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"Mich zu verlieren / Bin ich da!"
Über Selbstverlust und Welterfahrung in der Moderne
Öffentliche Tagung im Rahmen des Veranstaltungsprogramms des DFG-Graduiertenkollegs 1608/2 „Selbst-Bildungen. Praktiken der Subjektivierung“ an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg (09.-11. Mai 2019).
Zum Umgangston aktueller Theoriearbeit in den Kultur- und Sozialwissenschaften gehört mittlerweile die Absage an die Vorstellung vom autonomen Subjekt. Eine autonomieskeptische Vollzugsperspektive verspricht nun tiefere Einsicht in soziale Verhaltensströme, als deren Spielball das Selbst zwischen Befähigung und Anerkennung hin und her springt. Unter dem Paradigma der Praxis geraten dabei allerdings Phänomene aus dem Blickfeld, die ein Selbst nicht als Adressaten oder Teilnehmer, sondern als Bewusstsein angehen, als ein Bewusstsein, dessen Intentionalität und Weltbezug nicht als selbstverständlich vorausgesetzt werden können. Auch macht die Idee der Subjektivierung als relationalem Geschehnis von Fremd- und Selbstbestimmung noch Halt vor dem Extremfall der Heteronomie: der Selbstaufhebung, dem Konturverlust des Subjekts im Erleben.
Einen Zugang zum Verständnis dieser Dynamiken des Konturverlusts bzw. der Konturlosigkeit bieten Auseinandersetzungen mit verschiedenen Phänomenen der Passivität, wie sie besonders in der phänomenologischen sowie der kultur- und literaturwissenschaftlichen Forschung der letzten Jahre zu beobachten sind. Dort artikuliert sich eine Skepsis gegenüber tradierten Formen des Aktivseins (Können, Vermögen, Willenskraft, Handeln etc.), wobei die Bedeutungen von Passivität ein breites Spektrum unterschiedlicher Phänomene umfassen, die die Kategorie des Selbst aus verschiedenen Richtungen – von innen nach außen und von außen nach innen – unscharf werden lassen. Die Effekte dieser verschiedenen Modi der ‚Entselbstverständlichung‘ des Selbst- und Weltverhältnisses sind zu analysieren, will man die Tragweite und Grenzen praxeologischer Ansätze ausloten.
So wie Passivität in Begriffen der Praxis schwer zu fassen ist – nämlich allenfalls als Initiationsmomente von Tätigkeit –, so liegt der Selbstverlust – in den hier hervorgehobenen Bedeutungen eines sich verlierenden Selbst, einer Verfransung der Ränder des Selbst, aber auch einer Unterschiedslosigkeit vor jeglicher Selbstwahrnehmung – außerhalb des Fokus auf Subjektivierung. Im Getriebe der Praxis ist der Leerlauf kaum denkbar. Um gewissen Auflösungserscheinungen von Subjektivität beizukommen, braucht es offenbar eine Neukonfiguration des Denkapparats: eine Verschiebung der Blickachse von Aktivität auf Passivität, von Szenarien des Tuns auf Momente des Erleidens, von Fragen der Anerkennung auf Phänomene der Widerfahrnis. Anstatt die Analyse weiter in Bahnen von Handeln und Verhalten zu fahren, wäre eine Umstellung der Beobachterhaltung nötig, hin zur Einfühlung in konkrete Erfahrungen, ein Sich-Einlassen auf vermeintlich vereinzelte, auch fremde Erlebniswelten: ethnologischer Pragmatismus statt ethologischem Interaktionismus.
Der Titel der Tagung greift zwei Verse der Dichterin Ilse Schneider-Lengyel auf: „Mich zu verlieren / Bin ich da!“ Die darin ausgedrückte Spannung zwischen Präsenz und Selbstverlust dient uns als Ausgangspunkt, um die unterschiedlichen Erscheinungsweisen eines Verschwindens zu untersuchen und diskutieren. Selbstverlust setzt – als Prozess verstanden – verschiedene und zum Teil diametral entgegengesetzte Dynamiken frei, deren Spektrum vom bedrohlichen Rückfall in die Natur über die Dialektik von Verlust und Wiederaneignung bis hin zur Vorstellung einer Einheit mit der Welt reicht.
So erlangen Phänomene Aufmerksamkeit, bei denen dem Subjekt der sichere Boden entzogen wird: rituelle Trance, Fremdbestimmung durch Besessenheit – von Geistern, Göttern oder (Forschungs‑)Gegenständen –, ekstatische und sakrale Erfahrungen, Selbstverlust und Selbstentfremdung in ihren diversen Formen (Dissoziation, Schizophrenie einerseits, mimetisches bzw. assimilierendes Verhalten andererseits), auch die Selbstauflösung in der Menschenmenge, im Schwarm oder in der Faszination, die im Faschismus von der Masse und der Todesmystik ausgegangen ist.
Zum zentralen Problem wird dabei der wissenschaftliche Zugang: Wann schlägt die verstehende Kontemplation des Trance-Zustands um in ein ‚selbst-loses‘ Sich-Einlassen, das ebender Trance ähnelt, die es zu untersuchen gilt? Rücken wir hier notwendig von der begrifflich strengen Analyse ab und versetzen uns in einen Modus empathischer Hermeneutik oder gelingt es uns, den Untersuchungsgegenstand qua Analytik steril zu halten? Inwiefern also korrelieren hier Erkenntnismodus und Forschungsobjekt? Die Spannung zwischen „Identifikation und Distanz“ oder „Ergriffenheit und Wissenschaft“ sind Bestandteil einer „Wissenschaft vom Fremden“, die sich zwischen einer Phänomenologie radikaler Fremderfahrung und einer grundlegend identitätslogischen Hermeneutik hin und her bewegt und die sich mit unterschiedlichen Formen des Selbstverlusts auf der Ebene des Gegenstands und der Methode konfrontiert.
Die Beiträge erfolgen anhand von Fallbeispielen, konkreten Analysen, aber auch als theoretische Diskussionen. Vertreten sind die Fächer Literaturwissenschaft, Ethnologie, Soziologie, Philosophie, Medien- und Religionswissenschaft. Auf diese Weise bietet die Tagung Raum für eine transdisziplinäre Debatte um Erfahrungen und Konzepte des Selbstverlusts.