Auspacken und staunen

Auspacken und staunen

Ein 200 Jahre alter Strickpulli von den Färöerinseln hat als Fund des Akademienprojekts „Prize Papers“ in Medien international für Furore gesorgt. Wie es dazu kam – und was die Forschenden aus Oldenburg und London in vier bislang ungeöffneten Paketen noch entdeckten.

Als das unter dänischer Flagge segelnde Handelsschiff „Anne Marie“ am 2. September 1807 in die Hände britischer Kaperer gerät, befindet es sich von seiner jährlichen Tour zu den Färöerinseln gerade auf dem Rückweg nach Kopenhagen. Die dänische Hauptstadt wird an diesem Tag von der britischen Royal Navy angegriffen, nachdem Dänemark die angefragte Unterstützung im Napoleonischen Krieg gegen Frankreich verweigert hat. Kapitän Jurgen S. Toxsvaerd und seine Crew sind schon seit Tagen auf See und ahnen nicht, dass die „Anne Marie“ als Schiff der dänischen Krone somit der Royal Navy als feindliches Schiff und ihre Kaperung laut Kriegsrecht als rechtmäßig gilt.

Die umfangreiche Fracht – bestehend aus 49.000 Paar Wollsocken, 8 Tonnen Trockenfisch, 100 Kisten Kerzen, 250 Fässern Talg, 19 Fässern Tran und 10 Fässern Federn – wird von Kaperern konfisziert. Die Ware wird später auf einer Auktion feilgeboten. Da die dänische Krone in dieser Zeit den Handel von und zu den Färöerinseln monopolisiert hat und ihn im Wesentlichen über zwei Transportschiffe abwickelt mit jährlich je zwei Touren zur Inselgruppe und zurück, handelt es sich dabei um ein Viertel des jährlichen Lieferaufkommens. Auch geschäftliche und private Post ist an Bord; sämtliches Schriftgut wird als mögliches Beweismaterial für einen etwaigen Gerichtsprozess einbehalten und erreicht nie seine Adressatinnen und Adressaten auf dem Festland.

Stattdessen wird es mit anderen Akten, Dokumenten und Beweisstücken in Archiven der damaligen Admiralitätsgerichtsbarkeit eingelagert. All dies befindet sich heute im Londoner Nationalarchiv als Teil der sogenannten „Prize Papers“. Im gleichnamigen Großprojekt unter Leitung der Oldenburger Historikerin Prof. Dr. Dagmar Freist erschließen Forschende der Universität mit ihren Partnern in London, den National Archives, diese Bestände und machen sie für Wissenschaft und Öffentlichkeit digital frei zugänglich.

„Lediglich an der Ecke eines Pakets lugte etwas Rotes heraus“

Sommer 2023. Mehr als 200 Jahre nach Kaperung der „Anne Marie“ entdeckt Gustav Ängeby, ein Stockholmer Doktorand, der im Kontext des Vorhabens „The Scandinavian Prize Papers“ forscht, durch Zufall unter dem Material von Bord fünf verschlossene Pakete und macht das Prize-Papers-Team aus London und Oldenburg darauf aufmerksam. Schnell wird allen Beteiligten klar, dass es sich hierbei um einen besonderen Fund handelt.

Die größeren Pakete haben etwa die Dimension einer Literflasche, der Inhalt ist fest eingewickelt in Papier, zudem eingeschnürt und versiegelt. „Lediglich an der Ecke eines Pakets lugte etwas Rotes heraus“, erinnert sich der Oldenburger Historiker Dr. Lucas Haasis, Forschungskoordinator des Projekts. „Ein anderes Paket raschelte beim Schütteln.“ Das Team entscheidet schnell, bei der Öffnung der Pakete auch Forschende von den Färöerinseln hinzuzuziehen und knüpfte Kontakt zum Historiker Prof. Dr. Erling Isholm von der Universität der Färöer sowie Margretha Nónklett, Leiterin der Abteilung Ethnologie am Nationalmuseum der Inselgruppe. Sie treffen sich Ende Februar in London mit Mitgliedern des Prize-Papers-Teams, um bei der erstmaligen Öffnung der Pakete nach fast 217 Jahren dabei zu sein.

Ungeöffnete Pakete mit Begleitbriefen sind eine Seltenheit

Meist fanden sich in den Prize Papers nur kleinere Gegenstände – Dinge wie Siegelringe, einzelne Kaffeebohnen oder Stoffproben. Die fünf größeren Pakete – direkt mit Begleitbriefen verschnürt – von Bord der „Anne Marie“ sind „ungeöffnet eine absolute Seltenheit“, so Projektleiterin Freist. Bei der Öffnung von vier Paketen förderte die Konservatorin des Prize-Papers-Projekts, Marina Casagrande, jeweils unterschiedliche Gegenstände zutage. „Jedes Stück für sich ist ein besonderer Fund, zumal mit den beiliegenden Briefen, die den Kontext liefern und eine exakte Einordnung ermöglichen“, sagt Freist.

Bei jedem Stück habe das Öffnen von Neuem „einen großen Aha-Effekt“ ausgelöst, erzählt Forschungskoordinator Haasis, der für das Oldenburger Prize-Papers-Team beim Auspacken dabei war. „Es war ein Staunen und eine große Freude bei allen, an diesem besonderen Moment teilzuhaben. Man kann diese Emotionen gar nicht unterbinden. Und dann setzt direkt der Forschergeist ein.“ Dabei sei die Anwesenheit der färöischen Gäste mit ihrem kulturhistorischen Wissen ein großer Gewinn gewesen.

Das fünfte Paket wird verschlossen bleiben – um bei einem der Funde den originalen Erhaltungszustand zu bewahren.

Die Funde

Vor allem ein Fund erregte international besonderes Interesse. Er wurde nicht nur auf den Färöerinseln, in Großbritannien sowie von regionalen und nationalen Medien in Deutschland, sondern etwa auch von US-Redaktionen aufgegriffen: ein Strickpullover in Farben und Machart der färöischen Nationaltracht, vom Absender Niels C. Winther gekennzeichnet als Schlafkleidung. Der Zimmermann schrieb 1807 im Begleitbrief an einen gewissen P. Ladsen in Kopenhagen: „Meine Frau lässt Grüße ausrichten, danke für den Reispudding. Sie sendet Ihrer Verlobten diesen Pullover und hofft, dass er ihr nicht missfällt.“ 

„Dies ist ein enorm spannender Fund“, so Expertin Nónklett. „Es gibt nur sehr wenige Kleidungsstücke wie dieses, und wir kennen keines mit diesem speziellen Design. Es muss handgefertigt und mit handgefärbter Wolle hergestellt worden sein.“ Bei diesem Pullover handelt es sich zudem um das erste Kleidungsstück dieser Art, das genau datiert werden konnte – eben, weil es sich in einem Paket befand. Insbesondere die Stricktechnik werde nun analysiert, sagt Haasis. Auch das Material nehmen Forschende unter die Lupe, womöglich handelt es sich bei dem hellen Garn um Seide, das die Wolle ergänzte. „Bei dem Paket, an dessen Ecke ein kleiner roter Zipfel hervorlugte, dachten wir zuerst an einen Schal“, so Haasis. „Ein Pullover, zumal mit einem kulturhistorisch so bedeutsamen Muster, ist eine Sensation – er ist für die Kulturgeschichte und Erinnerungskultur der Färöer von unschätzbarem Wert“, so Dr. Amanda Bevan vom Londoner Team.

Strickerzeugnisse fanden sich auch in einem weiteren Briefpaket: vier Paar wollweiße Damen-Kniestrümpfe, auch nach mehr als 200 Jahren dank der geschickten mehrlagigen Verpackungstechnik kaum vergilbt. „Je zwei Kniestrümpfe waren mit einem Wollfaden zusammengebunden – wie heute, wenn Socken paarweise verkauft werden“, so Haasis.

Allerdings handelte es sich in diesem Fall um eine private Sendung – separat verpackt von den 49.000 Paar wollenen Herrenstrümpfen, die sich als Ware an Bord befanden und für die dänische Armee bestimmt waren. Produkte aus Wolle waren laut Historiker Isholm damals das maßgebliche Exportgut der Färöerinseln, „das Gold der Insel“.

Getreide hingegen musste importiert werden und war vermutlich eher selten von der Inselgruppe in Richtung Festland unterwegs – wie im Fall eines weiteren Pakets. Es enthielt Gerstenkörner, die einst an ihren Absender zwecks Beschwerde zurückgeschickt werden sollten.

Im begleitenden Brief heißt es, von gelieferten 416 Fässern Getreide seien 399 beschädigt angekommen, 25 gar unverkäuflich gewesen. „Es ging um einen rückwirkenden Preisnachlass“, so Haasis. „Da aber der Nachweis für die Minderwertigkeit der Ware aufgrund der Kaperung nie ankam, ist unklar, was aus dem Geschäft wurde.“ Die Färöer seien auf dänische Getreidelieferungen angewiesen gewesen, um Hunger zu vermeiden.

Das Prize-Papers-Team wird nun einzelne Körner näher untersuchen und gemeinsam mit dem Collection Care Department in den National Archives und womöglich in Kooperation mit den Königlichen Botanischen Gärten im Londoner Stadtteil Kew die Körner zum Keimen bringen.

Dies ist bereits mit den Samen einer besonderen Akazienart gelungen, die sich in erbeuteten Briefen eines niederländischen Kaufmanns fanden – und die seit 1803 im Archiv gelegen hatten, also vier Jahre länger als die Gerste von den Färöerinseln. Aus den gut 200 Jahre alten Akaziensamen ist bereits ein stattlicher Baum geworden, der sich heute im Botanischen Garten in London bewundern lässt.

Es blieb jedoch nicht bei den besonderen Funden aus den Paketen, sondern völlig unerwartet entdeckten die Forschenden auch 18 Silbermünzen – in einem der mehr als 100 erhaltenen und ebenfalls nun geöffneten Briefe von Bord des Schiffes. Diese begleiteten die Korrespondenz zweier Frauen, von denen eine auf der Insel, die andere auf dem Festland lebte. Unter den Geldstücken waren Münzen aus dem 17. Jahrhundert, der Regierungszeit von Frederik III. von Dänemark. Eingewickelt waren sie in einige Geldscheine, dänische Reichstaler.

„Was es mit der Geldsendung auf sich hatte, erfahren wir womöglich nach der Transkription des begleitenden Briefes“, so Historiker Haasis, „manchmal fehlt aber auch jegliche Erläuterung zu Beigaben.“ Der Wert sei jedenfalls nicht hoch gewesen, entsprach „ein paar Groschen“. Ob sich damit wohl einst auch in Oldenburg bezahlen ließ? Jedenfalls regierte König Frederik III. nicht nur in Dänemark und Norwegen, sondern bis zu seinem Tod 1670 auch drei Jahre lang die Grafschaften Oldenburg und Delmenhorst.

 

Presse & Kommunikation (Stand: 20.06.2024)  | 
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