Sparrer

Sparrer, Walter-Wolfgang

Statement

Es geht darum, kleinere und größere „Schätze“, von denen wir meinen, dass sie es wert seien, ins Gedächtnis zu heben.

Credo

Es ist nicht leicht, die eigene Biografie zu „lesen“ und um die eigene Gabe zu wissen. Alle meine selbst gewählten Aufgaben kreisen um die Vermittlung von Musik. Das betrifft insbesondere die Arbeit an dem Lexikon in Loseblattform „Komponisten der Gegenwart“, von dem nach nunmehr 28 Jahren die 67. Nachlieferung erscheint. Ich hatte das Glück, Komponisten wie Isang Yun und Alfred Schnittke zu begegnen, die Wesentliches zu sagen hatten und von denen man hofft, dass ihre Werke mehr und mehr bekannt werden. Wenn es gelänge, aus dem Schutt austauschbarer musikalischer Produkte diejenigen Stücke und ihre Komponisten herauszufiltern, denen man wünschen möchte, dass sie im Gedächtnis bleiben und vielleicht sogar wieder (oder weiterhin) aufgeführt und gehört werden, dann hätte diese Arbeit ihren Sinn erfüllt.

Bei der sprachlichen Vermittlung von Musik geht es vor allem darum, die ursprünglichen Intentionen eines Komponisten erfassen und im Werk aufzuspüren, letztlich immer wieder um „Analyse und Werturteil“, nicht aber um nur phänomenologische Beschreibungen oder gar eitle Selbstdarstellungen, wie sie heute oft üblich wurden.

Aus dem Repertoire der Kulturorchester gefallen sind mittlerweile vor allem Werke, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts entstanden sind; das verdankt sich zum Teil ihrem Schwierigkeitsgrad, auch mangelnden Kenntnissen und historischem Bewusstsein sowie strukturellen Gegebenheiten wie verringerten Probenzeiten. Der Umstand, dass Musik heute wieder stärker als früher mit schierer Unterhaltung verwechselt wird, erleichtert nicht gerade die Auseinandersetzung mit Werken, die einst als „neu“ galten.

 

Biografie

Walter-Wolfgang Sparrer, 1953 in Mainz geboren, studierte in Berlin 1973-79 Schulmusik und Musikwissenschaft (bei Carl Dahlhaus), Germanistik, Geschichte und Philosophie und ist seither freiberuflich tätig. Zahlreiche Rundfunksendungen, Vorträge und Aufsätze zur neuen Musik. Gemeinsam mit Hanns-Werner Heister Herausgeber des Lexikons in Loseblattform Komponisten der Gegenwart (München: edition text + kritik 1992ff.). Das Lexikon hat sich rasch als Standardwerk zur zeitgenössischen Musik etablieren können; es umfasst zur Zeit (Aug. 2020) 67 Lieferungen in zehn Ordnern mit Texten und Materialien zu mehr als 1200 Komponisten aus aller Welt.

Seit Anfang der achtziger Jahre entstanden in Zusammenarbeit mit Isang Yun zahlreiche kommentierende Texte zu seiner Musik. Mit Hanns-Werner Heister gab er 1987 den Sammelband Der Komponist Isang Yun heraus (Muenchen: edition text + kritik 1987; erw. 2. Auflage 1997). Um die Aufführungspraxis der Musik Isang Yuns zu erhalten und weiterzugeben sowie zur Erforschung seines Werks und Wirkens gründete er 1996 nach dem Tod des Komponisten die Internationale Isang Yun Gesellschaft e. V., deren Jahrbuch Ssi-ol sowie eine CD-Reihe er ebenfalls herausgibt. Gesprächsbiografien über Toshio Hosokawa (Stille und Klang, Schatten und Licht, 2012) und Walter Zimmermann (Ursache und Vorwitz, mit Richard Toop, 2019), Bildmonografie über Isang Yun (Leben und Werk im Bild, 2020).

Vom Tao. Über Isang Yun

Wir wissen nicht, inwieweit Yun als Komponist im System oder in Systemen dachte, doch ist zu vermuten, dass er vergleichsweise offene Vorgaben und Verfahrensweisen bevorzugte, die ihm einen gewissen Handlungs- und Interpretationsspielraum ermöglichten sowie Allusionen erlaubten. Die auch schriftlich fixierte Auseinandersetzung mit der traditionellen Musik Ostasiens – Chinas, Koreas und Japans – begann spätestens mit den Rundfunksendungen, die 1963 für den Bayerischen und für den Westdeutschen Rundfunk entstanden. Schon Stücke wie Bara (1960) und Loyang (1962) verweisen auf diese Traditionen. Dass Yun sie systematisch ausschritt, zeigt die Reihenfolge der Werke: Der Bezugnahme auf den Buddhismus in Om mani padme hum (1964) folgte der Bezug auf den Taoismus in der Oper Der Traum des Liu-Tung (1965), sodann auf den Konfuzianismus bzw. die konfuzianistische Musiktradition mit dem Orchesterstück Réak (1966).

Der Komponist Yun vermied eindeutige Festlegungen und Erklärungsmodelle; er erreichte und berührte die Extreme, aber ihn interessierten nicht Schwarz oder Weiß, sondern die Schattierungen, die Zwischenräume, Balance und Harmonie. Dass er sich aufs Tao (Dao) bezog, hat mehrere, verschiedene Bedeutungen. Der religiöse Strang als Volksglaube, als ursprüngliche volkstümliche Religion, aber auch als Basis ostasiatischen Denkens, die dem Buddhismus historisch und logisch vorausgeht, wird angedeutet beispielsweise in dem „taoistischen Lehrstück“ Der Traum des Liu-Tung.

Vor allem bezog Yun sich auf den philosophischen Taoismus, auf die Reflexion unendlicher Relativität und Relativierbarkeit der Beziehungen und dialektischen oder polaren Gegensätze. Wiederholt verwies er auf die Schriften, Reden und Gleichnisse von Lao-tse (Lao-tzu, auch: Lǎozǐ, 6. Jh. v. u. Z.) und Dschuang-tse (auch: Tschuang-tse, Chuang-tzu, Zhuāngzǐ, Zhuāng Zhōu, um 365 bis 290 v. u. Z.). Die zentrale, Lao-tse zugeschriebene Sprüchesammlung, das Tao-te-ching (Daodejing, auch: Tao Te King), soll im 4. / 3. Jh. v. u. Z. kompiliert worden sein. Wesentlich älter sind die Hexagramme des I Ging (I ching), die auf das 3. Jahrtausend zurückgehen.

Der alchemistisch-medizinische Taoismus ist auf die Erhaltung der Lebensenergie ch’i (auch: qì) ausgerichtet, auf ein langes Leben durch Harmonisierung der Gegensätze von Yin und Yang. Im Titel des ältesten bekannten Ensemblestücks der koreanischen Tradition klingt das ebenfalls an: Sujech'ŏn bedeutet ungefähr: „langes Leben, so unermesslich wie der Himmel“; Isang Yun übersetzte diesen Titel als: „das lange Leben, verwaltet vom Himmel“.

Was wir bei Yun nun als Tao definieren, ist zunächst nichts anderes als die Relativität der Phänomene Yang und Yin, Makro- und Mikrokosmus, Unbewegtheit – Bewegtheit usw. Sie können bezogen werden auf polare oder dialektische Gegensätze, die man musikalisch deuten und nahezu unbegrenzt ausschöpfen kann. […]

(aus: Isang Yun. Leben und Werk im Bild, Hofheim: Wolke 2020, S. 109)

 

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