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Öffentliche Tagung an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, 9.–11. Mai 2019
„MICH ZU VERLIEREN / BIN ICH DA!“
ÜBER SELBSTVERLUST UND WELTERFAHRUNG IN DER MODERNE
Prof. Dr. Thomas Alkemeyer: Selbst-Bildung durch Selbstverlust? Über Resonanz, (Ent-)Subjektivierung und Macht in sozialen Relationen
In dem Vortrag soll ein in der Soziologie vorherrschendes aktivisches durch ein passivisches Verständnis von Praxis und Selbst-Bildung erweitert werden, das die Gesichtspunkte des Berührt-Werdens, Engagiert-Werdens und Mit-Sich-Geschehen-Lassens in den körperlich vermittelten sozialen Beziehungen verschiedener kultureller Praktiken (Spiele, Rituale, politische Versammlungen usw.) ins Zentrum rückt. Damit wird gleichzeitig die – auch politisch wichtige – Frage nach dem Verhältnis zwischen Momenten des entsubjektivierenden Aufgehens in einem (kollektiven) Geschehen sowie der Subjektivierung in diesem Geschehen, der Hingabe an das Geschehen und der Selbstbildung in der Hingabe, gestellt.
Thomas Alkemeyer, Dr. phil., ist Professor für Soziologie und Sportsoziologie an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Forschungsschwerpunkte: | Jüngste Veröffentlichungen: |
Dr. habil. Peter Braun: „Mich zu verlieren / Bin ich da!“ Über Selbstverlust und Welterfahrung im Werk von Ilse Schneider-Lengyel
Buchpräsentation mit Vortrag und Gespräch (Literaturhaus Wilhelm 13)
Moderation: Jan Gerstner
Ilse Schneider-Lengyel (1903–1972) nahm viele Strömungen der 1920er in ihr Werk auf. Von der Ethnologie jener Zeit übernahm sie die Vorstellung des Künstlers bei den „Naturvölkern“, der von sich selbst absieht, um die spirituellen Erlebnisse einer kollektiven Gemeinschaft zu gestalten. Mit dem Surrealismus, der selbst ein großes Interesse an der Ethnologie entwickelte, teilte sie das Ziel, die Wörter und Bilder aus dem Gefängnis des individuellen Bewusstseins zu befreien, um so in tiefere und frühere Schichten zurückzufinden. Der Vortrag zeichnet nach, wie die Fotografin, Ethnologin und Dichterin Ilse Schneider-Lengyel diese Einflüsse in ihren sehr verschiedenen Arbeiten umgesetzt und weiterentwickelt hat.
Peter Braun, Dr. habil., lehrt Literaturwissenschaft und Schreiben an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Forschungsschwerpunkte: | Jüngste Veröffentlichungen: |
Jan Gerstner, Dr. phil., lehrt neuere deutsche Literaturgeschichte/Literaturtheorie an der Universität Bremen. Forschungsschwerpunkte: | Jüngste Veröffentlichungen: |
Prof. Dr. Kathrin Busch: Selbstverlust als Wissensform. Ästhetiken radikalisierter Sensibilität
Nimmt man sich ein Buch wie Chris Kraus’ I love Dick vor, das von einer fast schmerzhaften Peinlichkeit zeugt und eine beschämende Unsouveränität und Selbstherabsetzung vorführt, dann findet man darin eine Ästhetik des „schwachen“ Selbstverlusts. Nicht die exzessive Überschreitung, wie sie von Autoren wie Nietzsche oder Bataille imaginiert wird, steht hier im Vordergrund, sondern eine partielle Selbstentgleitung. Sie ist durch eine ungewollte Exposition und nicht-gewählte Sensibilität bestimmt. Der Vortrag fragt vor dem Hintergrund eines Wissens der Künste, was diese – der Sinneswahrnehmung vorgelagerte – Sensibilität für das ästhetische Erkennen bedeuten kann.
Kathrin Busch, Dr. phil., ist Professorin für Philosophie/Designtheorie an der Universität der Künste, Berlin. Forschungsschwerpunkte: | Jüngste Veröffentlichungen: |
Dr. Rosa Eidelpes: Über Ethnologie und Selbst-Entfremdung
Ende der 1970er Jahre entstand am Rande der Universität eine „ethnologische Subkultur“ (Fritz Kramer), die über eine „alternative Ethnologie“ diskutierte. In der Kritik stand nicht nur die wissenschaftliche Rationalität, sondern auch die westliche Subjektivität. Mehr als alles andere war „Ethnologie“ die Überschrift für ein Unternehmen der Selbstbefreiung: Die kulturelle Fremdbegegnung im Rahmen der ethnologischen Feldforschungsreise wurde als Medium einer – im Gegensatz zur kapitalistischen Entfremdung bewusst herbeigeführten – Entfremdungserfahrung gedacht. Lässt sich das Projekt der „alternativen Ethnologie“ vor diesem Hintergrund als kulturelle Dimension der Beschäftigung mit „Beziehungsformen“ deuten, als Ausdruck des zeitgenössischen „Erfahrungshungers“ (Michael Rutschky) nach einem epistemisch nicht-fixierbaren „ganz Anderen“?
Rosa Eidelpes, Dr. phil., arbeitet als Literatur- und Kulturwissenschaftlerin am Exzellenzcluster „Kulturelle Grundlagen von Integration“ der Universität Konstanz und in einer Forschungskooperation mit dem Haus der Kulturen der Welt, Berlin. Forschungsschwerpunkte: | Jüngste Veröffentlichung: |
Prof. Dr. Joachim Fischer: Exzentrische Positionalität: vita passiva, vita activa, vita contemplativa
In der sozial- und kulturwissenschaftlichen Theorie dominieren die vita activa (Arbeiten, Herstellen, Handeln), der Doing-Ansatz oder die soziale Konstruktion als Basisschemata für die Aufklärung der soziokulturellen Lebenswelt. Dieser tätigkeitstheoretischen Voreinstellung entgeht möglicherweise die für die Konstitution des Sozialen zentrale vita passiva, in der die Intersubjektivitäten unübersehbar und unüberhörbar auch gewichtigen Widerfahrnismomenten ausgesetzt sind, denen sie sich so aussetzen, dass über sie die Sozialität gestiftet wird.
Der Beitrag versucht erstens eine phänomenologische Sammlung dieser passivisch getönten Momente der soziokulturellen Lebenswelt, die am Grundzug der Widerfahrnis partizipieren und ihm je in Situationen nachgeben, ihn kultivieren. Dazu gehören beispielsweise Atmung, Schlafen, Schmerzen, das Gestimmtsein; nicht zu vergessen Gebären und Geborenwerden oder „Lachen und Weinen“ (Plessner); außerdem erotisch-ekstatische Vorgänge. Die vita passiva bildet offensichtlich einen konstitutiven Bestandteil der sozialen Welt. Zweitens wird eine anthropologische Sozialtheorie vorgeschlagen, die die Konstitutionsfunktion dieser passivischen Momente für die Lebenswelt von einer Theorie der „exzentrischen Positionalität“ aufklärt.
Joachim Fischer, Dr. phil., ist Honorarprofessor für Soziologie an der Technischen Universität Dresden. Forschungsschwerpunkte: | Jüngste Veröffentlichungen: |
Prof. Dr. Volker Gottowik: Sexuelle Transgression und Selbstverlust: Ethnologische Perspektiven
Thematisiert wird anhand von zwei Beispielen aus Wissenschaft und Religion der methodisch herbeigeführte Selbstverlust, der eine andere Form des Zugangs zu dies- und jenseitigen Welten eröffnen soll. Dieser Selbstverlust geht mit einer mimetischen Angleichung an das Fremde resp. Göttliche einher, die Regelüberschreitungen bis hin zur sexuellen Transgression erfordert. Die Überschreitung von Grenzen und die Verletzung von Regeln zielen auf Erfahrungen, die in beiden Fällen als Voraussetzung für Erkenntnis resp. Erleuchtung gelten.
Volker Gottowik, Dr. phil., ist außerplanmäßiger Professor am Institut für Ethnologie der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Forschungsschwerpunkte: | Jüngste Veröffentlichung: |
PD Dr. Mario Grizelj: „Man spricht mich.“ Die Überdeterminiertheit des Selbstverlusts bei den besessenen Nonnen von Loudun
Im Zentrum des Vortrags stehen die Ereignisse um die besessenen Ursulinen von Loudun in den 1630er Jahren. Schwester Jeanne des Anges äußert gegenüber den Exorzisten „Ich bin eine Andere“ und „Man spricht mich“. Indem sie sich nicht nur, wie üblich, von einem, sondern von sieben Teufeln besessen zeigt, verkompliziert sie das Austreibungsprozedere radikal. Die verschiedenen Teufelsnamen markieren hierbei keine Vielzahl von Sprechsubjekten, keine Multiplikation des Selbst, „sondern vielmehr das Verschwinden des Sprechers“ (Certeau), den Verlust des Selbst. Die sieben Teufelsnamen überdeterminieren solchermaßen den Selbstverlust der Oberin, sodass die erwartete diskursstabilisierende Wirkung des Eigenamens hintergangen wird und der Exorzismus scheitert.
Mario Grizelj, PD Dr. phil., ist akademischer Oberrat am Institut für deutsche Philologie der Ludwig-Maximilians-Universität München. Forschungsschwerpunkte: | Jüngste Veröffentlichungen: |
Héla Hecker, M.A.: Amor mundi. Hannah Arendts Antwort auf Weltverlust
Hannah Arendt wurde mit ihrem Werk Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft weltberühmt. In diesem stellte sie detailliert dar, wie totalitäre Staatsstrukturen Welt und Person zerstörten. Auch in ihrem philosophischen Hauptwerk, Vita activa oder Vom tätigen Leben, sind Weltverlust und das Abhandenkommen von Individualität aufgrund gesellschaftlicher Bürokratisierung ein zentrales Thema. Weniger bekannt ist aber, dass sich schon ihre Dissertation, Der Liebesbegriff bei Augustin, dieser grundlegenden Problematik widmete und der christlichen Liebe eine welt- und beziehungszerstörende Kraft zuschrieb. Im Vortrag wird Hannah Arendts Lösung, der amor mundi, vorgestellt, der ausgeübt in gewissen menschlichen Tätigkeiten, Welt und Person zurückzugewinnen ermöglicht.
Héla Hecker, M.A., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am DFG-Graduiertenkolleg „Selbst-Bildungen“ der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. | Forschungsschwerpunkte: |
Dr. des. Elisabeth Heyne: Muschel sein. Experimentelle Dissoziation als Erkenntnismodus bei Roger Caillois
Vor dem Hintergrund der experimentellen Erprobung dissoziativer (psychopathologischer) Zustände, die der Soziologe und Literat Roger Caillois in den 1930er Jahren als paradoxe aktive Passivierung an sich selbst herbeizuführen und zugleich zu erforschen versuchte, widmet sich der Vortrag seiner späten Wiederaufnahme des Themas: In einem Text von 1965 befreit sich die Depersonalisierung von der optischen Wahrnehmung, aus der Verbindung von Körper und Bild (Lacan, Vignon) und verselbstständigt sich zur fiktionalen Verwandlung in eine Molluske. An Caillois’ später Revision werden Fragen zum politisch ambivalenten Erbe und der regressiven Dimension wissenschaftlicher Auflösungsphantasien ebenso wie zur parasitären Fiktion als Erkenntnismodus undenkbarer subjektiver Zustände aufgeworfen.
Elisabeth Heyne, Dr. des., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Professur für Medienwissenschaft und Neuere deutsche Literatur der Technischen Universität Dresden. Forschungsschwerpunkte: | Jüngste Veröffentlichungen: |
Dr. Sandra Janßen: „Selbstlosigkeit“ zwischen Mystik, Psychologie und Totalitarismus. Zu einer Denkfigur der 1930er und 1940er Jahre
Die Geschichte der modernen Psychologie kann als die Geschichte der Weisen geschrieben werden, in denen das Subjekt mit sich selbst nicht identisch ist, also Selbstverluste erleidet. Der Vortrag legt den Fokus auf die 1930er und 1940er Jahre und identifiziert als eine zentrale psychologische Denkfigur dieser Phase die Annahme, dass das Subjekt eine Funktion des sozialen oder existenziellen „Feldes“ darstellt, in dem es situiert ist – also eine variable Größe, deren Zuwachs oder Verschwinden zugleich bewusst erlebt werden kann. Anhand verschiedener literarischer Beispiele wird die These verfolgt, dass dieser Denkfigur zu dieser Zeit eine epistemische, bis ins Politische reichende Bedeutung zukommt.
Sandra Janßen, Dr. phil., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Germanistik des Karlsruher Instituts für Technologie (KIT). Forschungsschwerpunkte: | Jüngste Veröffentlichungen: |
Dr. Dr. Ulrich van Loyen: The End/of all/ Ending. De Martino und der Schamanismus
Ernesto de Martino (1908–1965) hat in mehreren Anläufen ausbuchstabiert, wie individuelle „presenza“ als Selbstgegenwart und Handlungsmacht auf einer Passivität gründet, die selbst wiederum hervorgebracht werden muss: durch Riten und Techniken, die schließlich das Repositorium bilden, aus denen sich jeweilige Gesellschaften und ihre Mitglieder formieren. Aber welche Form von Aktivität steht am Ursprung dieser Passivität, und woraus besteht die Gesellschaft, deren Anfang Riten der Entindividualisierung sind? Der Vortrag wird auf diese Fragen eine Antwort versuchen mit dem frühen und dem letzten De Martino, mit Nietzsches Tragödienschrift und Rohdes Psyche – und mit den Schamanen, die alle drei verbinden.
Ulrich van Loyen, Dr. Dr., lehrt am Medienwissenschaftlichen Seminar der Universität Siegen. Forschungsschwerpunkte: | Jüngste Veröffentlichungen: |
Martin Mettin, M.A.: Zur Dialektik von Rezeptivität und Spontaneität bei Ulrich Sonnemann
Die Frage nach dem Verhältnis von Selbstverlust und Welterfahrung in der Moderne wird in Sonnemanns Arbeiten vielfach thematisch, so etwa in seinen späten Untersuchungen zu den epistemologischen Potentialen des Gehörs. Der Vortrag wird sich insbesondere auf Sonnemanns dialektische Konzeption von Erfahrungsoffenheit und Spontaneität (Passivität und Aktivität) beziehen und dabei auch Grundzüge seines negativ-anthropologischen Ansatzes skizzieren. Mit Blick auf die Diskussion über den „Tod der Moderne“, die Sonnemann u. a. mit Dietmar Kamper führte, zeichnen sich Querverbindungen zum Projekt der historischen Anthropologie ab.
Martin Mettin, M.A., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am DFG-Graduiertenkolleg „Selbst-Bildungen“ sowie der Adorno-Forschungsstelle der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Forschungsschwerpunkte: | Jüngste Veröffentlichung: |
Prof. Dr. Thomas Reinhardt: Wie man zur Katze wird. Morphologie und (Anti-)Humanismus bei Claude Lévi-Strauss
Antihumanistische Tendenzen finden sich bei Claude Lévi-Strauss seit spätestens Mitte der 1950er Jahre. In seinem Bemühen, die Arbeit des Geistes selbst in den Blick zu nehmen und den homologen Beziehungen zwischen gesellschaftlichen, narrativen und natürlichen Phänomenen nachzuspüren, beraubt Lévi-Strauss den Menschen zusehends seiner Sonderstellung gegenüber der ihn umgebenden Natur und lässt ihn zugleich als Subjekt und Objekt aller Erkenntnisprozesse auftreten. Zugleich erweitert er damit das Forschungsfeld der Anthropologie weit über den Bereich des „Menschlichen“ hinaus und legt die Grundlage für die heute so genannte „ontologische Wende“.
Thomas Reinhardt, Dr., ist Professor für Ethnologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Forschungsschwerpunkte: | Jüngste Veröffentlichung: |
Prof. Dr. Erhard Schüttpelz: Trance und Selbstverlust. Einige theoretische Überlegungen
Der Vortrag geht von zwei klassischen Texten zur Trancetheorie aus: I.M. Lewis’ Einspruch gegen typologische Zuspitzungen in seinem Aufsatz zur Initiation des Schamanen, und Jean Rouchs Reflexion zur Personenkonfiguration bei den Songhay. Was geschieht, wenn man beide Konzeptionen zusammendenkt, und was wird aus der Figur des Selbstverlusts in Krankheit, Besessenheit und Verhexung? Es geht nicht nur um einen Perspektivismus der Kategorisierung, denn beide Texte diskutieren die Notwendigkeit, für sich selbst als Beobachter alle Positionen der Trancetheorie anzuerkennen, und die wissenschaftliche oder künstlerische Gestaltung im Raum der Unterdeterminiertheit zu suchen.
Erhard Schüttpelz, Dr. phil., ist Professor für Medientheorie an der Universität Siegen. Forschungsschwerpunkte: | Jüngste Veröffentlichungen: |
Dr. Martin Treml: Passio als Leid und Leidenschaft. Aby Warburgs Bilderatlas
Als Aby Warburg 1929 starb, hinterließ er den sogenannten Bilderatlas, 63 Tafeln mit mehr als tausend Fotos. Er bildet die Sammlung der Pathosformeln, Gebärden tiefster Trauer und höchsten Triumphes, eine diachrone Ausdrucksgeschichte seit der Antike. Der Bilderatlas war Projekt und Methode in Warburgs letzten Lebensjahren, anregend bis heute. In ihm kommen Selbstverlust und Weltgewinn in eine Balance. Er erweist sich auch als Schlüsselelement einer erfolgreichen Selbsttherapie, denn Warburg begann damit in den Arbeitsphasen zwischen Wahn und Depression während seines fünfjährigen Zusammenbruchs. Am Ende stellte er Fragen wie die nach der Ablösung der Opfer und dem, was wir „Biopolitik“ nennen.
Martin Treml, Dr. phil., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Leibniz-Zentrum für Literatur- und Kulturwissenschaft, Berlin. Forschungsschwerpunkte: | Jüngste Veröffentlichungen: |