Schul- und Unterrichtsbesuche auf fünf Kontinenten

Seit 1975 habe ich Einladungen zu Vortrags- und Fortbildungsreisen auf allen fünf Kontinenten angenommen und jede Reise genutzt, um mir Unterricht im Besuchsland anzuschauen. So war ich im Unterricht in der Schweiz und in Österreich, in den Niederlanden, in Frankreich, in Dänemark und Finnland, auf Grönland, in Russland (Jaroslawl), in der Ukraine (Kiew), in der Türkei (Istanbul), in Israel, in Brasilien (Santos und Salvador da Bahia), Bolivien (St. Cruz, La Paz und El Alto) und in Paraguay (Filadelfia), in den USA (Washington/DC und Tuczon/Arizona), in San Salvador (City) und Guatemala (City), in Ägypten (Kairo) und Ghana (Alavanyo), in China (auf insgesamt acht Reisen in einem Dutzend Schulen) und in Japan (in Kumamoto) und im Jahr 2005 auch auf Neuseeland (auf Stewart Island). Meine Besuchsorte zeigt die Weltkarte:

Bei jeder dieser Reisen habe ich eine dicke Kladde mitgenommen und Tagebuch geführt. Diese Tagebücher sind die Grundlage für meinen Bericht.

Deutsche Auslandsschulen: Viele meiner Reisen erfolgten auf Einladung einer Deutschen Auslands- oder Begegnungsschule: z.B. in Paris, in Kiew (drei Mal), in Istanbul, in La Paz/Bolivien, in Santa Cruz/Bolivien, in Asuncion/Paraguay, in San Salvador, in Guatemala City, in Washington/DC.

Der Eindruck auf fünf Kontinenten war insgesamt eher positiv als negativ. Weltweit ist in den Kindergärten, Vorklassen und Schulen viel in Bewegung geraten! Und es geht nicht zurück zur Kasernenhof-Pädagogik, sondern fast überall gibt es Tendenzen in Richtung auf einen respektvollen Umgang, auf mehr Individualisierung der Lernprozesse und mehr Schülerpartizipation – auch wenn zumeist noch der Frontalunterricht dominiert.

Als Wissenschaftler frage ich mich, ob ich die weltweite Situation der Schulen und der Lehrerbildungs-Institutionen zu blauäugig einschätze. Das mag sein. Man muss ja davon ausgehen, dass wir in den meisten Fällen in Vorzeige-Schulen gekommen sind und dort das gezeigt bekommen haben, was unsere akademischen Gastgeber und die beteiligten Schulleitungen für „guten Unterricht“ halten. Aber ich bin, z.B. in Dänemark, in Jaroslawl (nördlich von Moskau) und auf Neuseeland, auch „einfach so“ in Schulen gegangen und habe dort einen nicht für Besucher hergerichteten Unterricht beobachtet. Damit komme ich zu einer Ausgangsthese.

These: Die Gemeinsamkeiten in der Unterrichtsgestaltung sind weltweit größer als die Unterschiede!

Ich bringe nun einen gerafften Überblick und folge dabei keiner Systematik, sondern der Chronologie meiner Fortbildungs- und Besuchsreisen.

(1)       Israel (1999) – Inklusion und hohes Niveau der inneren Differenzierung

Ich bin Mitglied einer Delegation Oldenburgischer Schulleiter, die den Landkreis Mateh Asher im Norden Israels, direkt an der Libanesischen Grenze, besucht. Wir kommen in ein halbes Dutzend verschiedener Kibbuz-Schulen. Sie standen 1999 und vermutlich auch noch heute unter erheblichem Druck, weil die sozialistische Idee des Kibbuz langsam zerbröselt. Eine der Konsequenzen: Die Kibbuz-Mitglieder versuchen, Vorzeige-Schulen aufzubauen, in die gegen Schulgeld aus dem Umland Schüler*innen geschickt werden. Nun einige wenige Impressionen:

Regba-School: Die Schüler*innen haben sich – natürlich angeleitet durch ihre Lehrer*innen –  ein eigenes Schülermuseum mit ökologischem und archäologischem  Schwerpunkt gebaut, in das Schulklassen von weither mit Bussen angereist kommen. Ein Dutzend speziell ausgebildeter Guides führt uns in englischer Sprache durch das Museum. Die Schüler*innen sind sichtlich stolz auf die selbst ausgedachten Experimente und die selbst beschafften Exponate.

Elementary School „Ma’ayanot“ im Kibbuz Cabri: Die Schule hat ein anspruchsvolles Individualisierungskonzept und arbeitet inklusiv.

Die Lehrerin gibt eine Rückmeldung zum individuellen Arbeitsergebnis.

Auf dem Schulhof ist eine große Fläche für einen „Schrottplatz“ reserviert, auf dem die Schüler klettern, basteln, toben können. Wir fragen uns: Warum geht das nicht in Deutschland? Dazu unser israelischer Gastgeber Arnon Rafaely: „Das deutsche Schulrecht ist eine via dolorosa!“

Alle Schüler haben sich in den letzten Tagen intensiv mit dem bevorstehenden Holocaust-Gedenktag befasst und ausdrucksstarke Plastiken hergestellt: einen KZ-Wachtturm, eine Zelle mit Stacheldraht. Ein geistig behindertes Kind malt das rechts abgebildete Bild und ist stolz darauf. 

High School „Ha Shalom“ („Peace School“): Es handelt sich um eine arabische Schule für Palästinenser und Araber, die einen israelischen Pass haben. Wir werden von einem halben Dutzend junger Mädchen empfangen, die uns einen Tanz vorführen.

Der Unterricht, der uns vorgeführt wurde, bestand aus streng lehrerzentriertem Frontalunterricht.

Der Stolz des Schulleiters ist ein neu eingerichteter Computer-Fachraum. Er wird in Direkter Instruktion genutzt. Der Lehrer hantiert die meiste Zeit vorn am einzigen Computer. Die Schüler*innen schauen zu.

Ein erstes Zwischenfazit: Nirgendwo sonst habe ich an zwei Schulen, die nur 8 km auseinander liegen und die eine halbwegs vergleichbare räumliche und finanzielle Ausstattung haben, solch große Unterschiede in der Unterrichtsgestaltung und im angestrebten Niveau selbstregulierten Lernens erlebt wie in diesen zwei Schulen. Daraus schließe ich:

These: Die soziokulturellen Leitbilder einer Gesellschaft schlagen in der Unterrichtspraxis durch – auch dann, wenn die Rahmenbedingungen (Finanzausstattung und administrative Vorgaben)  vergleichbar sind.

Abends werden wir vom Schulleiter zu sich nach Hause eingeladen. Er hat extra für uns einen Hammel geschlachtet, der vorzüglich mundet.

(2) Bolivien (2001) – Unterricht in einem der ärmsten Länder der Welt

Ich besuche gemeinsam mit Volker Wendt (Oldenburg) die Sonderpädagogin Barbara Heiß, damals eine meiner Oldenburger Doktorandinnen, die in Bolivien in schulischen Inklusionsprojekten mit Indigenen arbeitet und eine Einladung der Deutschen Schule La Paz vermittelt hat.

Fortbildung an der Deutschen Schule La Paz: ein Dutzend Einzelgebäude, verteilt auf einem großen Campus mit vielen Bäumen, Wegen, Sportstätten usw. in 3700 m Höhe. Die Zusammensetzung der Schülerschaft ähnelt einer großen deutschen Gesamtschule mit Abiturstufe. Vier Fünftel der Lehrerpersonen sind Bolivianer*innen.

Der Schulleiter bittet mich, zusätzlich zur ganztägigen Fortbildung (zu den Themen „Unterrichtsqualität“ und „Methodenvielfalt“) einen Workshop zum Thema „Erziehungsverwahrlosung“ anzubieten. Der Grund: Immer mehr Schüler deutschstämmiger Großgrundbesitzer verlieren allen Respekt vor Lehrer*innen und Polizisten.[1]

Ich spreche mit der Leiterin des Kindergartens der Deutschen Schule. Sie hat in den USA ein Diplom in Psychologie erworben. Sie ist total fit und steckt bei den Diskussionen auf unserem Fortbildungstag mit ihren klugen Anregungen viele Lehrer*innen der Sekundarstufen „in die Tasche“.

Besuch der Primaria „Mariscal Braun“ in El Alto: Barbara Heiß, Volker Wendt und ich besuchen in El Alto in 4100 m Höhe (oberhalb von La Paz) eine UNESCO-Schule, die ein kostenloses Unterrichtsangebot für die damaligen „underdogs“ der bolivianischen Gesellschaft, die Quechua-Indianer macht.[2]

In der achten Klasse besuchen wir einen Aufsteigerkurs.

Die Schüler*innen erläutern uns, welche Berufswünsche sie haben. Viele wollen Ärzte, Piloten und Juristen werden. Aber die Chancen dafür sind angesichts des erreichbaren Abschlusses gleich null.

Frontalunterricht: Der gesamte Unterricht, den wir einen Vormittag lang beobachten, besteht aus Frontalunterricht.

Vorklassen: Die Schule hat mehrere Vorklassen. Die Kinder sind wegen der Außentemperaturen dick ein-gekleidet, aber bester Dinge. Der Raum der Vorklasse könnte einen neuen Anstrich vertragen, aber alles ist sauber und aufgeräumt. Es gibt nur sehr wenige Arbeitsmaterialien und Lernmittel. Der Tonfall ist überall sehr freundlich. In den Pausen hängen die kleinen Kinder wie die Kletten an den Erzieherinnen und Grundschullehrerinnen.

Lehrergehälter: Barbara Heiß stellt mir eine gute persönliche Bekannte – eine Quechua-Frau – vor. Sie ist Lehrerin an der Primaria. Sie hat vor einer Woche ein Kind bekommen und ist sieben Tage später schon wieder im Schuldienst. Ich frage sie, warum sie schon so schnell wieder arbeitet. Ihre Antwort: „Wenn ich nicht arbeite, wird mir das vom Lohn abgezogen. Und das kann ich mir einfach nicht leisten. Meine ganze Familie lebt von meinem Lohn.“

„Bolivia is over-aided“? In Bolivien tummeln sich sehr viele Vertreter nationaler und internationaler Entwicklungshilfe-Projekte. Auch im Schulbereich. So haben wir eine großartig eingerichtete und von bayrischen katholischen Nonnen geführte Schule in La Paz besucht. Aber die viele Hilfe produziert auch Probleme. Der Ehemann von Barbara Heiß, ein Entwicklungshelfer, der seine Alimentierung aus Deutschland eingestellt und eine Landwirtschaftskooperative mit Indios gegründet hat, erklärt uns: „Bolivia is over-aided! Die nationalen und lokalen Entscheidungsträger fangen gar nicht erst an zu arbeiten, wenn sie nicht vorher einen Sponsor aus Europa oder den USA gefunden haben. Das lähmt alle Eigeninitiative.“

Ein zweites Zwischenfazit: Was die bolivianischen Kolleginnen und Kollegen unter ärmlichsten Bedingungen leisten, ist mehr als beeindruckend und verdient all unseren Respekt! Wir leben in Deutschland in unbeschreiblichem Luxus. Dann ist es viel leichter, die Rahmenbedingungen für offenen Unterricht mit hohen Anteilen an Selbstregulation und großem Medieneinsatz aufzubauen!

(3)      Neuseeland (2005) – gelingende Integration

Mein Zwillingsbruder und ich, meine Schwägerin und meine Frau machen eine private Reise nach „down under“. Auf Stewart Island (am südlichsten Zipfel der Südinsel – danach kommt nur noch die Antarktis! – besuchen wir eine kleine Dorfschule mit 17 Schüler*innen und entdecken einen hochmodernen Abteilungsunterricht in einer Klasse mit den Jahrgängen 0 bis 7.

Jedes Kind, das den 5. Geburtstag hat, wird in Neuseeland an diesem Tag schulpflichtig. Das zwingt die engagierte und wirklich fitte Lehrerin zwangsläufig, ein hohes Niveau der inneren Differenzierung umzusetzen. Sie nutzt die Jahrgangsmischung und hat ein gut funktionierendes Helfersystem aufgebaut. Zwischendurch kommt eine Mutter vorbei und verteilt an alle Kinder Obst und Gemüse. (Warum geht das nicht in Deutschland?) Die Schule droht geschlossen zu werden, weil sie zu klein wird. Deshalb ist die Lehrerin glücklich, von drei oder vier schwangeren Frauen gehört zu haben.

Beeindruckend für uns ist die Integration der Maori-Kinder des Dorfes. Das kleine Mädchen vom Foto ist in ihrer Abteilung die Strippenzieherin. Auch die größeren Schüler ihres Jahrgangs tun, was sie sagt.

 (4)      Grönland (2008) – The lost Generation

Schon im Jahr 1985 hatte der Inuit und damalige Direktor des grönländischen Lehrerseminars, Ingmar Egede, bei seinem Besuch an der Uni Oldenburg eine Einladung ausgesprochen, ihn und sein Seminar zu besuchen. Er versprach uns, uns im Kajak zur Seehundjagd mitzunehmen. Im Jahr 2008 ist die Inuit Dorthe Korneliussen[3] die Direktorin. Sie wiederholt die Einladung und bittet mich, mit Inuit-Studierenden und dänischen Dozenten Fortbildung zu meinem auf Dänisch erschienenen Buch „Was ist guter Unterricht?“ zu machen. Wenn man aus dem Fenster des Seminarraums auf das Wasser schaut, sieht man ganz langsam große Gletscher vorbeiziehen:

Im Jahr 1979 hatte Grönland (mit lediglich 55.000 Einwohnern) die innenpolitische Selbstverwaltung vom Mutterland Dänemark zugesprochen bekommen. Einer der ersten Beschlüsse der neuen Regierung betraf die Sprachenregelung in den Schulen: Ab sofort sollte nur noch in der wichtigsten Inuit-Sprache unterrichtet werden, was schon deshalb sehr schwierig war, weil es ein knappes Dutzend verschiedener Inuit-Sprachen gibt, die untereinander nicht verstanden werden. Nach 7 Jahren wurde das Sprachen-Experiment abgebrochen, weil die Inuit-Schüler nun nur noch wenig Dänisch und überhaupt kein Englisch lernten. Die Folge: Sie konnten nicht einmal ins Internet gehen. Seither werden diese Jahrgänge als „lost generation“ bezeichnet.

Mein Zwischenfazit: Man kann sich in der globalisierten Weltgemeinschaft der „lingua franca“ Englisch nicht entziehen, ohne massive Nachteile zu haben. Das haben auch die Chinesen verstanden. Hier lernt jeder Schüler, jeder Schülerin schon in der Grundschule Englisch.

(5)      Paraguay (2013) – Unterricht bei den deutschstämmigen Mennoniten

Die Mennoniten, vor 500 Jahren in Zürich als reformierte Erweckungsbewegung gegründet, waren 450 Jahre lang auf der Flucht, weil sie strikt jeden Wehrdienst abgelehnt haben. In Paraguay haben sie mit Sonderdekret im Norden des Landes (im Gran Chaco, einer Strauchwüste fast so groß wie die BRD, mit wenig Wasser und viel salzigem Boden) eine neue Heimat gefunden. Sie leben heute von Viehwirtschaft und Erdnussanbau. Und es geht ihnen das zweite Mal in ihrer Geschichte ökonomisch gut.[4]

Die mennonitischen Ortsgemeinden sind auch die Schulträger. Einmal im Jahr wird beschlossen, wie viel Gehalt die Lehrer bekommen. Da es knapp ist, ist ein Drittel der Lehrer dazu übergangen, sich selbst eine Viehherde zuzulegen. Damit erwirtschaften sie oft doppelt so viel Geld wie mit dem Lehrerberuf.

Der Unterricht bewegt sich weitgehend, aber nicht immer auf hohem didaktischen Niveau. Dazu trägt auch bei, dass das Lehrerbildungsinstitut dafür sorgt, dass alle Lehramtsstudierenden ein Praktikum an einer deutschen Schule machen. Auch die fertig ausgebildeten Lehrer*innen halten engen Kontakt mit Deutschland, aber auch zu den großen mennonitischen Gemeinden in Kanada.

Grundschulunterricht: Domenika Eitzen, unsere Gastgeberin, unterrichtet in der Klasse 2 der Johann-Cornies-Elementarschule.[5]

Der Unterricht ist vollständig auf Deutsch, weil alle Schüler*innen aus der mennonitischen Gemeinde kommen, in der Hoch- und Plattdeutsch gesprochen wird. Der Unterricht hat ein sehr hohes Niveau. Nach 15 Monaten Unterricht konnten fast alle lesen, schreiben und im vorgesehenen Zahlenraum rechnen. Es gibt viel innere Differenzierung, z.B. durch Wochenplanarbeit und Stationenlernen.

Inklusion: Ein Mädchen in der 2. Klasse ist verstummt. Es sitzt an seinem Platz, während die anderen Mädchen neben und hinter ihr stehen. Es spricht seit einem Jahr in der Schule kein einziges Wort – zuhause aber gibt es keine solchen Ausfälle. Deshalb wird dieses Krankheitsbild als selektiver Mutismus („auswählende Stummheit“) bezeichnet. Ein zweiter Junge hat (leichten) Autismus, der von der ehrgeizigen Mutter nicht als Erkrankung anerkannt wird. Beide Kinder sind sozial gut integriert, auch weil sich die Mädchen liebevoll um sie kümmern.

Lehrerbildungsinstitut: Die mennonitischen Kolonien im Gran Chaco haben ein kleines Lehrerbildungsinstitut mit 50 Studierenden aufgebaut. Der frühere Leiter, Jakob Warkentin, hat bei Wolfgang Klafki promoviert.

Mein Zwischenfazit: Dort, wo ein reger schulpädagogischer Austausch stattfindet, wird eher „offener Unterricht“ praktiziert und es gibt ein höheres Niveau der Individualisierung des Lernens.

(6)      Ghana (2013) – Ein Lehrstück in Respekt

Auf Einladung der Evangelical Presbyterian Church of Ghana besuche ich mit meiner Frau eine Woche lang die kirchliche Universität in Ho und mache dort mit den Professor*innen eine Fortbildung zum Thema „Teaching Methods“:

Nach dem Besuch von Ho geht es weiter an das Vocational Institute in Alavanyo – eine große berufsbildende Schule, die stark von der EKD (Evangelische Kirche Deutschlands) unterstützt wird.

Ein engagierter, sehr schülerzugewandter Schulleiter. Viele engagierte, herzliche Lehrpersonen, aber auch eine Überraschung:

Englischunterricht – mit dem Knüppel in der Hand: Ich komme – angekündigt – zwanzig Minuten nach Unterrichtsbeginn in den Englisch-Klassenraum. Ein circa 18-jähriger Schüler kniet auf dem Fußboden. Ich bin irritiert und frage meinen Gastgeber warum. Seine Antwort: „Das ist ein junger Englischlehrer. Er muss sich erst noch Respekt erarbeiten.“ Dazu passt der Knüppel aus Zuckerrohr, der auf seinem Pult liegt und den er wiederholt in die Hand nimmt.

Dazu sollte man wissen, dass in Ghana vor 25 Jahren die Prügelstrafe ganz offiziell per Dekret abgeschafft war. Sieben Jahre später wurde sie wieder zugelassen, weil in vielen Schulklassen der Unterrichtsbetrieb mehr oder weniger stark zusammengebrochen war.

Wir sollten aber nicht überheblich werden! In Deutschland wurde die Prügelstrafe erst in den 1960er Jahren verboten. In meinem ersten Schulpraktikum im Jahr 1962 in Ostfriesland wurde sie gerade von der neu eingestellten Lehrerin abgeschafft und die Schüler, die zuvor von dem Lehrer mit dem Spitznahmen „Prügel-Fischer“ unterrichtet worden waren, hatten ihre liebe Mühe einzusehen, dass Nicht-geschlagen-Werden keineswegs bedeutet, alles richtig gemacht zu haben.

Das Honorar für die zweitägige Fortbildung in Alavanyo hat mich beeindruckt: Es bestand aus einer großen Staude mit Kochbananen und einem Eimer voller Palmölsamen.

Mein Fazit: Respekt ist eine weltweit geforderte zentrale didaktische Kategorie (Sennett 2004). Er schafft die Grundlage für ein Arbeitsbündnis zwischen Lehrperson und Schüler*innen. – Aber was genau darunter zu verstehen ist, wird in Abhängigkeit zum soziokulturellen Entwicklungsstand sehr unterschiedlich interpretiert.

(7)      China (206-2019) – Abschied von Klischeevorstellungen

Ich habe inzwischen ein gutes Dutzend chinesischer Kindergärten und Schulen besucht und viele Unterrichtsstunden gesehen. Der Unterricht ist deutlich lehrerzentrierter als in Deutschland – aber das auf hohem fachlichem und didaktischem Niveau.[6]

„Kindergarten“ der East China Normal University in Shanghai. Er befindet sich auf dem Campus der Universität. Circa 500 Kinder besuchen ihn. Es gibt ein genau ausformuliertes Curriculum. Dazu Fachräume für naturwissenschaftlichen Unterricht, für Projektarbeit, für Kalligrafie. Die Kinder sind munter und fröhlich bei der Sache.

Eine Unterrichtsstunde im Kindergarten: Meine ehemalige Doktorandin Catherine Walter-Lager (eine Züricher Erzieherin, die nun Professorin für Elementarpädagogik an der Uni Graz geworden ist) ist mitgereist. Sie macht mit den chinesischen Kindern eine Bewegungs-Übung. Und danach erzählt sie eine Bildgeschichte zu einem Schweizer Kinderbuch. Sie spricht Schwyzer-Deutsch. Das wird von Manfred Pfiffner ins Englische und von Ma Yuan, Promotionsstudentin an der Humboldt-Universität Berlin, ins Chinesische übersetzt. Ich bin beeindruckt, wie professionell Catherine an die Arbeit geht. Man sieht in einer Minute, dass die Erzieherausbildung jederzeit „verlebendigt” werden kann.

Unterricht in einer Elementarschule in Fenhu (bei Shanghai): Die Schüler*innen machen während der Mathestunde eine kleine Konzentrationsübung und reiben sich die Nase und die geschlossenen Augen.

Inklusion in einer Elementarschule in Shanghai: Wir besuchen 2016 die Tian Elementary School in Shanghai. Die Schule arbeitet inklusiv und ist stolz darauf. Sie wird von der Shanghaier Kommune und von Wissenschaftlern unterstützt. Wir sehen eine Mathematik-Stunde in der 5. Klasse, darin ein stark autistisches Kind mit Namen Tong Tong. Es kann sich sprachlich nur sehr begrenzt auf dem Niveau eines Zweijährigen artikulieren. Tong Tong hat gerade gelernt, das Wort „ich“ korrekt zu nutzen. Er ist aber stark im Rechnen und spielt grandios Klavier.[7] Die beiden Mädchen rechts und links von seinem Sitzplatz unterstützen ihn tatkräftig. Im Nachgespräch frage ich: „Wie viele Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf sind in dieser Klasse?“ Die Antwort: „Nur eins, Tong Tong!“ Die nächste Frage: „Wie ist Tong Tong auf diese Schule gekommen?“ Die Antwort: „Seine Eltern sind reich. Sie haben sehr viel dafür bezahlt.“

Mein Zwischenfazit: Nicht nur zwischen armen und reichen Nationen fehlt es an Bildungsgerechtigkeit (siehe Bolivien). Auch innerhalb einzelner Nationen geht es oftmals ungerecht zu. Das wird in China allerdings insbesondere im Blick auf die fehlende Bildungsgerechtigkeit zwischen Stadt- und Landkindern heftig diskutiert (siehe Ye Xuping 2017).

Oberstufenunterricht in Ma’Anshan: Im September 2019 habe ich in der Ma’Anshan-Highschool No. 2 der Stadt Ma’Anshan in der Provinz Anhui (westlich von Shanghai) im Englischunterricht des 11. Jahrgangs eine Stunde zum Thema „Should students wear school uniforms?“ angeschaut. Die Schule hat 3000 Schüler*innen des 10. bis 12. Jahrgangs und 230 Lehrer*innen. Montags bis donnerstags sind Schuluniformen vorgeschrieben, am Freitag können die Schüler*innen selbst entscheiden. Die Stunde ist im Lehrerkollektiv vorbereitet worden.

Sechzig Schüler*innen sitzen in einem Vorführraum.[8] Zwei Schüler tragen keine Uniform, obwohl es ein Mittwoch ist. Die junge Lehrerin, Frau Ji Ke, spricht perfektes Englisch. Um auch in den hinteren Reihen gehört zu werden, trägt sie ein Mikrofon. Die Arbeitsaufträge werden mündlich gegeben, erscheinen aber auch auf dem Whiteboard. Die Stunde beginnt mit einer Tuschelrunde zur Einfühlung in das Thema. Danach werden Dreier- und Vierergruppen gebildet, die den Auftrag erhalten, ihre Antwort auf die strittige Frage zu klären und dann in drei Punkten schriftlich festzuhalten. Die Lehrerin geht herum und schaut sich Zwischenergebnisse an.

30 Minuten nach Stundenbeginn beginnt die Auswertung. Die Gruppensprecher*innen werden einzeln nach vorn gerufen. Sie tragen die Gruppenmeinung in flüssigem Englisch vor. Die Lehrerin notiert an der Tafel, ob sie pro oder kontra votiert haben. Sie ruft gezielt auch Kontra-Gruppen nach vorn. Aus Zeitgründen können aber nicht alle, sondern nur acht Gruppen vortragen. Zum Schluss gibt es sechs Pro- und zwei Kontra-Stimmen. Eine Pro-Stimme: „We should wear uniforms to show respect to our school.“ Eine zweite Pro-Stimme: “Rich parents can pay for expensive clothes. And that’s not good for the classroom-climate.” Eine Kontra-Stimme: „We all have a different personality. Having our own clothes, makes us happier.” Es gibt ein das Ergebnis zusammenfassendes Schlussstatement der Lehrerin und ein Lob an die Schüler*innen.

Mein Zwischenfazit: Nicht nur zwischen armen und reichen Nationen fehlt es an Bildungsgerechtigkeit (siehe Bolivien). Auch innerhalb einzelner Nationen geht es ungerecht zu. Das wird in China von Didaktiker*innen insbesondere im Blick auf Land-Stadt-Unterschiede heftig diskutiert (siehe Ye Xuping 2017). Diskussionen über Ungleichbehandlung der Uiguren habe ich nicht wahrgenommen.

(8)       Zusammenfassung

Ich fasse meine vielfältigen Beobachtungen zum Schulalltag auf fünf Kontinenten zu wenigen generalisierenden Schlussfolgerungen zusammen:

(1)    Die Gemeinsamkeiten in der Unterrichtsführung sind in den verschiedenen Nationen und auf allen Kontinenten weitaus größer als die Unterschiede.

(2)    Weltweit dominiert – auch in Europa – der Frontalunterricht.

(3)    Offener Unterricht mit starker innerer Differenzierung und hohen Anteilen an Selbstregulation ist eher selten. Ich habe ihn in Kibbuz-Schulen in Israel, auf einer kleinen Inselschule in Neuseeland, aber auch bei den deutschstämmigen Mennoniten in Paraguay und in einer Elementarschule in China gesehen. Wir haben keine genauen Zahlen, aber der Anteil geöffneten Unterrichts dürfte weltweit zwischen 0 bis 2 Prozent liegen und in keiner Nation mehr als 10 Prozent ausmachen.

(4)    Die Rahmenbedingungen für die Unterrichtsarbeit variieren stark. Wir leben in Europa, verglichen mit Nationen wie Bolivien, San Salvador oder Ghana, in großem materiellem Reichtum. Das macht es leichter, die didaktisch-methodischen Voraussetzungen für die Öffnung des Unterrichts zu schaffen (kleine Klassen, flexible Raumnutzung, Medieneinsatz, Whiteboards usw.). Aber das Beispiel Israel zeigt: ausreichende Ressourcen reichen nicht. Es muss auch eine mentale Offenheit der Lehrer*innen und der Bildungsadministration gegenüber diesen deutlich anspruchsvolleren Unterrichtskonzepten hergestellt werden.

(5)    In einigen Nationen gibt es wie auf Neuseeland jahrgangsgemischten und auch inklusiven Unterricht ‚wider Willen‘, weil rückläufige Schülerzahlen zum Abteilungsunterricht zwingen oder weil es keine Sonderschulen gibt.

(6)    Lehrer*innen und Schüler*innen gingen in den von mir besuchten Schulen bis auf wenige Ausnahmen respektvoll miteinander um. Allerdings variiert das Verständnis von Respekt stark. In Ländern wie China und Japan wird der dem Lehrer zu zollende Respekt schon vor Schuleintritt in der familiären Sozialisation vermittelt, so dass er im Unterricht problemlos vorausgesetzt werden kann. In Ländern wie Ghana und Bolivien ist das nicht so.

(7)    Weltweit setzt sich Englisch als erste Fremdsprache durch. Dort, wo versucht wurde, mit der schulpolitischen Autonomie auch gleich den Englischunterricht abzuwickeln (z.B. 1979 auf Grönland), wurde dieses Experiment bald abgebrochen.

(8)    Schulgebäude ähneln sich weltweit, die Schulhöfe, die Flure und Klassenraumeinrichtungen ebenfalls. Sehr oft gibt es in den Klassenzimmern die Sitzordnung „Bus-Form“ oder allenfalls die U-Form. Kibbuz-Schulen in Israel und reiche Privatschulen, z.B. die Deutsche Schulen in La Paz/Bolivien, in San Salvador, in Washington/DC können sich ein Campussystem mit vielen Einzelgebäuden, Fachräumen, einer Mensa usw. leisten.

(9)    Überall gibt es staatliche curriculare Vorgaben, mit denen allerdings unterschiedlich umgegangen wird. In Brasilien, Paraguay oder Bolivien gehen viele Schulleiter davon aus, dass Papier geduldig sei, so dass nichts so umgesetzt werden muss, wie es vorgegeben wurde. In China und Deutschland bemüht man sich zumindest, die Vorgaben ernst zu nehmen. Aber das von Helmut Fend (2006) formulierte Gesetz der Rekontextualisierung der administrativen Vorgaben gilt offensichtlich weltweit, auch wenn die von mir befragten chinesischen Schulleiter – anders als die in Brasilien – angaben, dass sie sich strikt an die Vorgaben halten.

(10)  Die Weiterentwicklung des Unterrichts hin zu einer stärkeren Schülerpartizipation ist in reichen Ländern deutlich einfacher zu realisieren als in armen Ländern.

Viele der von mir besuchten Schulen waren deutsche Auslandsschulen mit eher privilegiertem Status. Sie sind aber ganz offensichtlich wichtige und auch erfolgreiche Kulturträger in ihren Gastländern. Deutschland hat etwa 141 solcher Schulen, die Schweiz 18, Österreich 8. Sie bauen nationale pädagogische Netzwerke auf. Sie beteiligen sich an der Lehrerfortbildung, sie helfen nationalen Schulen beim Deutschen Sprachdiplom (DSD) oder beim Internationalen Baccalaureat. Die Arbeit an deutschen Auslandsschulen ist nicht nur Zuckerschlecken. Die oftmals mit deutschstämmigen Großgrundbesitzern besetzen Schulvorstände können dem Schulleiter die Arbeit schwermachen. Die Korruption und das Kriminalitätsniveau in vielen Ländern zwingen dazu, immer auf die eigene Sicherheit bedacht zu bleiben. Die Corona-Pandemie hat die Schulen, die ja fast alle Schulgeld erheben, um das Personal zu bezahlen, teilweise in extreme Notlagen gebracht. Einige sind geschlossen worden.

In mehreren Nationen habe ich bürgerkriegsnahe Zustände erlebt: in San Salvador, in Guatemala und in einer Provinz in Ghana. Am Tag meiner Ankunft an der Deutschen Schule San Salvador (2015), einem Sonntag, gab es einen neuen traurigen Rekord: 51 Morde an einem Tag in der Hauptstadt des Landes. Der Hintergrund: zwei Großbanden streiten sich um Schutzgeld-Zonen, Rauschgifthandel u.a.m. und bekämpfen sich seit Jahrzehnten.

Das Foto (2015) aus San Salvador ist gestellt. Ich habe die zwei Militärpolizisten 2015 in ein Gespräch verwickelt, als sie an einem Touristen-Hotspot auf US-Amerikaner aufpassen mussten.

Mein Fazit: Schulen nach europäischem Vorbild haben einen weltweiten Siegeszug angetreten – und das nicht nur in jenen Erdteilen, in denen europäische Kolonialmächte vom 18. bis zum 20. Jahrhundert das Sagen hatten, sondern auch in den arabischen Ländern und in Mittel- und Südamerika. Christel Adick (1992; 2003; 2017) hat diese Prozesse analysiert, nach den Ursachen gefragt und insgesamt Erfreuliches zu berichten. So hat sich die Zahl der Kinder, die nicht nur laut Gesetz, sondern tatsächlich zur Schule gehen, vervielfacht. Die Zahl der Analphabeten nimmt seit Jahrzehnten ab. Aber es gibt noch sehr viel zu tun.

Die größte aller Herausforderungen besteht darin, den Reichtum der Erde gerecht zu verteilen!

Dann wird es auch leichter, eine Schullandschaft zu entwickeln, von der die Lehrer*innen vieler Nationen bisher nur träumen können.

 

Literatur:

Adick, Christel (1992). Die Universalisierung der modernen Schule. Paderborn: Schöningh.

Adick, Christel (2003): Globale Trends weltweiter Schulentwicklung: Empirische Befunde und theoretische Erklärungen. In: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, 6. Jg. H. 2/2016, S. 173-187.

Adick, Christel (2017): Internationaler Bildungstransfer im Namen der Diplomatie: Die auswärtige Kultur- und Bildungspolitik der Bundesrepublik Deutschland. In: Zeitschrift für Pädagogik. Jg. 63, H. 3, S. 341-361.

Fend, Helmut (2006): Neue Theorie der Schule. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.

Ye, Xuping (2017). Eine vergleichende Untersuchung zum Qualitätsverständnis von Unterricht in chinesischen und deutschen Lehrwerken der Didaktik. Oldenburg: BIS-Verlag.

Stand: Juli 2022

                                           

 


[1]    Der einige Jahre vorher abgewählte Schulvorstand der Deutschen Schule hatte sich kompromittiert, weil zwei oder drei Mitglieder gewusst hatten, dass der SS-Offizier und „Schlächter von Lyon“ Klaus Barbie in der Nähe untergetaucht war.

[2]    Inzwischen ist der Präsident Boliviens selbst ein Quechua – und die Situation der Indigenos hat sich ein wenig verbessert.

[3]    Die europäischen Namen haben ihnen die Missionare verpasst. Heute läuft’s anders.

[4]    Das erste Mal ging es ihnen am Ende des 19. Jahrhunderts gut, als sie im Süden Russlands siedelten und sehr erfolgreiche Landwirte, Handwerker und Kleinindustrielle wurden – bis sie im Zuge der russischen Oktoberrevolution diskreditiert und unter Stalin verfolgt und zu großen Teilen ermordet wurden.

[5]    Benannt nach einem erfolgreichen Reformer der russischen Mennoniten-Gemeinden vom Ende des 19. Jahrhunderts.

[6]    Dabei muss bedacht werden, dass die chinesischen Lehrer bei einem durchschnittlichem Stundenpensum von 15 Stunden außerhalb des Klassenunterrichts sehr viel Individualbetreuung anbieten.

[7]    Auf dem jährlich stattfindenden Shanghaier Schulwettbewerb für behinderte Schülerinnen und Schüler hat er einen zweiten Preis für sein Klavierspiel gewonnen.

[8]    Die Highschool ist eine sogenannte Schlüsselschule, die sehr viel Lehrerfortbildung in ihrem Umfeld organisiert. Deshalb gibt es einen Extraraum für Vorführstunden – mit gepolsterten Stuhlreihen und ohne die Möglichkeit, einen Stuhlkreis herzustellen.

Webmaster (Stand: 20.06.2024)  | 
Zum Seitananfang scrollen Scroll to the top of the page