Imperiale Herrschaft im Weichselland: Das Königreich Polen im Russischen Imperium (1864-1915)
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Imperiale Herrschaft im Weichselland: Das Königreich Polen im Russischen Imperium (1864-1915)
Das Forschungsprojekt untersucht die russische Herrschaft im Königreich Polen im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert und zielt darauf, die multiethnische und -konfessionelle Komplexität des Russischen Reichs am Fallbeispiel der imperialen Elite und ihrer Repräsentationen in einer der bedeutendsten Reichsperipherien herauszuarbeiten.
Als bevölkerungsstarkes und wirtschaftlich weit entwickeltes westliches Randgebiet war das Königreich Polen und vor allem Warschau als Sitz des Generalgouverneurs und des Oberpolizeimeisters in vielem ein Laboratorium, in dem Praktiken der Nationalitätenpolitik und der imperialen Herrschaftssicherung erprobt, verworfen, zum Teil aber auch erst erfunden wurden.
Das Forschungsprojekt widmet sich der Frage, wie sich die kulturelle Identität derjenigen, die das Russische Reich vertraten, in den oft konfliktreichen Begegnungen mit einem einheimischen Gegenüber bildete. Untersucht werden soll, wie diese Kommunikation jene Vorstellungen formte, die die imperiale administrative und kulturelle Elite vom Reichszusammenhang hatte, und inwieweit sie die Praktiken beeinflusste, mit denen die Petersburger Repräsentanten die russische Herrschaft im Königreich Polen zu implementieren versuchten. Die imperiale Elite stellte dabei keinesfalls eine homogene Gemeinde dar, sondern war selbst von Multiethnizität und von inneren Friktionen gekennzeichnet. Die unterschiedlichen Konzeptionen vom Imperium, die bei Verwaltungsbeamten, Militärs, Lehrern, Juristen und Priestern bestanden, werden im Forschungsprojekt ebenso zum Thema gemacht wie die Reaktionen der polnischen und jüdischen Bevölkerung. Denn das Handeln und Auftreten der Repräsentanten Petersburger Herrschaft prägten auch auf der polnischen und der jüdischen Seite das Bild, das diese sich vom Russischen Reich und von der „russischen Fremdherrschaft“ machten, und stellten den Bezugsrahmen für Formen der Konfrontation, aber auch Kooperation. Das Forschungsvorhaben untersucht, wie in den alltäglichen Auseinandersetzungen, zu denen die beteiligten Akteure in der Konfliktgemeinschaft im Königreich und in Warschau gezwungen waren, Bilder vom Eigenen und vom Anderen und entsprechende Handlungsoptionen in wechselseitiger Kommunikation entstanden.
Am Beispiel der Stadt Warschau und anhand exemplarischer Fallstudien zu Themenfeldern und Orten der Kommunikationsverdichtung gilt es, in einer Alltagsgeschichte des Imperiums grundlegende Konfliktlinien, aber auch Möglichkeiten der Zusammenarbeit und der Grenzüberschreitung in der Zeit zwischen dem polnischen Januaraufstand von 1863 und der Besetzung Warschaus durch die deutschen Truppen 1915 zu analysieren. Maßnahmen administrativer und bildungspolitischer Russifizierung, gewalttätige Zusammenstöße während der Revolution von 1905 und Debatten im Kontext der vier Dumawahlen 1906-1912 stellen solche Themenfelder ebenso dar wie konkurrierende imperiale Repräsentationen beim Denkmals-, Kirchen- und Kasernenbau, die Diskussionen um den infrastrukturellen Ausbau des Königreichs und die Maßnahmen zur Modernisierung der munizipalen Verwaltung und des städtischen Raums. Orte einer Alltagsgeschichte des Imperiums waren unter anderem die Straßen, die Kirchen, die Dienststuben oder die zahlreichen Vereine, an denen sich Kommunikation teils als Konflikt teils als Kooperation ereignete.
Zudem wird in einer transfergeschichtlichen Perspektive nach den Rückwirkungen dieser Begegnungs- und Konfliktsituation auf das Reichszentrum gefragt und untersucht, inwieweit die imperialen Repräsentanten in Warschau Einfluss auf die politischen Entscheidungen in St. Petersburg nehmen konnten. Diese selbsterklärten „Weichselländer“ und Autoritäten in den Debatten zur sogenannten „polnischen Frage“ versuchten über zahlreiche Kanäle, die Ausgestaltung zarischer Nationalitätenpolitik mitzuprägen. Auch waren sie als imperiale Beamte sowie Dozenten mit „Grenzerfahrung“ später oft in anderen Randgebieten des Reichs im Einsatz. Mit Hilfe exemplarischer Biografien solcher „Experten des Fremden“ können deren Warschauer Erfahrungen, die daraus resultierenden politischen Vorstellungen und ihre Implikationen für den fragilen Zusammenhalt des russischen Vielvölkerreichs erforscht werden.
Veröffentlichungen im Rahmen dieses Projekts
Monographien und herausgegebene Schriften
Imperial Russian Rule in the Kingdom of Poland, 1864-1915, Pittsburgh: University of Pittsburgh Press, 2021 (upittpress.org/books/9780822947011/).
Pol'skie zemli pod vlast'ju Peterburga. Ot Venskogo kongressa do Pervoj mirovoj vojny [Polen unter der Herrschaft der Zaren. Vom Wiener Kongress bis zum Ersten Weltkrieg], Moskau: Novoe literaturnoe obozrenie, in der Reihe Historia Rossica. Okrainy Rossijskoj imperii, 2020. (www.nlobooks.ru/magazines/neprikosnovennyy_zapas/134_nz_6_2020/article/23252/?sphrase_id=448685).
Rządy imperialne w Kraju Nadwiślańskim. Królestwo Polskie i cesarstwo rosyjskie (1864–1915), Warschau: Wydawnictwa Uniwersytetu Warszawskiego, 2016 (www.wuw.pl/product-pol-5999-Rzady-imperialne-w-Kraju-Nadwislanskim-Krolestwo-Polskie-i-cesarstwo-rosyjskie-1864-1915.html). Nominiert vom polnischen Historikerverband (Polskie Towarzystwo Historyczne) für den Preis „Pro Historia Polonorum“ als bestes ausländisches Buch zur polnischen Geschichte der Jahre 2012-17.
Imperiale Herrschaft im Weichselland: Das Königreich Polen im Russischen Imperium (1864-1915), München: Oldenbourg, in der Reihe 'Ordnungssysteme - Studien zur Ideengeschichte der Neuzeit', 2014 (http://www.degruyter.com/view/product/247946). Nominiert vom polnischen Historikerverband (Polskie Towarzystwo Historyczne) für den Preis „Pro Historia Polonorum“ als bestes ausländisches Buch zur polnischen Geschichte der Jahre 2012-17.
Aufsätze
„What Is the “Russian Cause” and Whom Does It Serve? Russian Nationalists and Imperial Bureaucracy in the Kingdom of Poland“, in: The Tsar, the Empire, and the Nation. Dilemmas of Nationalization in Russia’s Western Borderlands, 1905–1915, herausgegeben von Yoko Aoshima und Darius Staliūnas, Budapest: Central European University Press, 2021, S. 67-109.
„Beamte in Bewegung. Zu Strukturen und Akteuren imperialer Herrschaft im ausgehenden Zarenreich“, in: Migrationen im späten Habsburgerreich, herausgegeben von Carl Bethke, Tübingen: TVV-Verlag, 2020, S. 101-131.
„Towards a new quality of statehood: Bureaucratization and state-building in empires and nation states before 1914“, zusammen mit Hannes Grandits und Pieter Judson, in: The Routledge History Handbook of Central and Eastern Europe in the Twentieth Century, Vol. 2: Statehood, herausgegeben von Sabina Ferhadbegovic, Joachim von Puttkamer und Włodzimierz Borodziej, London: Routledge, 2020, S. 41-114.(https://www.routledge.com/The-Routledge-History-Handbook-of-Central-and-Eastern-Europe-in-the-Twentieth/Borodziej-Ferhadbegovic-Puttkamer/p/book/9781138301665)
„Činovniki v raz’ezdach. K voprosu o strukturach i dejstvijuščich licach imperskoj bjurokratii na zakate Rossijskoj imperii [Beamte und Mobilität. Zu Strukturen und Personen imperialer Bürokratie im späten Russischen Reich]“, in: Istoričeskij kur’er, Nr.1 (2018), S. 84-102.
„Between State-Building and Local Cooperation: Russian Rule in the Kingdom of Poland (1864–1915)“, in: Kritika. Explorations in Russian and Eurasian History, 19:2 (2018), S. 385-416.
„Kooperation im Konflikt? Die zarische Verwaltung im Königreich Polen zwischen Staatsausbau und gesellschaftlicher Aktivierung (1863-1914)“, in: Vom Vorrücken des Staates in die Fläche. Ein europäisches Phänomen des langen 19. Jahrhunderts, herausgegeben von Jörg Ganzenmüller und Tatjana Tönsmeyer, Köln: Böhlau, 2016, S. 35-64.
„Namiestnicy Królestwa Polskiego i generał-gubernatorzy warszawscy po powstaniu styczniowym (do 1914 roku)“ [Die kaiserlichen Statthalter und die Warschauer Generalgouverneure nach dem Januaraufstand von 1863 (bis 1914)], in: Wbrew królewskim aliansom. Rosja, Europa i polska walka o niepodległość w XIX wieku, herausgegeben von Łukasz Adamski und Sławomir Dębski, Warschau 2016, S. 355-391.
„Die Revolution von 1905 und der Wandel der Nationsbilder im Russischen Reich“, in: Revolution, Krieg und die Geburt von Staat und Nation. Staatsbildung in Europa und den Amerikas 1770-1930, herausgegeben von Ewald Frie und Ute Planert, Tübingen: Mohr Siebeck, 2016, S. 193-210.
„Untergangsszenarien und Zukunftsvisionen: Deutschland und Russland im Fin de Siècle. Einleitung", mit Peter Haslinger, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 63:11 (2015), Themenheft, herausgegeben von Peter Haslinger und Malte Rolf, S. 925- 929.
„"Approved by the Censor": Tsarist Censorship and the Public Sphere in Imperial Russia and the Kingdom of Poland (1860-1914)", in: Underground Publishing and the Public Sphere. Transnational Perspectives, herausgegeben von Jan C. Behrends und Thomas Lindenberger, Wien: LIT (Wiener Studien für Zeitgeschichte), 2014, S. 31-74.
„Imperiale Biographien. Lebenswege imperialer Akteure in Groß- und Kolonialreichen (1850-1918) - zur Einleitung", in: Imperiale Biographien, herausgegeben von Malte Rolf, Themenheft Geschichte und Gesellschaft, 40:1 (2014), S. 5-21.
„A Continuum of Crisis? The Kingdom of Poland in the Shadow of Revolution (1905-1915)“, in: The Russian Revolution of 1905 in Transcultural Perspective. Identities, Peripheries, and the Flow of Ideas, herausgegeben von Felicitas Fischer v. Weikersthal, Frank Grüner, Susanne Hohler, Franziska Schedewie und Raphael Utz, Bloomington: Slavica Publishers, 2013, S. 159-174.
„Metropolen im Ausnahmezustand? Gewaltakteure und Gewalträume in den Städten des späten Zarenreichs“, in: Lenger, Friedrich (Hg.), Kollektive Gewalt in der Stadt. Europa 1890-1939, München 2013, S. 25-49.
„Bureaucracy and Mobility in Late Imperial Russia. Reflections on Elite Careering and Imperial Biographies in a Multiethnic Empire“, in: Moskauer Vorträge zum 18. und 19. Jahrhundert, Nr. 16 (2013), herausgegeben von Ingrid Schierle (www.perspectivia.net/content/publikationen/vortraege-moskau/rolf_bureaucracy).
„Russifizierung, Depolonisierung oder innerer Staatsaufbau? Konzepte imperialer Herrschaft im Königreich Polen (1863-1915)“, in: Kampf um Wort und Schrift: Russifizierung in Osteuropa im 19.-20. Jahrhundert, herausgegeben von Zaur Gasimov, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2012, S. 51-88.
„Imperiale Herrschaft im städtischen Raum: Zarische Beamte und urbane Öffentlichkeit in Warschau (1870-1914)“, in: Russlands imperiale Macht.Integrationsstrategien und ihre Reichweite in transnationaler Perspektive, herausgegeben von Bianka Pietrow-Ennker, Köln: Böhlau Verlag, 2012, S. 123-153.
„Revolution, Repression und Reform: 1905 im Königreich Polen“, in: Schlüsseljahre. Zentrale Konstellationen der mittel- und osteuropäischen Geschichte. Festschrift für Helmut Altrichter, herausgegeben von Lilia Antipow und Matthias Stadelmann, Stuttgart: Steiner, 2011, S. 219-232.
„Die Durchlässigkeit der Grenze: Einleitende Überlegungen zu Grenzgängern und ihren Lebenswelten in der späten Habsburger- und Romanow-Monarchie“, in: Grenzgänger in Vielvölkerreichen: Grenzziehungen und -überschreitungen in Russland und Österreich-Ungarn (1840-1918), Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 59:5 (2011), Themenheft, herausgegeben von Malte Rolf und Jörn Happel, S. 397-404.
„The Imperial Turn in Russian Studies: Ten Years”, Forumsdiskussion, zusammen mit Jane Burbank, Sheila Fitzpatrick, Mark von Hagen, Paul Werth et al., in: Ab Imperio. International Quarterly on the Studies of New Imperial History and Nationalism in the Post-Soviet Space, 1 (2010), S. 11-33.
„Importing the “Spatial Turn” to Russia. Recent Studies on the Spatialization of Russian History“, in: Kritika. Explorations in Russian and Eurasian History, 11:2 (2010), S. 359-380.
„Varšava v epochu peremen: Carskoe gospodstvo i gorodskaja modernizacija (1880-1915) [Warschau im Wandel: Zarische Herrschaft und städtische Modernisierung (1880-1915)]“, in: Rossija 19-20 vv. skvoz’ prizmu kul’turnoj istorii. Sbornik statej [Russland des 19. und 20. Jahrhunderts aus der Sicht der Kulturgeschichte. Festschrift für Igor Narskij], herausgegeben von Oksana Nagornaja und Ol’ga Nikonova, Čeljabinsk 2009, S. 144-183.
„Imperator v Varšave: Vizualizacii imperii na ischode XIX stoletija“ [Der Kaiser in Warschau: Visualisierungen des Imperiums im ausgehenden 19. Jahrhundert], in: Oče-vidnaja istorija. Problemy vizual’noj istorii Rossii XX stoletija [Sichtbare Geschichte. Probleme der visuellen Geschichte Russlands im 20. Jahrhundert], herausgegeben von Oksana Nagornaja, Igor Narskij, Ol’ga Nikonova et al., Čeljabinsk 2008, S. 319-338.
„Russische Herrschaft in Warschau: Die Aleksandr-Nevskij-Kathedrale im Konfliktraum politischer Kommunikation“, in: Jenseits der Zarenmacht. Dimensionen des Politischen im Russischen Reich 1800-1917, herausgegeben von Walter Sperling, Frankfurt/Main: Campus, 2008, S. 163-189.
„Der Zar an der Weichsel – Repräsentationen von Herrschaft und Imperium im fin de siècle“, in: Imperiale Herrschaft in der Provinz. Repräsentationen politischer Macht im späten Zarenreich, herausgegeben von Jörg Baberowski, David Feest und Christoph Gumb, Frankfurt/Main: Campus, 2008, S. 145-171.
„Russkie v Varšave (1815-1915)“ [Die Russen in Warschau (1815-1915)], in: Veröffentlichungen des Virtuellen Seminars der Universität Basel und der Staatlichen Universität Čeljabinsk, Mai 2006 (isem.susu.ac.ru/welcen/).