Pädagogischen verstanden werden kann, bildet die Grundform, in der sich unsere Zusammenkunft vollzieht. Bei dieser Tagung geht es so gesehen nur vorgeblich um die Gegenstände, die wir in den Blick nehmen. In operativer Hinsicht, vom praktischen Vollzug und der Frage ‚wer hier wen auf welche Weise adressiert‘ her betrachtet, geht es vielmehr um uns selbst. Es sind unsere Selbst-, Mit- und Weltverhältnisse, unser Wissen, Können und Wollen, das wir gegenseitig im Visier haben, wenn wir einander sendungsbewusst zeigen, was wir für mitteilungsbedürftig halten, oder wenn wir interessiert zuhören, was andere zu sagen haben.

Pädagogische Hybris im Kurzschluss von Politik, Pädagogik und Utopie

Was nun kann ein solches Geschehen im Hinblick auf gesellschaftliche Krisenverhältnisse leisten und was nicht? Und was wäre warum gefährlich, nähmen wir an, Bildungsarbeit könne eben dies bewirken? Ich werde diese Fragen von hinten aufrollen und mit den Gefahren beginnen, die ich insbesondere im Zusammenhang mit pädagogischem Machbarkeits- und Verfügbarkeitsdenken sehe. Was bedeutet das?

Das Pädagogische ist seiner inhärenten Logik folgend unhintergehbar auf den Vorgriff auf Künftiges verwiesen. Gäbe es nicht die Erfahrung und Vorstellung, wir könnten mit pädagogischen Mitteln Einfluss auf die Entwicklung von Menschen nehmen, wäre jegliche professionelle Bildungs- und Erziehungsarbeit obsolet. Bildungs- wie Erziehungsarbeit bringen sich so notwendig als eine Poiesis, eine verfertigende, herstellende Aktivität der Einflussnahme auf Entwicklung hervor, die ihren Zweck in der Schaffung von etwas außerhalb ihrer selbst Fortwährendes und -wirkendes hat.

Was jedoch beim Einzelnen schon alles andere als gesichert ist, gerät in der Übertragung auf Gattung und Geschichte, also auf die Menschheit und Gesellschaft als Ganze schließlich zur pädagogischen Hybris schlechthin. Mit der Idee – hier beziehe ich mich auf Micha Brumlik –, es ließe sich mit pädagogischen Mitteln ein Menschenschlag hervorbringen, der das Errichten einer neuen politischen Ordnung oder die Schaffung einer besseren Welt ermögliche, vollzieht sich ein zutiefst erkenntnis- und erfahrungswidriger Kurzschluss von Politik, Pädagogik und Utopie.

Entsprechende Vorstellungen, der Weltfrieden und die Überwindung von Herrschaftsverhältnissen ließen sich mittels einer emanzipativen Befreiungspädagogik herbeiführen, muten nicht erst unter dem aktuellen Eindruck des Kriegs in der Ukraine wie anachronistische Produkte einer aufklärungspädagogischen Traumfabrik an – von den Möglichkeiten akuter Einwirkung im gegenwärtigen Kriegsgeschehen ganz zu schweigen. Was hier absurd erscheint, ist in den Kosmologien von Nachhaltigkeit und sozial-ökologischer Transformation hingegen ernst gemeintes Programm. So heißt es etwa in der Berliner Erklärung für Bildung für nachhaltige Entwicklung, um nur ein Beispiel unter vielen zu zitieren:

„Wir sind zuversichtlich, dass Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE) […] als Wegbereiter aller 17 Nachhaltigkeitsziele die Grundlage für den erforderlichen Wandel bietet, indem sie jedem und jeder Wissen, Kompetenzen, Werte und Einstellungen vermittelt, die notwendig sind, um den Wandel hin zu einer nachhaltigen Entwicklung mitzugestalten.“

Der hier formulierte Universalanspruch ist kaum zu überbieten. Nicht nur werde mit Bildung für nachhaltige Entwicklung die Grundlage zur Erreichung aller (!) Nachhaltigkeitsziele geschaffen; imaginiert wird auch noch der erfolgreiche Zugriff auf die gesamte Menschheit. Unterhalb der Weltrettung machen wir es nicht und was es dafür braucht, legen wir uns in einer Kausalkette zurecht, ließe sich die Erklärung etwas polemisch ergänzen.

Die Probleme, die damit einhergehen, – ich benenne die Punkte hier nur kurz – reichen von einer entpolitisierenden Vereindeutigung der Welt, einer verwertungslogischen Verzwecklichung von Bildung und einer verdinglichenden Verfügbarmachung von Menschen über eine geistige Indienstnahme künftiger Generationen für gegenwärtige politische Projekte, eine intragenerationale Selbstdistanzierung der auf künftige Generationen Hoffenden und Wirkenden bis zu einer Verantwortungsdiffusion durch das Verkennen bezahlter Bildungsarbeit als einer politischen Arbeit an einer besseren Welt sowie einer Abblendung generativer Zeitlichkeit von Bildung und Erziehung.

Bildung als gesellschaftliche Verkehrsform denken

Ausgerechnet Karl Marx hatte an zentraler Stelle in seinen Feuerbachthesen bereits einen entsprechenden Sinn für die Probleme pädagogischer Hybris und zugleich einen Ansatz, wie das Ganze auch anders zu denken sei. Ich zitiere:

„Die materialistische Lehre, daß die Menschen Produkte der Umstände und der Erziehung, veränderte Menschen also Produkte anderer Umstände und geänderter Erziehung sind, vergißt, daß die Umstände eben von den Menschen verändert werden und daß der Erzieher selbst erzogen werden muß. Sie kommt daher mit Notwendigkeit dahin, die Gesellschaft in zwei Teile zu sondern, von denen der eine über der Gesellschaft erhaben ist. Das Zusammenfallen des Änderns der Umstände und der menschlichen Tätigkeit kann nur als umwälzende Praxis [in der nicht von Engels überarbeiteten Version heißt es revolutionäre Praxis; S.H.] gefaßt und rationell verstanden werden.“

Was bedeutet das für uns? Worauf Marx hier in aller Deutlichkeit verweist, ist Folgendes: Wer mit Bildungsarbeit als einer die Menschen zielgerichtet verändernden Tätigkeit versucht, die Gesellschaft zu verändern, hebt sich selbst aus der Gesellschaft heraus und positioniert sich als über sie erhaben. Ich würde ergänzen: und stellt sich damit ins Abseits. Die Bildungsprozesse anderer sind dann nur noch verdinglichte Bewegungsmasse im eigenen Kalkül. Für Cornelius Castoriadis wäre diese Form politischer Bildung vermutlich eine Politik im schlechten Sinne, verstanden als – Zitat – „die manipulative Behandlung von Menschen als Dinge nach Maßgabe ihrer Eigenschaften und ihrer als bekannt unterstellten Reaktionen“.

Ob nun eine revolutionäre Praxis der Ausweg sein könnte und was das genau hieße, möchte ich dahingestellt lassen. Aufgreifen möchte ich vielmehr den praxistheoretischen Aufwurf, der hier vorbereitet wird. Wir kehren damit zurück zum Formgedanken der Bildung, den ich eingangs stark gemacht habe, und zu der Frage: Was kann Bildung im Angesicht gesellschaftlicher Krisenverhältnisse leisten? Was bleibt übrig, wenn das für pädagogisches Denken so zentrale Imaginäre einer verfertigenden Einflussnahme auf individuelles Werden suspendiert wird?

Betrachten wir also die Form, das operative Geschehen, den Praxisvollzug von Bildungsarbeit, dann geraten bestimmte Gestalten gesellschaftlichen Verkehrs in den Blick, die für Bildungsräume charakteristisch sind: das von unmittelbarem Handlungsdruck entbundene, gemeinsame Reflektieren auf Welt, das in diesem Sinne geteilte Welten erzeugt; Austausch und Diskussion, die zu keinem Ergebnis kommen müssen und dennoch oder gerade deswegen besonders ertragreich sein können; und so weiter und so fort. Bildung verschafft diesen und anderen Verkehrsformen im wahrsten Sinne Zeit und Raum; sie ist darin ohne Zweifel und gerade auch in Zeiten gesellschaftlicher Krisen von hoher gesellschaftlicher Relevanz und direkt performativ wirksam. Dass wir heute in dieser Form zusammenkommen, macht also einen Unterschied; auch dann, wenn die Welt da draußen dadurch nicht bereits eine andere und bessere geworden ist.

 

Steffen Hamborg, Dr. phil., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter und Koordinator des Verbundprojekts „Transformation durch Gemeinschaft. Prozesse kollektiver Subjektivierung im Kontext nachhaltiger Entwicklung (TransGem)“ an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg.

Kontakt:  

(Stand: 19.01.2024)  | 
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