Die Perspektive wechseln

Die Perspektive wechseln

In den Prisenpapieren bilden sich die großen Umwälzungen der europäischen Expansion wie Kolonialismus oder Armutsmigration aus einem – oftmals sonst kaum überlieferten – alltäglichen Blickwinkel ab. Chance für einen Perspektivwechsel, so die Historikerin und Leiterin des Akademienprojekts Dagmar Freist.

Die Perspektive wechseln

Damit stehe „unser Wissen nicht unbedingt infrage, aber es wird deutlich komplexer”, sagt Freist, die die Prize Papers als „großen Schatz“ bezeichnet. Seit 2004 erforscht und lehrt sie als Professorin an der Universität Oldenburg die Geschichte der Frühen Neuzeit, einer Epoche gewaltiger Umbrüche etwa von 1450 bis 1850, geprägt von der Erfindung des Buchdrucks, europäischer Expansion und Kolonialismus, von Reformation und Staatsbildung.

Sie begeistert, dass die „Zufallsüberlieferung“ der Prisenpapiere je nach Kontext, Zeit, Ort und involvierten Akteuren jedes Mal andere historische Konstellationen und Einblicke beschert in Erfahrungen etwa mit Migration, Krankheit oder Sklaverei im 17., 18. und beginnenden 19. Jahrhundert. Sie böten Anknüpfungspunkte für vielfältige Forschung, beispielsweise zu Medizin- oder Klimageschichte, Kommunikations- oder Rechtsgeschichte, religiöser Pluralität, Kartografie, Schiffbau oder auch zur Geschichte der bislang 19 identifizierten Sprachen.

Ob der flehentliche Hilferuf einer Thüringerin an ihren Mann, der ohne sie und die Kinder nach Amerika ausgewandert war; ob das Briefbuch eines von der Iberischen Halbinsel nach Nordafrika vertriebenen jüdischen Händlers, das intimen Einblick in jüdisches Leben vor 400 Jahren gibt und zugleich auf dem Papier ein riesiges Handelsnetzwerk aufspannt; ob Berichte christlicher Missionare aus dem deutsch-dänischen Grenzgebiet, die von den Herrnhutern nach Surinam entsandt waren – die Prize Papers verdeutlichen laut Freist: „Allein aus einer nationalhistorischen Perspektive heraus, wie sie die Forschung zu europäischen Expansion und Kolonialismus häufig noch prägt, ist diese Epoche nicht zu verstehen.“

Die in den Prize-Papers-Beständen erhaltenen circa 160.000 Briefe sind vielfach ungeöffnet – aus manchen rieseln noch jahrhundertelang getrocknetes Saatgut oder Briefsand. Als das damalige Kommunikationsmittel überhaupt ließen sie Menschen die Distanz überbrücken, mit anderen verbunden bleiben. Sie begleiteten Geschenke – ob etwas Vertrautes aus der Heimat oder etwas Exotisches aus der Fremde für die Daheimgebliebenen. Und besiegelten sie Geschäfte, wurden sie gern in mehrfacher Ausführung an Bord unterschiedlicher Schiffe verschickt. Den Schreibenden war durchaus bewusst, so Freist, dass aufgrund von Kaperungen an sie adressierte oder von ihnen versandte Post nicht immer ankam. So schrieb die gebürtig aus Flensburg stammende Herrnhuter-Missionarin Catharina Borck am 27. Februar 1795 in Paramaribo, Surinam, an eine Glaubensschwester:

Nun wünsch ich das (…) ihr alle meine Brife glöcklich in Händen krigen möchtet (…), es ist erst kürtzlich ein Schif was hir her kommen sollte nach Kapern aufgebracht worten, sie ladenten seine Ladung aus, u liesen ihn mit sein leres Schif hir her gehen, er brachte auch ein Brifsack mit, aber eine ist dort geblieben.“

 

Ungeachtet der Distanz, der manchmal unsicheren und meist Monate dauernden Zustellung schlugen Schreibende oft einen Plauderton an. Auch Borck, die in der Herrnhuter-Mission Paramaribo mit ihrem Mann einen kleinen Bäckerladen betrieb, betrachtete und gestaltete ihre Briefkorrespondenz als eine „Unterhaltung“. Die damals 33-Jährige schrieb am 1. März 1795:

Mit vielen Freuden ergreif ich nun wieder einmahl die Feder um mich mit meinen lieben Eltern durch dieser paar Zeilen ein wenig zu unterhalten.“

 

Im Kontrast zur unbekümmerten Anmutung ihrer Zeilen steht – jedenfalls aus heutiger Sicht – manches Mal deren Inhalt. Ein Brief, dessen Lektüre bei Historikerin Freist viele Fragen provozierte, war an einen Glaubensbruder Borcks im dänischen Christiansfeld, Peter, adressiert und geriet als Teil desselben Briefpakets in den Kaperbestand. Die junge Catharina beschreibt darin, wie sie in die Plantagengesellschaft der damaligen niederländischen Kolonie eingeführt wird, in der der Einsatz versklavter Menschen alltäglich war. Diese waren von der Westküste Afrikas zu Zehntausenden dorthin verschleppt worden; auch in Borcks Bäckerladen arbeiteten drei von ihnen. Gegenüber Peter schilderte Borck einen ihrer ersten Besuche auf einer Plantage, deren Verwalter sich sehr um sie bemühte und abends zur Unterhaltung der Gäste die versklavten Menschen „Coffe stampen“ ließ:

Das sah nun beina aus als wen Suldaten sich exsiziten, nur das sie alle schwartz waren. Es waren wol bey nah 100.“

 

Für Freist beschrieb die Missionarin diese Szene „aus heutiger Sicht so irritierend, weil sie die unmissverständliche Unterdrückung und Sklavenarbeit, die quasi wie auf einer Theaterbühne Schaulustigen dargeboten wurden, nicht zu erfassen schien“. Stattdessen vergleiche sie die rhythmischen Bewegungen des Zerstampfens von Kaffeebohnen mit dem Exerzieren von Soldaten in Europa. Dabei hätten die Herrnhuter als christliche Missionare ein ambivalentes Verhältnis zur Sklaverei gehabt.

„Dieses Beispiel zeigt, wie herausfordernd es ist, diese Art der Überlieferung zu kontextualisieren und mit anderen Äußerungen zu vergleichen, um so ein Bild der alltäglichen Wahrnehmung und Praxis von Sklaverei durch Europäer unterschiedlichster Herkunft und Bildung zu erhalten“, sagt Freist. Die Forschung zu Sklaverei habe noch viel Nachholbedarf; vor allem müsse sie zusätzlich die Sichtweisen derjenigen Menschen einbeziehen, die versklavt wurden, und mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern der Herkunftsorte zusammenarbeiten.

Der genannte Brief ist zudem ein Beispiel dafür, welche ungeschönten und unzensierten Einblicke die Prize Papers bieten. „Unbeabsichtigt wurden Postsäcke zu Archiven“, schreiben die am Projekt beteiligten Experten des Londoner Nationarchivs (TNA), Dr. Amanda Bevan und Dr. Randolph Cock, in einem Aufsatz, „massenhaft, ohne dass sie beim Versand auseinander gerissen, unbequeme Themen aussortiert oder die Briefe dem Zahn der Zeit ausgesetzt gewesen wären.“ Genau dieser Erhaltungszustand, die Materialität, ist ein besonderes Merkmal der Prize Papers. Zudem zeigen die Briefe von Catharina Borck beispielhaft, wie die Prisenpapiere globale Mikrogeschichten sichtbar machen, wie sich also anhand der Quellen globale Zusammenhänge im Kleinen betrachten lassen.

 

Dieser Text ist ein überarbeiteter Auszug aus dem Artikel „Schnappschüsse der Vergangenheit”, zuerst erschienen in der Ausgabe 2021/22 des Forschungsmagazins EINBLICKE. Autorin: Deike Stolz

Presse & Kommunikation (Stand: 20.06.2024)  | 
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