Nachwachsende Rohstoffe und Elektrochemie
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Nachwachsende Rohstoffe und Elektrochemie
von Susanne Pleus und Carl H. Hamann
In nichtwässrigen Lösungsmitteln lassen sich mittels der negativen Elektrode einer Elektrolysezelle Elektronen direkt auf Zuckermoleküle übertragen. Dies wird für den einleitenden Schritt eines neuen Weges zur Gewinnung modifizierter Zucker, z. B. in Form von Alkyl- und Acylglycosiden, ausgenutzt. Letztere stellen wichtige Fein- oder Spezialchemikalien dar, die als Vorprodukte sowohl in der Medizin und Pharmazeutik als auch in der Petro- und Farbenchemie sowie Kunststoffindustrie Verwendung finden können. Die hier vorgestellten Arbeiten wurden von der chemischen Industrie und vom Bundesforschungsministerium gefördert.
Die Nutzung nachwachsender Rohstoffe hat in der Chemie eine lange Tradition. Bis 1930 wurden z. B. Kunststoffe (damals Gummi, Vulkanfiber, Celluloid, Galalith) zu 100 Prozent aus nachwachsenden Rohstoffen hergestellt. An der heutigen Rohstoffbasis der chemischen Industrie sind nachwachsende Rohstoffe (in Form von Ölen, Fetten, Zucker, Stärke und Cellulose) mit 1,8 Mio. Tonnen beteiligt. Dies entspricht 10 Prozent des Gewichts und 20 Prozent des Wertes aller verwendeten Chemierohstoffe. Als Produkte seien genannt: Pharmazeutika (Antibiotika, Vitamine), Kosmetika (Haut- und Haarpflegebereich), Detergenzien (Tenside zur Herstellung von Wasch-, Spül- und Reinigungsmitteln, Emulgatoren und Hilfsmittel bei der Färberei), Pflanzenschutzmittel, Verpackungsmaterialien (Papier, Filme, Folien), Textilien (Appreturen), Klebstoffe (Tapetenkleister, Leime für Holzplatten), Baustoffe (Gips- Kartonplatten) sowie Chemikalien (Kunstharze, Polyurethane, Polyether, Phenolharze, Weichmacher, organische Säuren).
Für die medizinische Forschung sind vor allem Glycokonjugate aus Kohlenhydraten und Proteinen (Glycoproteine) oder Lipiden (Glycolipide) als Hauptbestandteile von Zellmembranen von entscheidender Bedeutung, besonders seit bekannt ist, welche Rolle dem Kohlenhydratteil im pharmakologischen und cytotoxischen Sinne zukommt. So erfüllt der Kohlenhydratteil wichtige Funktionen bei der Zell-Zell-Erkennung und -Wechselwirkung, bei der Zellwachstumskontrolle und Krebsentstehung.
Aus industrieller Sicht stellen die angeführten Stoffe Fein- oder Spezialchemikalien dar, welche zu guten Preisen absetzbar sind. Technische und wirtschaftliche Kriterien entscheiden bei solchen Produkten zwischen nachwachsender Rohstoff- oder petrochemischer Basis. Ein Wettbewerbsvorteil - und damit eine intrinsische (auch bei Fehlen von Subventionen vorhandene) Wirtschaftlichkeit - wird für den nachwachsenden Rohstoff um so größer, je besser die für das Produkt gewünschte molekulare Zielstruktur im Rohstoff bereits vorgegeben ist.
Der Zugang zu chemischen Grundprodukten (wie etwa Ethylen, Propylen, Benzol, Toluol) aus nachwachsenden Rohstoffen hingegen ist unökonomisch. Die von der Natur mit erheblichem Energieaufwand (Solareinstrahlung) gebildeten komplexen Molekülstrukturen - hinzu tritt der energetische und wirtschaftliche Aufwand für den Anbau - werden unter weiterem Energieaufwand in niedrigmolekulare, niedrigpreisige Stoffe umgeformt. Hier wird die petrochemische Basis - im künftigen Jahrhundert die Kohlebasis - ausschlaggebend bleiben.
Auch die Gewinnung von Motortreibstoffen aus nachwachsenden Rohstoffen ist problematisch. Für den Fall des sog. Zuckeralkohols - Vergärung von Zucker zu Ethanol - greifen die soeben ausgeführten Überlegungen. Für den Fall von Biodiesel werden die von der Natur aufgebauten Großmoleküle des Rapsöls zwar nicht zerstört, sondern nur modifiziert (zum Rapsölmethylester). Dafür ist jedoch der Anbau der Rapspflanze energetisch sehr aufwendig, kaum eine Pflanze benötigt mehr Düngemittel. Auch die Frage nach einer Verbesserung der CO2-Bilanz bleibt offen: mit einem spitzen Bleistift gerechnet wären die CO2-Emissionen bei Anbau, Aufzucht und Verarbeitung des nachwachsenden Rohstoffes ebenso in Rechnung zu stellen wie etwa für die (anteilige) Herstellung der Arbeitsmaschinen. Als Charme des Biodiesels verbleibt aber die doppelte Subvention (in Form der Anbauprämie und des Verzichts auf Mineralölsteuer) - und blühende Rapsfelder sind ein ästhetischer Reiz.
Im folgenden wird ein neues Verfahrens zur einfachen Gewinnung wertvoller Produkte aus nachwachsenden Rohstoffen dargestellt. Natürliche Kohlenhydrate sowie daraus einfach erreichbare Folgeprodukte werden elektrochemisch (d. h. mittels einer Elektrolyse) modifiziert. Es entstehen wichtige Feinchemikalien, welche gerade für die medizinische Forschung - als Bausteine bei der Synthese von Glycokonjugaten - Bedeutung haben.
Geschichtliches zur Elektrochemie der Kohlenhydrate
Die früheste Arbeit zur Elektrochemie von Kohlenhydraten ist aus dem Jahre 1872. H. T. Brown beschreibt darin die Elektrolyse von Saccharose und Glucose in einer Becherzelle mit Platinelektroden. Sie führte zu einer CO2-Entwicklung und einem nicht näher beschriebenen Produktgemisch. Und es wird in dieser Arbeit auf eine Veröffentlichung des Holländers Brewster aus dem Jahre 1866 hingewiesen. Damit wäre - vorbehaltlich daß es nicht noch ältere Arbeiten gibt - die Elektrochemie der Kohlenhydrate 125 Jahre alt.
Eine systematische Elektrochemie der Kohlenhydrate beginnt allerdings erst um die Jahrhundertwende. C. Neuberg setzte 1908 Glucose an einer Bleianode in wäßriger Schwefelsäure zu einem Gemisch aus Gluconsäure, Arabinonsäure, Formaldehyd und weiteren Produkten um. Gluconsäure als gewünschtes Alleinprodukt konnten erst H. S. Isbell und H. L. Frush 1931 darstellen. Sie erzeugten an der Anode aus Bromid Hypobromid, welches die Glucose in Gluconsäure überführt. Zugegebenes Calciumhydroxid bildet mit letzterer sofort unlösliches Calciumgluconat. Diese Verfahrensweise wurde in den dreißiger Jahren industriell betrieben. Heute wird Gluconsäure enzymatisch aus Glucose gewonnen.
Angeregt durch die Arbeiten von Emil Fischer 1880, dem eine Umsetzung von Aldosen zu den Alkoholen an Natriumamalgam gelang, versuchte W. Loeb 1910 die erste direkte Elektrolyse von Glucose an Blei als Kathode in schwefelsaurer Lösung. Sie führte noch nicht zu dem gewünschten Ziel, der Umsetzung von Glucose zu Sorbitol. Erst die Arbeiten von Creighton 1926 ermöglichten die gewünschte Reaktionsführung. Sie wurde durch die Verwendung schwach alkalischer Lösung ermöglicht. 1937 wurde auf dieser Basis mit der kommerziellen elektrochemischen Herstellung von Sorbitol aus Glucose durch die Atlas Powder Company begonnen. Das Verfahren wurde im weiteren ausgebaut. Heute ist das Verfahren gegenüber einer chemisch katalytischen Hydrierung an Raney-Nickel nicht mehr konkurrenzfähig. Allein in Indien soll, wie berichtet wird, noch eine Anlage kleiner Kapazität arbeiten.
Eigene Arbeiten
Einige Jahre zurückliegende eigene Arbeiten auf dem Gebiet der kathodischen Umsetzung einfacher aliphatischer Alkohole wie Methanol und Ethanol haben gezeigt, daß sich diese Moleküle durch Direktübertragung von Elektronen mit hohen Umsatzraten in Anionen (Alkoholat-Ionen) und Wasserstoff spalten lassen (Abbildung 1 und 2). Werden an der Anode Chloridionen entladen und ordnet man zwischen den Elektroden eine selektiv für die Alkali-Kationen durchlässige Membran an, so entsteht im Kathodenraum das begehrte industrielle Zwischenprodukt Alkalialkoholat CH3ONa bei einer Elektrolysespannung um 3 V in einer elektrochemischen Direktsynthese (das heutige industrielle Verfahren geht von zuvor erzeugtem Natriumamalgam aus).
Die Direktübertragung von Elektronen auf Alkohole verliert allerdings schnell an Geschwindigkeit, wenn man zu langkettigen oder zu verzweigten aliphatischen Alkoholen übergeht. Eine technische Nutzung scheitert dann. Im Falle von Kohlenhydraten - die aus chemischer Sicht ja ebenfalls Alkohole (,,Polyole") darstellen - nimmt die Reaktionsgeschwindigkeit dann wieder soweit zu, daß eine präparative Nutzung möglich ist.
Diese Reaktion wurde in der letzten Zeit von uns ausführlich studiert. Da eine Elektrolysespannung von mehr als 3 V erforderlich ist, verwenden wir als Lösemittel Dimethylformamid (DMF) - Wasser als Lösemittel würde bei dieser Elektrolysespannung sofort zu Wasserstoff und Sauerstoff zersetzt. Abbildung 3 zeigt im linken oberen Teil beispielhaft das Substratmolekül Methyl a-D-glucopyranosid (vereinfachte Darstellung. An den mit 1 - 6 gekennzeichneten Stellen sind Kohlenstoffatome positioniert) und seinen Übergang nach Elektronentransfer in das Anion und den Wasserstoff. Als Reaktion an der Gegenelektrode läuft die Bildung elementaren Broms aus Lithiumbromid Li+Br- ab. Die zurückbleibenden Lithiumionen bilden wie im vorhergehenden Fall der Abb. 2 das Alkalialkoholat (Zuckeralkoholat).
Dieses stellt jetzt jedoch noch nicht das gewünschte Produkt dar. Vielmehr wird nach Ende der Elektrolyse - weitgehender Erschöpfung des im DMF gelösten Zuckers - ein Abfangreagenz zugegeben. In der Abbildung wurde als Beispiel Benzylbromid als Reagenz gewählt, der Zucker wird somit benzyliert (Bildung des Benzylethers).
Wie aus Abb. 3 ersichtlich, können sich aufgrund mehrfach vorhandener OH-Gruppen (,,Polyfunktionalität") gegebenenfalls unterschiedliche Anionen und damit auch unterschiedliche Produkte bilden - nach chemischer Bruttoformel zwar identisch, aber von unterschiedlicher molekularer Konfiguration (,,Isomere Produkte"). In der chemischen Systematik spricht man je nach substituierter Position von 2-0-Benzyl methyl-a-D-glucopyranosid (in der Zeichnung ausgeführtes Beispiel) bzw. von 6-0-, 3-0- und 4-0-Benzyl methyl-a-D-glucopyranosid.
Nach Beendigung der Reaktion mit dem Abfangreagenz werden die Produkte von Lösungsmittel und Salzkomponente abgetrennt und untereinander aufgetrennt (voneinander isoliert, mittels Säulenchromatographie). Die genaue Identifizierung (nach substituierten C-Positionen) erfolgt mittels Kernspinresonanz (nuclear magnetic resonance, NMR).
Selbstverständlich wird die Produktverteilung - der Anteil unterschiedlicher Substitutionspositionen am Produktspektrum - von Einsatzstoff und Abfangreagenz abhängen.
Für den Fall der in Abb. 3 dargestellten Reaktion erhält man als Hauptprodukt den 2-0-Benzylether zu 55 Prozent und den 6-0-Benzylether an zweiter Stelle zu 19 Prozent. Der Rest verteilt sich auf die 3- und die 4-Position (5 bzw. 7 Prozent) sowie auf diverse Mehrfachsubstitutionen im Prozent-Bereich. In anderen Fällen wurden - in Produktionsverfahren zumeist dringlich erwünschte - Substitutionen zu 100 Prozent an nur einer Position erzielt.
In unseren Arbeiten haben wir bisher insgesamt 18 unterschiedliche Zucker, darunter auch natürlich vorkommende Spezies wie etwa Saccharose (Rohrzucker), als Einsatzstoffe untersucht. Als Abfangreagentien fanden 12 unterschiedliche Spezies Verwendung - Alkylhalogenide (z. B. das Benzylbromid aus Abb. 3), Silylchloride (z. B. tert. Butyldiphenylsilylchlorid), Säurehalogenide und -anhydride. Da, wie zuvor ausgeführt, beim Einzelexperiment durch regioselektive Substitution unterschiedliche Isomere entstehen können, ist die Zahl der insgesamt synthetisierten Spezies erheblich. Sie beläuft sich auf mehr als 150, ein erheblicher Anteil davon wurde in der Literatur zuvor nicht beschrieben, also erstmals synthetisiert. Abbildung 4 gibt als Beispiel eine entsprechende Tabelle mit NMR-Daten zur Dokumentation der Analytik aus einer Fachpublikation wieder.
Die synthetisierten Spezies stellen chemisch Zucker dar, bei denen eine bestimmte OH-Gruppe durch eine 0-Alkyl- oder 0-Acylgruppe ersetzt worden ist. Solche Gruppen sind wesentlich weniger reaktiv als OH-Gruppen selbst. Das Molekül kann also nunmehr mit anderen Stoffen umgesetzt werden, ohne daß die in Rede stehende Position angegriffen wird. Die Alkyl- bzw. Acylgruppe wird daher chemisch als Schutzgruppe gekennzeichnet, welche weitere regioselektive Reaktionen (z. B. zu in der Einführung genannten Feinchemikalien führend) überhaupt erst ermöglicht.
In der organisch-präparativen Chemie wird die Bildung von Zuckeranionen unter Zuhilfenahme gebräuchlicher Basen wie NaH, LiH, KOH und Ag20 erreicht. Um gezielte, regioselektive Alkylierungen und Acylierungen, die in der Schutzgruppenchemie der Kohlenhydrate unersetzlich sind, durchführen zu können, müssen zudem Hilfsreagentien, wie metallorganische Verbindungen, eingesetzt werden. Verwendet man, wie hier beschrieben, Elektronen als Reagenz, so läßt sich eine erhebliche Menge entsprechender Abfallstoffe einsparen.
Fazit
Neue Synthesewege für bekannte Substanzen bzw. die Synthese neuer Substanzen sind wichtige Ergebnisse chemischer Grundlagenforschung. Dies gilt auch dann noch, wenn die Ergebnisse nicht - wie heute oftmals gefordert - in Nullzeit in die industrielle Praxis umgesetzt werden. Der berühmte Maxwell soll einmal auf die Frage eines englischen Finanzministers nach dem Sinn seiner Forschungen (sinngemäß) geantwortet haben: "Einer Ihrer Nachfolger wird darauf schon noch Steuern erheben".
Die Autoren
Dr. Susanne Pleus (31) studierte Chemie in Münster und Oldenburg. Sie promovierte 1994 im hiesigen Arbeitskreis Angewandte Physikalische Chemie. Sie arbeitet dort jetzt als wissenschaftliche Assistentin an Elektroden, welche enantioselektive Elektrolysen ermöglichen sollen.
Prof. Dr. Carl H. Hamann (58) studierte Mathematik, Physik, Biologie und Volkswirtschaft in Hamburg und in Bonn. Er wurde 1975 auf den seinerzeit neueingerichteten Oldenburger Lehrstuhl für Angewandte Physikalische Chemie berufen. Sein Hauptinteresse gilt elektrolytischen Produktionsprozessen.