Kulturgeschichte Skandinaviens
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Kulturgeschichte Skandinaviens
Goldener Mittelweg? Eine politische Kulturgeschichte Skandinaviens, 1880-2025
In Skandinavien (Schweden, Norwegen und Dänemark) gab es im 20. Jahrhundert keine „Bloodlands“ (T. Snyder), und die Epoche war kein „Age of Extremes“ (E. J. Hobsbawm). Im Gegenteil: Im 19. Jahrhundert hatten Schweden und Dänemark alle Kriege und damit ihren Großmachtstatus verloren, 1905 sagte sich Norwegen aus der Doppelmonarchie mit Schweden los. Danach entwickelten sich in den drei Ländern stabile Demokratien und Wohlfahrtsstaaten, die weltweit als Vorbilder galten, regelrechte Volksbewegungsdemokratien, die überwiegend von Minderheitsregierungen geführt wurden. In Deutschland wurden lange Zeit Dichotomien verhandelt: Gemeinschaft vs. Gesellschaft, Volk vs. Politik, Kultur vs. Industrialisierung – und in solchen unversöhnlichen Frontstellungen wurzelte der Nationalsozialismus. In Skandinavien sollten Gegensätze immer wieder versöhnt werden, etwa der zwischen Tradition und Moderne. Da wurden dann in den Dörfern kleine Bauernhausmuseen direkt neben Umspannwerken platziert. Die einen dienten der ideellen Selbstvergewisserung, die anderen dem materiellen Fortschritt; Identitätsbildung nicht gegen die industrielle Moderne, sondern um die Menschen für die Moderne fit zu machen. Vielleicht wurde deshalb am selben 30. Januar 1933, an dem die Nationalsozialisten die Macht „ergriffen“, in Kopenhagen ein wegweisendes Abkommen zum Aufbau des modernen Sozialstaates geschlossen?
Die skandinavischen Gesellschaften haben sich seit dem 19. Jahrhundert von unten her zu demokratischen Volksgemeinschaften entwickelt, und zwar durch das Engagement in grass roots-Bewegungen, in Volkshochschulen und Bildungszirkeln, durch Geschmackserziehung, die Ausbildung gesunder, sportlicher Körper und Lebensweisen, rationale Haushaltsführung, die Zentrierung auf die Kindererziehung, aber eben auch durch Kontrolle und „Normalisierung“ der Menschen sowie den kühlen, zweckorientierten Ausschluss von „Asozialen“ oder „geistig Behinderten“ durch eugenische Gesetze und (Zwangs-)Sterilisierungen. Die repressive Politik gegenüber Sami oder Grönländern diente ebenfalls der Homogenisierung weißer Mehrheitsgesellschaften. Das ist nicht einfach die ungute „Kehrseite“ der Medaille oder bloß die „Schattenseite“ der Geschichte, sondern gehört konstitutiv zum Aufbau der skandinavischen, demokratischen Sozialstaaten. Kollektivismus und Individualismus, Sozialdemokratie und Neoliberalismus, Inklusion und Ausschluss sind in der „heroischen“ (H. D. Kittsteiner) oder „ambivalenten“ (Z. Bauman) „Hochmoderne“ (U. Herbert) eine eigentümliche und bis heute prägende Mischung eingegangen. Dieses Spannungsverhältnis wird u.a. in der dänischen Serie „Borgen – Gefährliche Seilschaften“ (DK 2010-2013, 2022) verhandelt.
Ich werde anhand von paradigmatischen Ereignissen, von kulturellen Praktiken, Bauwerken, Kunstwerken, Filmen/Serien, literarischen und publizistischen Schlüsseltexten, politischen Entscheidungen usw. plastisch machen, was Skandinavien so besonders macht. Wie sollten sportliche Körper die Nation stärken? Wie funktionierte die Milchpropaganda? Welche Rolle spielte der Tourismus für das innere nation builing? Wie sollte die Rationalisierung des Abspülens die Familien stabilisieren, die Geburtenzahlen erhöhen und damit die Nation stärken? Wie sollten Menschen durch die Aneignung von geschmackvollem, schlichten, preiswerten und haltbaren Design sich selbst zu modernen Menschen erziehen? Wie durchleuchten sich diese Gesellschaften mit Hilfe von Enqueten permanent selbst, um sich zu optimieren – selbst den eigenen Machtapparat? Wie wurde (und wird) die permanente Dynamik moderner Gesellschaften parallel in bildender Kunst, Filmen, Literatur und insbesondere den in Deutschland beliebten Krimis verhandelt? Und wie sieht es eigentlich mit Dissenz und Exzentrikern aus, und dem berühmten „Jantelov“ („Du sollst Dich für nichts Besseres halten“)? Wie gingen die Gesellschaften mit Kritik um, wie weit oder eng wurde der Begriff der (politischen) „Gewalt“ gezogen? Welchen Freiheitsbegriff finden wir in Skandinavien; wie sieht das Verhältnis zwischen Konservatismus, Liberalismus und Sozialdemokratie, Tradition und Avantgarde aus? Das Buch soll (kritische) Lesererwartungen bedienen, zugleich Stereotypen brechen und die Ambivalenz dieser Kulturen auffächern.