Wir (alle) sind das Volk 2017/2025 Hans Haacke
Wir (alle) sind das Volk 2017/2025 Hans Haacke
Wir (alle) sind das Volk an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg
Seit Herbst 2025 befinden sich an der Brücke zwischen den Gebäuden A1 und A14 zwei Banner der Serie Wir (alle) sind das Volk des Künstlers Hans Haacke. Auf je 10 x 1,5 Meter großen Bahnen ist in insgesamt zwölf Sprachen der Titel des Werkes zu lesen, der jeweils links und rechts von Farbblöcken mit Regenbogenverlauf gerahmt wird. Die Sprachen – Arabisch, Bulgarisch, Deutsch, Englisch, Farsi, Französisch, Polnisch, Russisch, Kroatisch, Kurdisch, Tigrinya und Türkisch – bilden jene Herkunftsländer ab, aus denen die meisten Migrant*innen in Deutschland zum Zeitpunkt der ersten Präsentation des Werkes auf der documenta 14 (2017) stammten.[i] Auf den Bannern sind die einzelnen Übersetzungen in drei Blöcken und – wertungsfrei – in ihrer alphabetischen Reihenfolge sortiert.
Haackes Auseinandersetzung mit der titelgebenden Losung „Wir sind das Volk“ begann bereits 2003. Ein Entwurf von ihm sah vor, den bereits damals von xenophoben Gruppen genutzten Spruch „Wir sind das Volk“ mit dem Zusatz „(alle)“ auf die Nikolaikirche in Leipzig zu projizieren. In den 2010er Jahren erhielt der Ausspruch, der den Demonstrant*innen in der Endphase der DDR entstammte, durch die Pegida-Demonstrationen erneut rechtspopulistischen Aufschwung. 2017 griff Haacke seinen nie realisierten Vorschlag aus Leipzig in einer Arbeit anlässlich der documenta 14, die in Kassel und Athen stattfand, wieder auf. Das dabei entstandene Werk Wir (alle) sind das Volk war dort etwa am Roten Palais in Kassel, an Bushaltestellen oder am Museum für zeitgenössische Kunst in Athen plakatiert. Die Wahl der Sprachen war dabei an das jeweilige Land angepasst. So umfasste die Version, die in Athen zu sehen war, statt Deutsch, Polnisch und Tigrinya eine Übersetzung des Satzes in das Albanische, Griechische und Rumänische.[ii] Später wurde das Werk auch an diversen anderen Orten gezeigt: 2018/2019 folgten Kunsthochschulen und Universitäten in den ostdeutschen Bundesländern, darunter etwa die Bauhaus-Universität Weimar, die Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig oder die Burg Giebichenstein Kunsthochschule Halle. 2020 war das Werk prominenter Bestandteil der Berlin Art Week, wo es etwa an der Volksbühne Berlin, am Haus der Kulturen der Welt oder der Akademie der Künste präsentiert war. Immer wieder war die Arbeit auch im Ausland zu sehen, wobei die gezeigten Sprachen immer auf das jeweilige Land gepasst waren, wie etwa 2018 am Khalil Sakakini Cultural Center in Ramallah, 2018 am Rathaus in Brüssel-Molenbeek oder 2019 am New Museum in New York. Haacke erläutert für die Pressemitteilung der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig die Werkgeschichte wie folgt:
„»Wir sind das Volk« war die Parole, mit der die Befehlshaber der sogenannten Volkspolizei 1989 gestürzt wurden. Im Jahr 2003 war ich eingeladen, mich an einem Wettbewerb zu beteiligen, dieser Ereignisse mit einer permanenten Installation in Leipzig zu gedenken. Damals hatten fremdenfeindliche Gruppen die Befreiungslosung bereits für ihre Hetzkampagne gegen Einwanderer und Flüchtlinge umgedeutet. Vor diesem Hintergrund schlug ich vor, nachts auf die Nikolaikirche in Leipzig, wo 1989 die siegreichen Montagsdemonstrationen stattgefunden hatten, die Proklamation »Wir (alle) sind das Volk« zu projizieren. Die Wettbewerbsjury entschied sich für den Vorschlag eines anderen Künstlers. Das Banner »Wir (alle) sind das Volk« bekräftigt unsere Verbundenheit mit allen Migranten und Flüchtlingen, die gegenwärtig in vielen Ländern der Welt virulentem Fremdenhass, Rassismus und lebensbedrohenden Religionskonflikten ausgesetzt sind.“[iii]
Das Werk steht zudem in einer Reihe anderer Arbeiten des Künstlers, in denen dieser sich mit dem Volksbegriff und Zugehörigkeitskonzeptionen auseinandersetzt. Sein Entwurf Calligraphie (1989) sah unter anderem vor, im Ehrenhof der französischen Nationalversammlung auf einer Pyramide aus Steinen die Losung der französischen Revolution in arabischer Sprache und goldener Schrift zu darzustellen. Deutlich bekannter ist das Werk DER BEVÖLKERUNG (2000) im deutschen Bundestag, das in diesem Jahr sein 25-jähriges Bestehen feiert. Haacke nimmt hier eine kritische Auseinandersetzung mit der Inschrift am Portal des Reichstagsgebäudes „Dem deutschen Volke“ vor und setzt auf die Beteiligung der Abgeordneten, die aus ihren Wahlkreisen Erde nach Berlin bringen und innerhalb eines Holzrahmens aufschütten sollen. Dieses Jubiläum stellt auch einen der Anlässe dar, mit denen Wir (alle) sind das Volk nun in Oldenburg zu sehen ist. In Kooperation mit der Initiative „Werkstatt DER BEVÖLKERUNG“, die Projekte an der Schnittstelle von Kunst und Politik entwickelt und sich anlässlich des Jubiläums von DER BEVÖLKERUNG gründete, kuratierten Timo Merten und Friederike Nastold die Präsentation der Banner, die an der Brücke zwischen A1 und A14, am Eingangstor zum Campus Haarentor, zu sehen ist.
Ganz neu ist die Nutzung der Brücke für künstlerische Arbeiten, besonders für solche, die sich mit gesellschaftlichem Zusammenleben und Politik auseinandersetzen, nicht. Im Rahmen einer Ausstellung zum 125. Geburtstag des Philosophen Karl Jaspers in 2008 entwarfen Peter Weibel und Ólafur Elíasson das Werk Rainbow Democracy, einen Ring, der in den Farben des Parteienspektrums leuchtete. Peter Weibel schrieb dazu im ausstellungsbegleitenden Katalog: „Der Farbkreis um die Brücke zwischen zwei Universitätsgebäuden spielt auf die Brückenfunktion des Parlaments an und auf eine Demokratie, in der alle Interessensgruppen gerecht vertreten sind, also alle verfassungstreuen republikanischen Parteien.“[iv] Auf einer Wiese auf dem Campus Haarentor installierten Weibel und Elíasson zudem einen Wassersprenkler, der einen ringförmigen Streifen Rasen bewässerte. Die Künstler griffen in dieser Arbeit die Notwendigkeit der Partizipation an politischen Prozessen auf: „Daher ist auf einer Wiese in größerer Entfernung ein Wassersprenkler angebracht, der ebenfalls einen Kreis mit Wasser besprüht. Dort, wo das Wasser hinfällt, ist die Wiese grün. Dort, wo das Wasser nicht hinfällt, ist die Wiese braun. Demokratie muss ausgeführt und aktiviert werden. Demokratie ist grün. Dort, wo keine Demokratie herrscht, wo kein Wasser aktiviert wird, herrscht das Braun der Diktatur.“[v]
Ebenso wie die Brücke selbst, an der beide Arbeiten montiert waren bzw. sind, das vergleichsweise junge Hörsaalzentrum mit dem ursprünglichem Universitätskomplex A1-A4 verbindet und damit auf die Weiterentwicklung der aus der Pädagogischen Hochschule gegründeten Reformuniversität verweist, greifen auch Weibel und Elíasson sowie Haacke mit ihren Arbeiten die Funktion der Brücke als verbindendes Element auf. Rainbow Democracy betont das Zusammenwirken unterschiedlicher politischer Positionen und die Beteiligung an politischen Prozessen als Prävention gegen den Faschismus. Wir (alle) sind das Volk hingegen referiert auf den mittlerweile rechtspopulistisch besetzten Ausspruch der friedlichen Revolution in der DDR und setzt diesem mit dem Hinzufügen des Wortes „(alle)“ und der Übersetzung in zwölf weitere Sprachen ein inklusives Gegenstück. Alle diese Sprachen, so zeigt es das Banner, stehen gleichberechtigt nebeneinander. Besonders an einer Universität, deren Studierenden- und Mitarbeiter*innenschaft sich aus Personen mit verschiedenen Herkünften und Migrationsgeschichten zusammensetzt und in einer Zeit, in der rechte Narrative politische Entscheidungen zunehmend bestimmen, nimmt das Werk eine verbindende, eine brückenschlagende Funktion ein: Alle gehören dazu, alle stehen gleichberechtigt zusammen und alle Personen – ungeachtet ihrer Herkunft – sind ein wichtiger Teil der Gemeinschaft.
Text: Timo Merten
Konzept und Organisation: Timo Merten und Friederike Nastold, Institut für Kunst und visuelle Kultur
In Kooperation mit der Werkstatt DER BEVÖLKERUNG (Berlin)
[i] Vgl. Alberti, Sarah: Wir (alle) sind das Volk – Hans Haackes Beitrag für die documenta 14, kunsttexte.de, Nr. 4, 2017, hier: S. 6.
[ii] Ebd., S. 6.
[iii] Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig: Pressemitteilung: "Wir (alle) sind das Volk – We (all) are the people“ Documenta-Banner von Hans Haacke in Leipzig, Chemnitz und Dresden, 2018, www.hgb-leipzig.de/hochschule/presse/35, letzter Zugriff: 29.10.2025.
[iv] Weibel, Peter: Rainbow Democracy. Ein Projekt für Karl Jaspers von Ólafur Elíasson und Peter Weibel, in: Meyer-Bohlen, Monika (Hg.): Wahrheit ist was uns verbindet. Philosophie, Kunst, Krankheit, Ausst.-Kat., Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, 22.05. – 12.07.2008, Bremen: Hauschild 2008, S. 164–169, hier: S. 169.
[v] Ebd.