Gräf
Gräf
Gräf, Dietmar
Statement
„Eine Komposition soll die Kenntnis und Beherrschung der wichtigsten Kulturtechniken widerspiegeln und gleichzeitig Neues und Individuelles hervorbringen.“
Tabellarischer Lebenslauf
Dr. phil. Dietmar Gräf M.A.
Komponist, Dirigent, Pianist, Kirchen-A-Musiker, Musikwissenschaftler
1943 | geboren am 1. Juni in Marienbad |
1945 | Vertreibung, danach Familienwohnsitz in Bayreuth |
1963-1966 | Musikstudium an der Kirchenmusikschule Regensburg |
1966-1968 | Lehrer der Regensburger Domspatzen |
1968-1969 | Domkapellmeister in Eichstätt |
1969-1973 | Studium der Kirchenmusik (A), der Schulmusik sowie der Konzertfächer Klavier und Orgel an den Musikhochschulen in München und Würzburg |
1972 | Dirigiermeisterdiplom bei Prof. Swarowsky (Wien) |
1969-2008 | Schulmusiker in Mindelheim, Bamberg und München und A-Kirchenmusiker in Bad Wörishofen |
1973 | Gründung und Leitung (bis heute) des Förderkreises für Symphonie- und Kammerkonzerte e.V. |
1976-1980 | Studium der Musikwissenschaft, Musikerziehung und Pädagogik an der Ludwig-MaximiliansUniversität München, abgeschlossen 1981 als Magister Artium und 1985 durch Promotion an der Fakultät für Geschichts- und Kunstwissenschaften 1978-2014 Gründung und Leitung des musica sacra chores e.V. |
1981-2003 | Dozent für Klavier, Orgel und Methodik am Lehrstuhl für Musikpädagogik an der LMU München |
2009 | Gründung einer Meisterklasse für Klavier (mit Meisterklassen-Diplomabschluss) |
2009-2013 | Intendant und Musikalischer Leiter des Kneipp-Musik-Festivals, Bad Wörishofen |
ab 2013 | Fachgruppenleiter für Musik der KünstlerGilde e. V. (Sitz Esslingen) sowie Juryvorsitzender des Johann-Wenzel-Stamitz-Preises |
ab 2015 | Juror in internationalen Musikwettbewerben Zweiter Bundesvorsitzender der KünsterGilde e. V. (Sitz Esslingen) |
In den letzten 55 Jahren über 2000 Konzerte als Dirigent, Pianist und Organist und Mitwirkung in zahlreichen Ensembles; Leitung namhafter Symphonieorchester im In- und Ausland. Zahlreichen Tourneen führten unter anderem nach England, Frankreich, Italien, Ungarn, Russland, Kanada, Chile, Österreich, Polen, Rumänien, in die Tschechische Republik und die Schweiz. Viele Film-, Funk-, Fernseh- und Tonträgeraufnahmen sowie Uraufführungen. Das kompositorische Werk umfasst inzwischen bis jetzt über 500 Werke, von denen in den letzten Jahren mehrere uraufgeführt wurden.
Auszeichnungen, Preise, und Mitgliedschaften
1986 | Landkreisehrennadel des Landkreises |
1988 | Silberne Verdienstmedaille Bad Wörishofen |
1999 | Berufung zum Mitglied der Künstlergilde Esslingen |
2001 | Sudetendeutschen Kulturpreis für Musik |
2003 | Goldene Verdienstmedaille Bad Wörishofen Aufnahme als Komponist in die GEMA |
2004 | Bundesverdienstkreuz am Bande Berufung zum ordentlichen Mitglied der Sudetendeutsche Akademie der Wissenschaften und Künste |
2009 | Päpstliche Goldmedaille anlässlich der dritten Romreise des musica sacra chores |
2010 | Johann-Wenzel-Stamitz-Preis für Musik der KünstlerGilde |
Buchpublikationen:
Die Veränderung der Einstellung zur Musik und zum Musikunterricht durch Werkanalyse, Dissertation, Frankfurt am Main 1985; Der Choral Gregors des Großen. Ein Beitrag zur Didaktik des Gregorianischen Chorals, Frankfurt am Main 1994; Mitarbeit an der Schulbuchreihe „Spielpläne Musik“ für Gymnasium (Bd. 5-10, 1996 -2002)
Dietmar Gräf: Die Polytonalität, meine Kompositionsmethode.
Durch Zufall kam mir am 1. August 1992 beim Improvisieren am Klavier der Einfall für meine - von mir später so genannte – Polymodalität. Ich improvisierte mit einer Hand auf den schwarzen Tasten und mit der anderen auf den weißen. Es ist schon klar, dass das nichts Neues war. Trotz allem hörte ich sehr intensiv die vorhandene Pentatonik der Verwendung aller schwarzen Tasten und dachte mir ab einem gewissen Zeitpunkt, dass ich doch, auf den weißen Tasten auch eine Pentatonik hinzunehmen könnte, um dann beide Pentatoniken zu kombinieren. Es gibt schon da ein paar verschiedene Möglichkeiten, indem man z.B. für die „Schwarze-Tasten-Pentatonik“ einen Grundton festlegt, sagen wir das fis (bzw. ges) und für die gewählte „Weiße-Tasten-Pentatonik“ ebenfalls einen Grundton, sagen wir für die Reihe „f-g-a-c-d-f“. Beide Pentatoniken hätte dann die gleiche Folge an Intervallen, nämlich „Grundton-große Sekund-große Sekund-kleine Terz-große Sekund-kleine Terz“. Diese Intervallfolge ist bekannt unter dem Begriff „Chinesische Pentatonik“ und natürlich noch gar nichts Besonderes. Ich nannte sie damals einfach Bi-Pentatonik, so wie es die Bitonalität gibt, beispielsweise F-Dur und Fis-Dur zu kombinieren. Interessant ist auch Fis-Dur und C-Dur (siehe z.B. Strawinskys Petruschka, dort gibt das Tritonusverhältnis der beiden Durtonarten noch einen besonderen Reiz ab).
Es ist durchaus bereits ein Unterschied, ob - um bei dem erstgenannten Beispiel zu bleiben - in beiden pentatonischen Tonleitern - intervallmäßig betrachtet bzw. angewandt - die gleiche Intervallfolge benutzt wird. In der einen Hand etwa nicht f als Grundton zu setzen, sondern c, dann bekommen wir mehrere Möglichkeiten (hier nur sehr wenige genannt): a) c-d-e-g-a-c. Das hat noch die gleiche Intervallstruktur, nicht aber b) c-d-f-g-a-c! Man könnte hier - abgeleitet von den sog. Kirchentonarten - a) authentisch nennen und b) plagal. Ein Ausflug in die sog. Kirchentonarten wäre hier möglich oder auch angebracht. Beschränken wir uns auf ein einziges Beispiel. Dorisch (oder auch 1. Modus) ohne Vorzeichen benutzt diese Tonfolge: d-e-f-g-a-h-c-d; das ist das authentische Dorisch, mit dem Schlusston (oder der Finalis) d und dem sog. Tenor (Aussprachebetonung auf der zweiten Silbe; es gibt auch noch andere Bezeichnungen wie Rezitationston, Repercussa oder Tuba) - eine Art Vorläufer der späteren Dominante – auf der Quinte a. Das ist der Ton, um den herum sich das melodische Hauptgeschehen abspielt. Die Melodie wird sich am Ende aber immer wieder zur Finalis begeben. Sie ist nicht – wie im Dur-Moll-System – identisch mit den Grundton (das hier näher zu erläutern wird definitiv zu weit). Hypodorisch hingegen nimmt diese Tonfolge: a-h-c-d-e-f-g-a. (Man denkt, das wäre äolisch oder natürliches Moll.) Hierbei handelt es sich aber um den plagalen dorischen Modus. Der Schlusston bleibt das d, der Ambitus liegt aber tiefer und der Tenor befindet sich auf der Terz der Finalis, nämlich auf dem f!
In gregorianischen Ausgaben (z.B. im sog. „Graduale Romanum“) findet man Hunderte von Beispielen für beide dorischen Tongeschlechter und für alle anderen auch. Es wird einem sogar leicht gemacht, indem der jeweilige Modus angegeben wird, z.B. für dorisch eine römische Eins und für Hypodorisch eine römische Zwei.
Weiter oben habe ich bereits auf die Bitonalität verwiesen. Jeder Musiker hat mit Sicherheit auch von der sog. Polytonalität gehört. Bei der Bitonalität werden zwei verschiedene Tonarten (mit oder ohne Vorzeichen) kombiniert, es muss dabei noch gar nicht eine Dur- und eine Molltonart kombiniert werden. Schon zwei Durtonarten erzeugen sehr reizvolle Klangergebnisse. Nehmen wir ganz einfach C-Dur und A-Dur. Das kann jeder selbst ausprobieren. Zur Erklärung der Polytonalität schlage man kurz und bündig den Sachteil des Riemann-Lexikons auf (oder den betreffenden Artikel von „Das Große Lexikon der Musik“ von Honegger-Massenkeil). Die „Groupe des Six“ um Milhaud benutzte die Polytonalität mit Vorliebe. Es werden drei und mehr Dur- und Molltonarten gleichzeitig (vertikal und horizontal) zum Klingen gebracht, z.B. D-Dur, As-Dur, b-moll und fis-moll. Der geneigte Leser möge damit experimentieren bzw. kombinieren bzw. komponieren. Er stelle bitte die möglichen und unmöglichsten Kombinationen auf. Auch heute noch kann man damit sehr lustig, aber gewiss auch ernst komponieren, je nach Anlass, Thema, Lust und Laune usw. Das war nun aber nur ein Vorgeplänkel zur Hinführung auf meine Polymodalität.
Es wird vermutlich (fast) jedem bekannt sein, dass es die Modi nicht nur ohne Vorzeichen gibt, sondern dass sie transponierbar sind, so wie Dur und Moll eben auch. Nehmen wir vorläufig nur die bekanntesten, nämlich die sog. Kirchentonarten dorisch, phrygisch, lydisch und mixolydisch und stellen uns mit diesen mögliche Kombinationen vor; wobei man am Anfang bei einem Modus bleiben kann, den man dann in verschiedenen Tonhöhen nimmt, also mit verschiedenen Vorzeichen. Ich nehme hier eine willkürliche Kombination: c-dorisch (c-d-es-f-g-a-b-c) und e-dorisch (e-fis-g-a-h-cis-d-e). Dorisch hat ja die Halbtonschritte, die selbstverständlich eine große Rolle spielen (was man gut in Kodálys Chorschule studieren kann, die übrigens eine unglaublich gute Hörschulung ist), von 2. zum 3. Ton und vom 7. zum 8. Ton. Ich möchte hier musikpädagogisch wirklich dringend darauf hinweisen, dass es sinnvoll ist, frühzeitig (habe ich mit 3-bis 5-jährigen Kindern praktiziert) diese Modi zu nehmen, damit zu spielen, zu singen und mit ihnen zu improvisieren. Es fällt Kindern nicht schwer, wenn man es richtig und frühzeitig „anpackt“. Für alle Modi gibt es „populäre“ Beispiele, kirchliche, weltliche, klassische und auch aus der Rockmusik. (Beschränken wir uns hier auf ein Beispiel für Dorisch: What shall we do with a drunken sailor.) Nimmt man im Kindergarten - wie es üblich ist - nur Dur- und Molllieder, bildet sich so etwas wie ein Tunnelgehör heraus, das später schwer korrigiert bzw. therapiert werden kann. Probieren Sie doch aus, auf eine Notentafel d-e-f hinzuschreiben (z.B. wirklich auch auf Notennamen) und lassen das singen, so singen die Kinder in aller Regel statt f die Tonhöhe fis. Warum? Weil sie gehörsmäßig in erster Linie auf die große Terz (Dur) fixiert sind.
Lassen Sie uns jetzt weiterfahren mit ein paar wenigen - der im Endeffekt fast endlosen - Kombinationsmöglichkeiten.
Bisher waren wir bei Bimodal (weiteres Beispiel: Bi-Lydisch; von mir aus d-lydisch, nämlich d-e-fis-gis-a-h-cis-d, kombiniert mit b-lydisch, b-c-d-e-f-g-a-b). also wie gesagt, die bisherigen zwei Beispiele waren Monomodal, so wie wenn man zwei Durtonarten kombiniert, das ist auch Mono-Tongeschlechtlich, bezogen auf das Tongeschlecht Dur, allerdings mit verschiedenen Transpositionen und dadurch auch wiederum Bitonal, bezogen auf den unterschiedlichen Grundton und auf die unterschiedlichen B- und Kreuztonarten. Interessanter wird es schon, Dur- und Molltonarten zu kombinieren. Beispiel: G-Dur und b-moll oder B-Dur und fis-moll.
Das ist freilich alles noch Bitonal. Fortgesetzt in Polytonal z.B. vorläufig drei oder vier Dur- und Molltonarten gleichzeitig: As-Dur, h-moll, Cis-Dur und f-moll. Ich habe hier keine Spekulationen angestellt sondern willkürliche Kombinationen gewählt. Es gibt sehr wohl auch gut überlegte Kombinationen, je nach bezwecktem Klangergebnis oder – erlebnis. Will man es vielleicht vom Ausgangspunkt (und evtl. auch beim Endklang) etwas konsonanter haben, so könnte man als Grundtöne c, es, g und h nehmen. (In Akkorden z.B. c-moll, Es-Dur, g-moll, H-Dur; oder mit den gleichen Grundtönen: C-Dur, es-moll, G-Dur, h-moll.) Dieser Zusammenklang mit c, es, g, h klingt für heutige Ohren (z.B. im Jazz) keineswegs ungewohnt. Das ist zwar nicht gerade konsonant, aber auch nicht schauderhaft dissonant.
Bisher waren wir hauptsächlich bei Bitonal und Polytonal. Nun angewandt auf Bimodal und dann auf Polymodal kommt man auf unglaublich viele klangliche Möglichkeiten und Ergebnisse.
Weiter oben hatten wir schon Bimodal mit nur einem Modus, aber zwei verschiedenen Grundtönen. Bauen wir da noch einmal auf. Nehmen wir für Bimodal ein einfaches Beispiel (zuerst mit dem gleichen Modus, aber auf verschiedenen Tonhöhen, d.h. mit Vorzeichen): es-dorisch kombiniert mit fis-dorisch. (Halbtonschritte streng beachten.) Nun mit zwei verschiedenen Modi: es-dorisch mit fis-mixolydisch (das vorzeichenlose mixolydisch geht von g aus, also g-a-h-c-d-e-f-g, hat folglich die Halbtonschritte vom 3. zum 4. Ton und vom 6. zum 7. Ton; auf fis-mixolydisch angewandt bekommt man: fis-gis-ais-h-cis-dis-e-fis. Tragen wir noch die Töne von es-dorisch nach: es-f-ges-as-b-c-des-es. Lassen wir nun ein Triphrygisch folgen, d.h. den gleichen Modus, aber auf drei verschiedenen Tonhöhen und damit auch verschiedenen Vorzeichen: cis-phrygisch (cis-d-e-fis-gis-a-h-cis), f-phrygisch (f-ges-as-b-c-des-es-f), h-phrygisch (h-c-d-e-fis-g-a-h).
Man glaube ja nicht, dass es irgendetwas an Abartigkeit hätte, die Modi ebenso zu transponieren wie wir es von Dur und Moll kennen. Wer sich ein bisschen mit dieser Materie beschäftigt, kennt sich damit relativ leicht und schnell aus. Es ergänzt aber um einiges, wenn nicht gar beträchtlich, seine bisherigen Hörgewohnheiten, Spielgewohnheiten und Kompositionsmöglichkeiten. Ich betrachte mich zwar als Erfinder der Polymodalität (ab Herbst 1992), halte es aber für nicht ausgeschlossen, dass Kollegen damit ebenfalls schon experimentiert haben. Kenntnis davon habe ich aber nie erhalten. Einmal las ich bei einer Bartók-Analyse den Begriff auch, dachte mir aber damals, dass es nicht das Gleiche wie bei mir sei, weiß aber leider nicht mehr wo die Fundstelle ist. Man gehe auf die Suche. Selbst habe ich schon frühzeitig festgestellt, dass es bei Bartók ansatzweise bis zur Bimodalität geht, siehe z.B. im Mikrokosmos, Band 4, Seite 9.
Bei „Gekreuzte Hände“ schreibt Bartók in der Oberstimme ein es vor, dadurch ergibt sich folgende ungewöhnliche Fünftonreihe: c, d, es, f, h. (In dieser Reihe fehlen g und a). In der Unterstimme steht mit c, h, a, gis, fis ebenfalls eine Fünftonreihe. In diesem Band sind in mehreren Stücken Fünftonreihen zu finden, also keine vollständigen Tonleitern oder Tonarten. Man könnte in diesem Zusammenhang gewiss auch auf Modi bezogen von „Modarten“ (analog zu Tonarten) sprechen. An dieser Stelle rege ich dazu an, Band 5 und 6 des Mikrokosmos auf eventuell vorhandene Bimodalität zu untersuchen. Die „44 Duos für zwei Violinen“ von Bartók wären in dieser Hinsicht auch sehr ergiebig. Inwiefern Bartók in seinen Werken zur Polymodalität vorgestoßen ist, wäre absolut untersuchenswert.
Generell möchte ich hervorheben, dass es kaum eine bessere gehörsmäßige, rhythmische, improvisatorische und kompositionstechnische Schulung als Béla Bartók gibt (Vorstufe: Kodály); letztlich auch eine Hinführung zur Kunstmusik des 20. Jahrhunderts. Darüber hinaus auch noch die Schulung eines modernen Klavierspiels. Sehr traurig finde ich Aussagen von Musikern, die sagen: ja, ja, von diesen Kirchentonarten habe ich im Studium einmal etwas gehört, habe das aber alles vergessen, in meinem Orchesterspiel kommt das nicht vor; oder: im Schulmusikunterricht kann man das nicht bringen. Stimmt alles nicht! Wie könnte man übrigens hinführen zum Hören des ungewohnten Tongeschlechts Phrygisch? Nehmen wir das „Urphrygisch“, d.h. das ursprüngliche Phrygisch ohne Vorzeichen, nämlich e-f-g-a-h-c-d-e.
Hier liegen die Halbtonschritte vom 1. zum 2. Ton und vom 5. zum 6. Ton. Man könnte hier wieder die ersten drei Töne an die Notentafel schreiben und singen lassen, sagen wir in der 5. Klasse eines Gymnasiums. Es kommt klanglich in der Regel erneut e-fis-gis heraus. Sollte es eigentlich nicht ganz normal sein, wenn Schüler schon in der - sagen wir - dritten Klasse der Grundschule e-f-g singen könnten?? Die Schulung des Hörens und Reproduzierens der Halbtonschritte gehört doch zum elementaren Musikunterricht, also eigentlich sogar in die Vorschulerziehung!! (Siehe ungarische Musikerziehung nach der „Kodály/Bartók-Methode“.) Werden also die Kinder im Kindergarten nur mit Dur (und sogar selten mit Moll) gefüttert, ist das „Tunnelhören“ kein Wunder. Aber bei der musikalischen Ausbildung der KindergärtnerInnen ist das eigentlich logisch. Und traurigerweise werden in vielen Bundesländern (auch in Bayern) Musiklehrer (darunter Seiteneinsteiger) eingesetzt, die gerade einmal ein paar Kinderlieder oder Volkslieder oder Schlager singen können!
Zurück zur Hinführung auf das äußerst ungewohnte Phrygisch. Man spiele die ersten vier Töne (ohne Vorzeichen, also e-f-g-a) und spiele sie nicht aufwärts, sondern abwärts. Außerdem verlege man sie in die Unterstimme bzw. in eine tiefe Lage: A-G-F-E. Und siehe da, ein Wunder geschieht: (Fast) jeder kann es nachsingen! Sehr eindrucksvoll wäre es auf der Gitarre mit folgenden Akkorden zu begleiten: a-moll, G-Dur, F-Dur, e-moll oder besser E-Dur. Letztes klingt schöner, sozusagen andalusisch oder auch maurisch. Bei dieser Tonfolge a-g-f-e handelt es sich um die sog. Malageña-Quart. Auf dieser absteigenden Figur kann wunderbar improvisieren werden. Anschließend spiele und singe man die Töne aufwärts und es geht plötzlich „wie geschmiert“! Mit anderen Worten: Die Schwierigkeit, vom 1. zum 2. Ton einen Halbtonschritt zu singen, ist nicht mehr vorhanden. (Wer kennt eigentlich noch das Kirchenlied „O Haupt voll Blut und Wunden“, oder auf den Text „Wenn ich einmal soll scheiden“? Es kommt bei Bach (Matthäuspassion) und anderen Komponisten mehrfach vor. Die Melodie stammt übrigens nicht von Bach, sondern von Hans Leo Hassler und war ursprünglich im lebhaften 6er-Takt, sogar ein Tanzlied! Das klingt gut und ist zum Ausprobieren sehr geeignet. (Ein Achtel Auftakt, dann auf Schlag 1 ein Viertel, gefolgt von einem Achtel; im häufigen Wechsel zwischen Viertel und Achtel: Es hupft bestens!) Man kann es kirchentonal oder auch nach der Dur-Moll-Harmonik harmonisieren (siehe Bach).
Kehren wir zur Polymodalität zurück. Die klanglichen Ergebnisse in Bezug auf die Akkordverbindungen, sprich Harmonien, sind neuartig, aber keineswegs abartig.
Im Gegensatz zur 12-Tonmusik und auch der seriellen Musik hat die Polymodalität nichts Manisches an sich. Bei der 12-Tonmusik müssen unbedingt die 12 Töne in einer Melodie benutzt werden. Die verwendeten (und transponierten) Modi können bei der Polymodalität jedoch jederzeit untereinander gewechselt werden. Ebenso können neue (transponierte) Modi eingeführt werden. Selbstverständlich ist ein Wechsel von einem Modus zum anderen, auch mittendrin, im Sinne einer Modulation, möglich, doch weniger regelbehaftet. Man löst einfach irgendwelche Vorzeichen auf oder führt andere ein usw. Doch ist auch die reinrassige Verwendung der (transponierten) Modi am Anfang immer sehr interessant. Anwendbar in jeder Art von Besetzung, von Chor über Bläser und Streichquartett bis hin zur Orchestermusik. Ich habe beispielsweise auch polytonal für (Kirchen-)Orgel komponiert. Gerade das Pedal kommt einem da als selbstständige Stimme sehr entgegen.
Kurz will ich auf die altgriechischen Tongeschlechter gleichen Namens eingehen. Durch einen Irrtum hat der frühmittelalterliche Philosoph Boëthius (geb. um 480 in Rom, gest. 524 in Mailand) die griechischen Tonarten gleichen Namens (dorisch, phrygisch…) ins römische Reich und dadurch auch nach Mitteleuropa falsch überliefert. Das geschah dadurch, weil er scheinbar nicht wusste, dass die Griechen ihre Tongeschlechter primär nach unten dachten, hörten, sangen, spielten, lehrten. Dorisch ging beispielsweise in der altgriechischen Musik von e nach e abwärts, also: e-d-c-h-a-g-f-e, hatte also abwärts die Halbtonschritte vom 3. zum 4. Ton und vom 7. zum 8. Ton. Das altgriechische Dorisch (abwärts) klingt verwandt zum kirchentonartlichen Phrygisch (aufwärts).
Das altgriechische Phrygisch wiederum geht von d nach d abwärts, hat die Halbtonschritte (von oben nach unten) vom 2. zum 3. Ton und vom 6. zum 7. Dies klingt verwandt zum kirchentonartlichen Dorisch (aufwärts).
Macht man sich diese Denkungsweise zu eigen, stellt man fest, dass auch hier wieder stilistisch und auch klanglich andere Melodien bzw. Kompositionen entstehen. (Durch das primäre Denken nach unten.)
Vergessen werden darf bei der polymodalen Kompositionstechnik nicht, dass man internationale Modi, japanische, afrikanische, indische, islamische usw. anwenden und kombinieren kann. Jeder wird leicht erkennen, dass hier Abertausende und Hunderttausende von Möglichkeiten der Kombination existieren und angewandt werden können. Ganz klar, dass auch außereuropäische Modi (Arabien, Indien, Israel usw.) mit europäischen kombiniert werden können, was ich ausprobiert habe. Probleme bereiten viele der außereuropäischen Modi, da sie Vierteltonschritte enthalten, die für unser Gehör schwer nachvollziehbar und dadurch auch schwer reproduzierbar sind.
Manche Volksstämme kamen nach Europa und brachten ihre Musik mit, darunter andere Intervallarten, als uns bekannt sind. Dazu gehören die Sinti und Roma, die hauptsächlich nach Rumänien und Ungarn gekommen sind. Man denke auch an die indonesischen übergroßen Ganztonschritte (in der Gamelanmusik), die auf der Weltausstellung 1889 in Europa (Paris) erstmalig erklangen und von denen sich viele Komponisten anregen ließen, so Debussy. Er hatte allerdings damals keine andere Möglichkeit, als sie zu Ganztonschritten umzuformen. So kam es zur Ganztonleiter (c-d-e-fis-gis-ais-c), auch für den Europäer ungewohnt zum Hören und Reproduzieren. Schön ist eine Improvisation oder Komposition mit zwei Ganztonleitern. (Es gibt allerdings von ihr nur zwei Arten. Die zweite wäre von cis aus (cis-dis-eis/f-g-a-h-cis oder auch des-es-f-g-a-h/ces-des). Enharmonische Verwechslungen spielen hier (quasi) keine Rolle.
Die Polymodalität ist jedoch nur ein Teil meiner Kompositionsweise. Darüber hinaus komponiere ich gerne „taktlos“. Die Taktstriche ziehen ja nach allgemeiner Musikauffassung und –lehre immer hinter den Taktstrichen eine Betonung nach sich. Das unterbricht nach meiner Auffassung den melodischen Lauf sehr. Weder in der Luft, noch im Wasser usw. gibt es derartig radikale Unterbrechungen oder Stöße oder was auch immer. Die Prosa kennt es ebenfalls nicht. Sprache kennt zwar Betonungen in den Wörtern, aber nicht in dieser regelmäßigen Abfolge. Was ich gesagt habe über die Störung des melodischen Flusses, gilt letztlich auch für den Rhythmus! Nun könnte man daraus schließen, dass man ja nur die Betonungen nach den Taktstrichen ignorieren muss. Das geht (leider) nicht, da sie elementar stilistisch zu mehreren Musikepochen gehören, wo sie normal, üblich, ja notwendig, vorgeschrieben sind. Man nannte das ab der Barockzeit Akzentstufentakt. (Ohnehin eine falsche Begriffsbildung, da es Betonungsstufentakt heißen müsste! Akzente sind etwas ganz anderes.) Nicht zu vergessen auch die anderen Betonungen, die der Hauptbetonung folgen. (Zum Beispiel im Viervierteltakt die Nebenbetonung auf Schlag 3.) Manche Komponisten haben es versucht mit ständig wechselnden Taktarten, z.B. bei der Polymetrik (darunter Boris Blacher mit seinen variablen Metren). Sie entgehen dadurch aber auch nicht den immer noch vorhandenen Betonungen. (Ligeti hat es versucht, indem er hinschrieb: die Taktstriche ziehen in dieser Komposition keine Betonungen nach sich.) Man kann jeden x-beliebigen Satz dazu hernehmen, sich selbst (oder anderen) einmal zuhören, die Sprache dann in wechselnde Rhythmen übertragen, aber nicht in wechselnde Metren! Es kommt zu Achteln (freilich im übertragenen Sinne), Vierteln, vielfach zu Triolen usw. Je mehr Silben ein Wort hat, umso kürzere Notenwerte entstehen. Nehmen wir einen lustigen Text: Dort steht das Heinerle in dem Wald. Das kann man so übertragen: dort=Viertel, steht das=zwei Achtel, Heinerle=Triole (oder zwei 1/16 und eine 1/8), in dem=zwei Achtel, Wald=Viertel.
Der Genialität der Komponisten von Barock über Klassik zur Romantik (usw.) tun diese Überlegungen keinen Abbruch. Der Akzentstufentakt ist eben eine musikgeschichtliche Gegebenheit. Ich bin der Überzeugung, dass man wohl kaum die Kontrapunktik von Bach, die Sprachvertonung und Melodik von Schubert, die Harmonik von Bruckner, die Rhythmik von Strawinsky, die Motivverarbeitung von Beethoven, die Klangfarben der Impressionisten usw. maßgeblich übertreffen kann. Aber immer wird man weiter suchen und finden. Cage hat z.B. das „Prepared piano“ erfunden und dadurch für das Klavier neue Klangfarbeneffekte erzeugt. (Man muss z.B. nur einige Blätter auf die Seiten eines Flügels legen und bekommt einen interessanten, neuen cembaloähnlichen Klang.)
Noch einmal zu Ligeti. Er sagte, man solle nicht alle Parameter gleichzeitig erneuern, man würde dadurch nur Unverständlichkeit erzeugen. Wie wahr. Ich habe bei ihm studiert.
Ich bin gespannt auf Kompositionsversuche der Leser dieser kleinen Studie mit der polymodalen Kompositionstechnik. Frohes Schaffen und Erfolg!
Es folgen noch ein paar (einfache) Beispiele meiner bimodalen und polymodalen Kompositionen, die ich kurz hinsichtlich der verwendeten Modi erläutere. (Selbstverständlich gibt es von mir auch größere Werke in dieser Technik, darunter eine Violin-, Cello und Klarinettensonate.)
- Bidorisch (Kombination von c-dorisch und e-dorisch)
- Bimodal (Kombination von h-dorisch und f-phrygisch)
- Meditation (Kombination von c-äolisch/c-moll natürlich und e-dorisch)
- Erste dreistimmige Invention (gis-phrygisch, c-lydisch und es-mixolydisch. Hier wäre auch eine Schreibweise mit nur zwei Systemen denkbar. Die dreistimmige Schreibweise zeigt lediglich gut die drei verschiedenen Modi auf.)