Konzept

Die Fokusgruppe geht davon aus, dass das Diagnostizieren ein zentraler, für sie konstitutiver Vollzugsmodus der modernen Gesellschaft ist.  Denn das Diagnostizieren impliziert eine Haltung, in der eine als gegeben akzeptierte gegenwärtige Wirklichkeit unter den Aspekten wahrgenommen, erfahren, beobachtet und behandelt wird, welche potentielle – positive oder negative – Zukunft in ihr bereits angelegt ist, und was zu tun ist, um diese Potentialität entweder zu entfalten oder aber an ihrer Entfaltung zu hindern und den Gang der Geschichte in bessere Bahnen umzulenken. Anders gesagt: In einer diagnostischen Haltung wird eine gegenwärtige Wirklichkeit unter dem Gesichtspunkt ihres Zukunftspotentials objektiviert und zu einer berechen- und gestaltbaren Ressource gemacht.

Diese Haltung realisiert ein insofern für die Moderne grundlegendes Welt- und Selbstverhältnis, als sich diese über die dynamische Strukturlogik einer zukunftsbezogenen Beherrschung und Gestaltung (Steigerung, Verwertung, Optimierung etc.) der Lebensgrundlagen stabilisiert. Der sozialwissenschaftliche Bezug moderner Selbstproblematisierung auf medizinische Diagnosebegriffe und -semantiken ließe sich dann bspw. als eine ‚Aneignung‘ dechiffrieren, in der die Etabliertheit und Überzeugungskraft dieser Begriffe und Semantiken strategisch (im Sinne Bourdieus) eingesetzt wird, um dem Projekt der Moderne bis ins alltägliche Denken, Fühlen und Handeln hinein zum Durchbruch zu verhelfen.

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Diagnosen zeichnen sich dadurch aus, selektiv bestimmte Aspekte oder Elemente einer gegenwärtigen Wirklichkeit so relevant zu setzen und zu einer sinnlich-sinnhaften Gestalt, dem image einer Krise, einer Verheißung, einer Utopie oder einer Dystopie,  zu verdichten, dass damit die Forderung z. B. nach politischen Maßnahmen und Interventionen oder, weitergehend, nach einem bestimmten Verhalten, einer alltäglichen Lebensführung der Gesellschaftsmitglieder begründet wird, um die imaginierte Zukunft zu verhindern oder herbeizuführen. Wir bezeichnen diese gegenwartsdiagnostisch konstruierten Gestalten als existentielle Bezugsprobleme – existentiell insofern, als von ihrer ‚Bearbeitung‘ die Zukunft der menschlichen Gesellschaft, von Natur und Umwelt etc. abzuhängen scheint. Interessant dürfte in diesem Zusammenhang sein, dass sich auch explizit modernekritische Zustandsbeschreibungen der gegenwärtigen Welt, etwa die Diagnosen einer zu Naturzerstörung, Entfremdung und Krankheiten führenden „Beschleunigung“, im modernen Modus der Diagnose artikulieren und vollziehen, der sowohl eine Unausweichlichkeit aus gegenwärtigen ‚Symptomen‘ abgeleiteter oder hochgerechneter Entwicklungen als auch die Idee einer Gestalt- bzw. Machbarkeit von Zukunft impliziert. Vor dem Hintergrund dieser Annahmen möchte die Fokusgruppe a) die Leitthese vom Diagnostizieren als einer Vollzugsform der Moderne und  die ihr zugrundeliegenden Konzepte (Diagnose, Imagination, Fiktion etc.) durch thematisch fokussierte Arbeitstreffen kritisch befragen, schärfen und ggf. differenzieren, b) die regionale Kooperation zwischen Wissenschaftlerinnen aus Oldenburg und Bremen stärken und durch den Austausch mit herausragenden internationalen Referentinnen ausbauen, sowie c) die Sichtbarkeit des Forschungsthemas durch die Publikation u. a. von Working Papers (ggf. als Grundlage für die Beantragung eines interdisziplinären Verbundprojekts) erhöhen. Auf diese Weise zielt die Fokusgruppe darauf ab, den Diagnosebegriff kultur- und gesellschaftswissenschaft­lich zu profilieren und seine Bedeutung für die Selbstkonstitution der modernen Gesellschaft auszuleuchten.

(Stand: 19.01.2024)  | 
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