Reflexive Herstellung einer alternativen Normalität.
Gemeinschaften als Nischen für Einrichtung und Erprobung sozialer Praktiken
Bearbeitung: Dr. Jędrzej Sulmowski
Leitung: Prof. Dr. Thomas Alkemeyer
Gesellschaftliche Transformationen vollziehen sich nicht von allein, sondern müssen ‚gemacht‘ werden. In einer praxistheoretischen Perspektive hängen sie vor allem davon ab, ob sich die alltägliche Praxis der Menschen verändert. Jedoch entzieht sich das alltägliche Tun großenteils der Kontrolle und dem Einfluss von Einzelnen. Es ist vielmehr bedingt durch Infrastrukturen und gesellschaftliche Praktiken, die uns so geläufig sind, dass wir uns in ihnen eingerichtet haben wie in einer uns vertrauten Wohnung. Zu diesen vertrauten Umgebungen und Gewohnheiten gehören beispielsweise historisch gewachsene und ökonomisch instrumentierte Formen und Weisen des Wohnens und Essens, der Lebensmittelversorgung und -entsorgung, der Körperhygiene und des Arbeitens, der Mobilität und des Freizeitverhaltens. Die meisten Praktiken des Alltags sind so eingespielt und selbstverständlich geworden, dass sie kaum einmal befragt und angezweifelt werden. Allerdings gibt es Ausnahmen: Zumindest einige der in den Gesellschaften des globalen Nordens als normal geltenden Lebensweisen wurden in den letzten fünf Jahrzehnten mit Blick auf ihre sozialen und ökologischen Kosten zunehmend problematisiert und infrage gestellt. Kollektive und individuelle Akteure – trans- und supranationale Organisationen, staatliche Institutionen, zivilgesellschaftliche Organisationen, einzelne Aktivist*innen – treten in der Öffentlichkeit seither für eine Veränderung dieser Lebensweisen ein. Dabei setzen die Einen auf Änderungen des individuellen Verhaltens etwa beim Konsum; Andere zielen hingegen auf das Einrichten von Infrastrukturen und Praktiken, die ein ressourcenschonendes, treibhausgas-reduktives, integratives und gerechtes Leben zu ermöglichen versprechen.
Das Teilprojekt leuchtet eben dieses Spannungsfeld aus: Es nimmt dabei ethnographisch gemeinschaftliche Initiativen in den Blick, die sich ihrem Selbstverständnis nach gegen ressourcenverschwenderische, emissionsintensive und/oder marktvermittelte Praktiken wenden. Sein Interesse gilt drei Fragen: Erstens wird untersucht, inwiefern diese Initiativen Nischen eines alternativen Lebens ausbilden, das für deren Bewohner*innen wiederum eine eigene (Nischen-)Normalität entfaltet. Zweitens wird erforscht, welche Bedingungen – der sozio-demographischen Gruppenzusammensetzung, der Arbeitsorganisation, der Entscheidungsfindung, der Regelung des Ein- und Austritts, der institutionellen Anbindung, der politischen oder weltanschaulichen Orientierung usw. – gegeben sein müssen, damit eine alternative Normalität gelebt werden kann. Und drittens fragen wir danach, welche Bedeutung der Rückgriff auf Semantiken und Lebensformen der Gemeinschaft dafür hat, alternative Praktiken überhaupt einrichten, stabilisieren und verbreiten zu können – und inwiefern diese Praktiken wiederum das Selbstverständnis bedingen, eine Gemeinschaft zu sein.
Mit der Beantwortung dieser Fragen trägt das Teilprojekt dazu bei, Chancen, Grenzen und Begleiterscheinungen einer Transformation durch Initiativen zu beleuchten, die sich selbst als Gemeinschaften verstehen. Dies ist insbesondere vor dem Hintergrund der Zeitdiagnose relevant, informelle ‚Politiken der Gemeinschaft‘ würden zunehmend die Erosion staatlicher Sozial- und Umweltpolitik kompensieren. Denn im Licht dieser Diagnose erscheinen kommunitaristische Bottom-Up-Initiativen nicht nur als Entwürfe einer alternativen Normalität, sondern stets auch als Mitspieler*innen einer staatlichen Top-Down-Agenda der Transformation.