Schreiben lernen unter Deck
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Für sämtliche Aufnahmen von The National Archives gilt: Images reproduced by permission of The National Archives, London, England
Schreiben lernen unter Deck
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Was der Bremer Matrose Johann Pohl zu Papier brachte, wäre üblicherweise kaum in einem Archiv überliefert worden. Seine zählt zu den vielen ungehörten Stimmen, die die Erschließung der „Prize Papers” zu Gehör bringt und so das Wissen über vergangene Jahrhunderte ergänzt.
Das kleine Notizheft muss dem Matrosen Johann Pohl einiges bedeutet haben. Der Zustand des Büchleins – das billige Papier zerfleddert, gewellt, wettergegerbt – zeugt davon, dass es häufig in Benutzung und den Elementen ausgesetzt war; dass der aus Bremen stammende Seemann es vermutlich stets bei sich trug. Es befand sich vier Jahre lang in seinem Besitz, bis es ihm an Bord des Handelsschiffs „Concordia“ am 6. April 1758 im Ärmelkanal förmlich entrissen wurde: Englische Kaperfahrer übernahmen in den Gewässern vor dem Kreidefelsen „Beachy Head“, einem berüchtigten Kaperort, die Kontrolle über das Schiff.
Zwar segelte der Dreimaster unter neutraler Bremer Flagge, kam allerdings auf seinem Weg von der Karibik nach Amsterdam aus der Richtung französischer – und somit damals feindlicher – Gewässer. Dieses Verdachtsmoment genügte den Kaperern, um die Ladung aus Kaffee, Zucker und Baumwolle, aber auch die an Bord der „Concordia“ befindlichen Postsäcke, die Schiffsdokumente und sämtliche private Habe der neun Seeleute und des Kapitäns zu konfiszieren. Die Dokumente – sogenannte Prisenpapiere dienten anschließend vor dem Londoner Admiralitätsgerichtshof dazu, jegliche Verbindungen zum Kriegsgegner, in diesem Fall Frankreich, aufzudecken und damit über die Rechtmäßigkeit der Kaperung zu entscheiden. Denn die Übernahme „feindlicher“ Schiffe nebst ihrer Ladung galt jahrhundertelang in Kriegszeiten als legitim, eigene Gerichtsbarkeit inklusive.
Johann Pohls Notizheft spielte in dem folgenden Prozess als Beweismittel keine Rolle. Dennoch verwahrte der „High Court of Admirality“ (HCA) dieses wie auch die übrigen Dokumente und Dinge von Bord der „Concordia“ als Teil seiner Gerichtsakten, unter anderem lagerte das Kapergut einige Jahrzehnte im Tower of London. Es stammt aus dieser und etwa 35.000 weiteren Schiffskaperungen zwischen 1652 und 1815. Allein während dieser Zeit führten europäische Mächte in ihren Gewässern und auf den Weltmeeren ganze 14 Seekriege. Seit 1858 befindet sich der Bestand in den „National Archives“ (TNA) im Stadtteil Kew, mehrere Millionen Dokumente und Gegenstände diverser Art und Herkunft – bis vor Kurzem auch von den Archivaren weitgehend vergessen.
Der Quellenbestand wird seit 2018 im Langzeitprojekt „Prize Papers“ unter Oldenburger Leitung und dem Dach der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen erfasst, digitalisiert, im Originalzustand bestmöglich konserviert und der Wissenschaft sowie Öffentlichkeit in einer Datenbank nach und nach zugänglich gemacht. Allein die 90 Dokumententypen bieten immer wieder neue, oft überraschende Funde und so Historikerinnen und Historikern weltweit wie auch in Oldenburg Ansatzpunkte für ihre Forschung. Darunter zählt das Notizbüchlein von Johann Pohl – oder „Jean Pol“, wie er auf Deck gerufen wurde – für den Oldenburger Historiker Dr. Lucas Haasis bislang zu den bewegendsten Dokumenten.
„Im ersten Moment ist es ein lotteriges Heft mit Schreibübungen“, sagt Haasis, der im Projekt die Vernetzung mit Forscherinnen und Forschern weltweit koordiniert. Auf den zweiten Blick sei es aber viel mehr: Zum einen zeige es beispielhaft, dass im 18. Jahrhundert schon mehr Menschen schrieben oder dies lernten als lange angenommen. „Es schreiben deutlich mehr Leute als gedacht – und nicht nur Männer aus bürgerlichen oder adligen Kreisen. Wir finden sehr viele Briefe von Frauen aus unterschiedlichen Ständen in den Prize Papers, Kinder verfassten Briefe, und auch Seeleute. In dem Ausmaß hätte man das nicht erwartet“, sagt er. Da Schreibkompetenz für Seeleute damals nicht essenziell war, ging die historische Forschung lange davon aus, dass diese bei den meisten gerade fürs Unterzeichnen mit dem eigenen Namen reichte. Allerdings biete etwa die Concordia-Crew da nun ein deutlich differenzierteres Bild.
Zum anderen lege das Notizheft Zeugnis darüber ab, wie genau dieser Mann, über Jahre hinweg auf den Weltmeeren unterwegs, sich das Schreiben aneignete oder beibringen ließ: indem er zunächst einzelne Buchstaben wiederholte, dann monotone Buchstabenfolgen und schließlich bestimmte Passagen des Vaterunsers immer und immer wieder in sein Büchlein schrieb.
Schreiben lernen unter Deck
„Die in Schulen übliche Praxis des Schreibenlernens fand ihren Weg an Deck – oder besser: unter Deck – der Concordia“, so das Ergebnis von Haasis‘ Analyse. Pohl muss seine Schreibübungen mit großem Eifer ausgeübt haben, auch bei Kerzenschein, davon zeugen Wachsreste auf den Seiten.
Warum er dies tat, zeigt sich am Ende des zunächst unscheinbaren Büchleins – an dem ein Taufgedicht für seine kleine Tochter steht:
Bey dieser Tauff und klein Geschenck meine liebe Tochter sey eingedenck dass du durch mich zu dieser Frist getragen wirst zu Jesu Christ.
Dieser Text ist ein überarbeiteter Auszug aus dem Artikel „Schnappschüsse der Vergangenheit”, zuerst erschienen in der Ausgabe 2021/22 des Forschungsmagazins EINBLICKE. Autorin: Deike Stolz