Koordination

Projektförderung

Projektpartner

Laufzeit

April 2022 bis März 2025

Workshops

In den kommenden drei Jahren werden sich Forschende aus Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften über das „Diagnostizieren (in) der Moderne“ austauschen. Im halbjährlichen Turnus finden Workshops statt, bei denen die Netzwerkmitglieder sowie nationale und internationale Gastexpertinnen und -experten verschiedene gesellschaftliche Diskurse analysieren und diskutieren. Das Netzwerk wird in sechs Arbeitstreffen explorativ vorgehen. Fünf der Treffen dienen der Auseinandersetzung mit einem der im folgenden genannten Arbeitspakete. Das sechste Treffen dient als Abschlusssitzung für abschließende Diskussionen und Bearbeitung der im Zuge der Netzwerkarbeit entstehenden Beiträge.

Arbeitspaket 1: Konzepte und begriffliche Unterscheidungen

Workshop Juni 2022 | HWK Delmenhorst

Das von uns heuristisch als sensitizing concept (Blumer 1954) in Anspruch genommene Diagnose-Konzept ist medizinisch geprägt (vgl. Behrend 2005; Osrecki 2011; Krähnke 2016). Es erlaubt uns ein erstes Aufspüren von Diskursen und Praktiken des Diagnostizierens in verschiedenen Zeiträumen und Kontexten. Wir gehen davon aus, dass das Konzept der Diagnose im Zuge seiner Wanderung durch verschiedene Zeiträume und Kontexte Bedeutungsverschiebungen erfährt, die mit Unterschieden der jeweils konkreten Praktiken des Diagnostizierens korrespondieren. Im Dialog der Einzelvorhaben soll genealogisch (vgl. Foucault 1983) auch diesen Wandlungen des Konzepts der Diagnose und korrespondierender Ausformungen der Praxis des Diagnostizierens nachgegangen werden. Mit diesem Interesse werden weitere Fragen virulent: Unter welchen geschichtlich-gesellschaftlichen Umständen setzt sich das Konzept der Diagnose gegen andere Konzepte der Beobachtung und Problematisierung gegenwärtiger Phänomene (z.B. Analyse, Kritik, Vergleich) und der Bewältigung von Ungewissheit (z.B. Schicksalsergebenheit, Beichte, Prophetie) durch? Auf welche Bereiche, Gegenstände, Sachverhalte wird das Konzept der Diagnose jeweils bezogen? Welche Resonanzen und Dissonanzen zwischen verschiedenen kontextspezifischen Konzepten, Diskursen und Praktiken des Diagnostizierens ergeben sich jeweils?

Gastreferierende

 

Arbeitspaket 2: Felder, Disziplinen und Institutionen des Diagnostizierens

Workshop Februar 2023 | Universität Lübeck

In diesem Arbeitspaket sollen die wesentlichen Felder, Disziplinen und Institutionen des Diagnostizierens in der Moderne identifiziert werden, neben der Medizin und dem Gesundheitswesen bspw. Wissenschaft, Bildung, Kunst, Sport, Polizeiwesen und Politik. Das Interesse gilt dabei erstens den jeweiligen Objekten von Diagnosen, zweitens den epistemischen und normativen Ordnungen und Maßstäben, an denen diese Objekte jeweils beurteilt werden, drittens den speziellen Ausformungen von Konzepten und Diskursen des Diagnostizierens in den verschiedenen Bereichen sowie den damit jeweils verbundenen Anliegen, schließlich viertens den Wechselwirkungen zwischen den verschiedenen Diagnose-Konzepten und -diskursen: Unter welchen Umständen wird bspw. in der Polizeiarbeit auf soziologische Zeitdiagnostik zurückgegriffen? Wie bedingen medizinisches und sozialwissenschaftliches Diagnostizieren einander? Wie verhält sich dieses wiederum zum zukunftsbezogenen Denken und Handeln im Feld der Ökonomie? Und welche ‚großen‘ diagnostischen Narrative kommen dabei ins Spiel? Von Interesse sind in diesem Zusammenhang auch die besonderen Milieu-, Orts- oder Institutionsbezüge diagnostischer Beobachtungen. Sie können sich bspw. in der Gesundheitspolitik oder in der Polizeiarbeit darin zeigen, dass bestimmte Milieus und Orte in den Fokus eines diagnostischen Aufspürens von Infektions- oder Kriminalitätspotentialen gerückt und damit als potentiell gefährlich etikettiert werden. Ein weiteres Beispiel wäre die Thematisierung von Institutionen des Bildungswesens – Kindergärten, Schulen, Universitäten oder auch Sportvereine – als Orte eines potentiell vorhandenen ‚Humankapitals‘, wodurch Erzieher*innen als ‚Talentscouts‘ angerufen und eingesetzt werden. Schließlich sollen exemplarisch auch die Raum, Zeit, Felder, Disziplinen und Institutionen übergreifenden Möglichkeiten der Vernetzung eines diagnostischen Wissens durch digitale Technologien, das Anlegen von Speichern und Archiven usw. erkundet werden.

Gastreferierende

Arbeitspaket 3: Ort, Techniken und Praktiken des Diagnostizierens

Workshop Herbst 2023 | Bielefeld

In diesem Arbeitspaket wird möglichst nahe an die konkreten Praktiken des Diagnostizierens in den verschiedenen Feldern, Disziplinen und Institutionen herangezoomt. Historische und empirische (ethnografische, praxeografische) Fallstudien nehmen detailliert die Orte, soziomateriellen Arrangements, Infrastrukturen, Vorgehensweisen und Techniken der selektiven Problematisierung gegenwärtiger Phänomene und somit auch der lokalen Hervorbringung existentieller gesellschaftlicher Bezugsprobleme qua Diagnose in den Blick: Unter welchen Umständen, wo, durch wen und vor allem wie werden bestimmte Phänomene zuungunsten anderer Phänomene als besonders dringliche Probleme benannt, gestiftet, plausibilisiert, zu sehen und zu fühlen gegeben? Welche Imaginationen (Schreck- und Wunschbilder, Krisenszenarien, Zukunftsentwürfe usw.), als gültig behauptete Definitionen, Normen und Standards (z.B. beim Erfassen und Bewerten konkreter Körper und Psychen in der Diagnostik von Sporttalenten oder psychischen Problemen in der Schule) materialisieren sich in den Praktiken des Diagnostizierens? Wer oder was wird in diesen Praktiken als Diagnostiker*in eingesetzt? Indem auf diese Weise den ‚Mikroordnungen‘ des Diagnostizierens in unterschiedlichen (Anwendungs-)Kontexten nachgegangen wird, soll in der interdisziplinären Gesamtschau ein eigener Beitrag zu einem differenzierten Bild des Diagnostizierens in seiner historischen Dynamik, Heterogenität und Einheit erarbeitet werden.

Gastreferierende

Arbeitspaket 4: Narrative Darstellungsformen und Medien des Diagnostizierens

Workshop Frühjahr 2024 | Gießen

Diagnosen nehmen in unterschiedlichen geschichtlich-gesellschaftlichen Kontexten eine je eigene Gestalt an. Sie artikulieren sich bspw. in Texten, Enqueten, visuellen Darstellungen, Schaubildern oder kulturellen Aufführungen in Wissenschaft und Kunst oder auf den Bühnen des Theaters, der Oper und des Sports. In diesem Arbeitspaket widmet sich das Netzwerk daher den narrativen, visuellen, klanglichen und inszenatorischen Verfahren sowie den Medien, in denen sich Diagnosen zeigen, in denen sie ein Publikum ansprechen und wirksam werden. Ein besonderes Interesse gilt dabei den Fragen erstens nach dem Beitrag wissenschaftlicher und nicht-wissenschaftlicher Darstellungsformen zur Durchsetzung bestimmter Diskurse und Praktiken des Diagnostizierens, zweitens nach den Resonanzen zwischen diesen Darstellungsformen, sowie drittens den (medien-)technischen Möglichkeiten ihrer intermedialen Vernetzung.

Gastreferierende

Arbeitspaket 5: Hegemonien des Diagnostizierens

Workshop Herbst 2024 | Freiburg

Diskurse und Praktiken des Diagnostizierens beziehen sich häufig auf bestimmte Milieus, Gruppen von Menschen und Zeit-Räume unterschiedlicher Größenordnung, in denen irreguläre Phänomene identifiziert werden. Vor diesem Hintergrund stellt sich die machttheoretische Frage danach, welche Milieus, Gruppen und Zeit-Räume in diagnostischen Diskursen und Praktiken jeweils von wem und in welcher Perspektive problematisiert werden. Diese Frage betrifft das Lokale ebenso wie das Globale. Sie wird als eine Querschnittsfrage in allen Teilstudien berücksichtigt. Im Arbeitspaket 5 gilt das Interesse – nun wiederum herauszoomend – primär den stets umkämpfen Hegemonien des Diagnostizierens sowie den Unterschieden, die das Diagnostizieren und Diagnostiziert-Werden im globalen Maßstab bewirkt. Beispielfragen sind: Wie diagnostiziert das ‚Zentrum‘ die ‚Peripherie‘ (z.B. als zurückgeblieben, unterentwickelt etc.), und wie diagnostiziert diese umgekehrt jenes? Inwiefern schaffen Diagnosen überhaupt erst identifizierbare Räume, indem sie bestimmte Irregularitäten (wie die sogenannten Zivilisationskrankheiten oder auch Gewaltpotentiale) präzise lokalisieren, andere Abweichungen hingegen als grenzüberschreitende globale Problemlagen langer Dauer markieren (wie z.B. den Klimawandel)? Im Austausch der in den Arbeitspaketen gewonnenen Erkenntnisse soll die Rekursivität zwischen ‚großen‘ Narrativen und politischen Programmen (bspw. der Nachhaltigkeit oder der Gesundheit) und den vielen ‚kleinen‘, unspektakulären Alltagstechniken ‚verantwortungsbewusster‘ Lebensführung in den Blick treten, um in der Zusammenschau der Einzelforschungen (a) erste historisch und empirisch fundierte Einsichten in die Bedeutung von Diagnosen und Praktiken des Diagnostizierens für die Selbstkonstitution moderner Gesellschaften und ihrer Subjekte zu gewinnen, (b) Fragen für Anschluss-Forschungen zu entwickeln, und (c) selbstkritisch auf die Vorannahmen und Grenzen des eigenen Forschungsprogramm zu reflektieren. So wäre weiterführend zu fragen, inwiefern das Diagnostizieren ein exklusives Projekt der europäischen Moderne ist, ob es in anderen Regionen der Welt verwandte Konzepte der Selbstbeobachtung gab oder gibt, und mit welchen anderen Praktiken des Bewältigens von Ungewissheit das Diagnostizieren in bestimmten Zeiträumen jeweils konkurriert – und dies nicht nur im historischen Vergleich von modernen und vormodernen Gesellschaften, sondern vor allem auch innerhalb der „multiplen“ Moderne (Eisenstadt 2000). Zur Disposition steht damit auch der mögliche Eurozentrismus unserer eigenen Leitfrage nach der gesellschafts- und subjektkonstitutiven Relevanz des Diagnostizierens in der Moderne.

Gastreferierende

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