Die Kraft des Windes

Die Kraft des Windes

Für Windkraftanlagen ist Turbulenz ein Dauerzustand, sagt der Windphysiker Joachim Peinke. Er beschreibt mit mathematischen Methoden die kleinräumigen Schwankungen des Winds und wie diese von großräumigen Strömungen abhängen.

„Die Physik der Energieressource Wind ist nach wie vor nur unzureichend erforscht“, sagt Prof. Dr. Joachim Peinke, Turbulenzforscher am Zentrum für Windenergieforschung ForWind der Universität Oldenburg. Zwar gibt es Gleichungen, die das Verhalten von Strömungen beschreiben. Doch diese lassen sich selbst mit den besten Hochleistungsrechnern der Welt nicht exakt lösen.

Zu chaotisch ist die turbulente Grenzschicht in Bodennähe: Windgeschwindigkeiten variieren nicht nur über Zeiträume von Tagen, Monaten und Jahren, sondern auch innerhalb von Minuten und Sekunden. Einer sanften Brise kann binnen weniger Augenblicke eine Sturmböe folgen, die genauso schnell wieder abflaut. Manche Luftwirbel sind so groß wie Kontinente, andere klein wie eine Mücke. Hindernisse wie Berge, Wälder oder Gebäude bringen die Strömung in unvorhersehbarer Weise durcheinander.

Diese Unbeständigkeit ist für die Energiewende eine große Herausforderung. 2018 war der Wind mit einem Anteil von 20 Prozent am deutschen Strommix die wichtigste Ressource nach der Braunkohle. Allerdings lässt sich die Stromproduktion aus Windenergie wesentlich schlechter planen als die aus fossilen Energieträgern. „Wir stoßen, wenn wir die Windressource optimal ausnutzen wollen, an verschiedene Grenzen“, berichtet Peinke.

Kleinskalige Verwirbelungen

ForWind-Wissenschaftlerinnen und -wissenschaftler arbeiten daran, den Wind besser zu verstehen – und damit die Stromerzeugung zuverlässiger und planbarer zu machen. Unter ihnen Peinke, der mit seiner Arbeitsgruppe Turbulenz, Windenergie und Stochastik (TWiSt) die Eigenschaften des Windes mit komplexen mathematischen Methoden entschlüsselt.

Neben großräumigen Strömungsmustern und langjährigen Durchschnittswerten spielen in der Windenergie kleinräumige Verwirbelungen der Luft eine wichtige Rolle. „Windstrukturen mit einer Größenordnung von einem Meter bestimmen, welche lokalen Kräfte auf eine Windkraftanlage wirken“, berichtet der Turbulenzforscher. Ein Flugzeug, das bei starkem Sturm starte, müsse nur beim Abflug und bei der Landung durch die turbulente, bodennahe Schicht und fliege ansonsten meist in ruhiger Strömung.

„Für Windkraftanlagen ist die Turbulenz der Dauerzustand“, so der Forscher. Das stelle hohe Anforderungen an die Materialien – zumal Windkraftanlagen in den letzten Jahrzehnten immens gewachsen sind. Hatten typische Rotorblätter in den 1980er-Jahren noch eine Länge von sieben bis acht Metern, übertreffen sie inzwischen die Spannweite eines A380, rund 80 Meter. Um Gewicht zu sparen, sind viele Bauteile so konstruiert, dass sie sich am Rande ihrer Belastbarkeit befinden. „Würde man die Rotoren noch aus Metall bauen wie in den Achtzigerjahren, würden sie unter ihrem eigenen Gewicht zerbrechen“, berichtet Peinke.

Die Geheimnisse der Turbulenz

Um zu errechnen, welche Kräfte eine Anlage aushalten muss, nutzen Hersteller Turbulenzmodelle. Doch vor allem die kleinräumigen Turbulenzen sind nur schwer vorherzusehen. „Der Wind hat so viele lokale Schwankungen, dass immer wieder Überraschungen auftreten“, sagt Peinke. Um die Geheimnisse der Turbulenz besser zu verstehen, untersuchen er und seine Kollegen mithilfe komplizierter mathematischer Methoden beispielsweise, wie sich kleinräumige Fluktuationen am besten charakterisieren lassen und ob es universelle Eigenschaften gibt, die allen turbulenten Strömungen gemein sind. Dabei geht es etwa um die Frage, inwieweit kleinräumige Turbulenzen von der Struktur der großräumigen Strömung abhängen, aus der sie hervorgehen, oder ob Details wie die Lebensdauer oder die Stabilität einer Windböe von den Umweltbedingungen abhängen.

Die Arbeitsgruppe von Peinke führt zudem Experimente durch. ForWind verfügt hierfür über einen 30 Meter langen Windkanal. Ein spezielles und in dieser Art weltweit einzigartiges Gitter mit fast tausend beweglichen, rautenförmigen Flügeln aus Aluminium ermöglicht es, natürliche Windfelder zu erzeugen – inklusive großer und kleiner Turbulenzen. „Das Schöne ist: Anders als in der Natur können wir bestimmte Turbulenzmuster im Windkanal wiederholen und sehen dann, welche Auswirkungen sie beispielsweise auf Modell-Anlagen haben“, berichtet Dr. Michael Hölling, Mitarbeiter von Peinke und für den Windkanal zuständig.

Eine weitere Möglichkeit, die Eigenschaften der Strömungsmuster zu erfassen, bietet die Statistik. Mit seiner Arbeitsgruppe untersucht Peinke physikalische Größen wie den Turbulenzgrad einer Luftströmung und die Verteilung der Windgeschwindigkeiten, um daraus allgemeine Regeln abzuleiten. Bereits 2012 legte das Team in einer wissenschaftlichen Veröffentlichung dar, dass für Windböen eine spezielle statistische Gesetzmäßigkeit gilt: Extreme Schwankungen der Windgeschwindigkeit treten demnach wesentlich häufiger auf, als es die derzeit von der Industrie verwendete Statistik erwarten lässt. Extremereignisse würden so zum Teil drastisch unterschätzt.

„Ein Ereignis, das der bislang angewandten Gauß-Statistik zufolge alle 1250 Jahre stattfinden sollte, ereignet sich in der Realität einmal pro Stunde“, erläutert Peinke. Außerdem konnten die Wissenschaftler nachweisen, dass sich diese Eigenschaft des Windes, auch Intermittenz genannt, in allen Stufen der Umwandlung von Windenergie in elektrischen Strom wiederfindet. Von den Kräften, die auf die Turbine wirken bis hin zur Stromproduktion. All diese Größen schwanken genauso heftig wie die Windgeschwindigkeiten, stellte das Team durch den Vergleich mit Messdaten fest. Ein Beispiel: „Die Leistung von Windkraftanlagen wird teilweise innerhalb von Sekunden um 50 Prozent hoch- und wieder heruntergefahren“, berichtet Peinke.

Schwankungen im Stromnetz

Auch wenn Böen und Wirbelwinde nur lokal auftreten und nicht alle Anlagen in einem Park oder einer größeren Region betreffen, wirken sie sich auf das gesamte Stromnetz aus – insbesondere auf die Netzfrequenz. Das zeigte ein Team um Peinke und seinen Doktoranden Hauke Hähne 2018 in der Zeitschrift Europhysics Letters. Die Forscher untersuchten über einen Zeitraum von viereinhalb Monaten die Schwingungen der Wechselspannung im lokalen Stromnetz.

„Die Netzfrequenz zeigt das aktuelle Verhältnis von Stromproduktion zum Verbrauch an und ist damit ein Stabilitätsparameter“, erläutert Peinke. Wenn also plötzlich mehrere Megawatt Windleistung ins Netz eingespeist werden, ohne dass gleichzeitig der Verbrauch steigt, ändert sich die Frequenz. Weicht sie zu stark vom gewünschten Wert ab – er liegt bei 50 Hertz, also 50 Schwingungen pro Sekunde – greift innerhalb weniger Sekunden ein Kontrollmechanismus ein, damit das Stromnetz stabil bleibt. Kürzere Schwankungen werden automatisch über die Trägheit von rotierenden Massen in Großkraftwerken abgedämpft.

Um herauszufinden, welche Auswirkungen Windböen und andere Turbulenzen auf dieses Zusammenspiel haben, registrierte das Team 10.000 Messwerte der Frequenz pro Sekunde. So konnten die Forscher Schwankungen auf sehr kleinen Zeitskalen erfassen. Ihre Analyse ergab, dass sich das Phänomen der Intermittenz auch bei der Frequenz zeigt: Deren Schwankungen gehorchen einem ähnlichen statistischen Gesetz wie die Verteilung der Windgeschwindigkeiten: Vergleichsweise starke Schwankungen traten wesentlich häufiger auf als erwartet.

Komplexe Statistik

Zudem entdeckten die Forscher, dass stärkere Frequenzschwankungen umso häufiger auftraten, je mehr Windenergie in einem bestimmten Zeitraum ins Netz eingespeist wurde. „Dies legt den Schluss nahe, dass die schwankende Windleistung die Frequenzschwankungen verursachte“, sagt Peinke. Zwar waren die gemessenen Frequenzschwankungen so klein, dass sie keine Gefahr für das Stromnetz darstellten. Doch in Zukunft, wenn der Anteil erneuerbarer Energien an der Stromproduktion zunimmt, könnten die Ausschläge größer werden. Die gefundene Wahrscheinlichkeitsverteilung könne dabei helfen, Risiken korrekt zu erfassen und Kontrollstrategien zu entwickeln. „Es ist essenziell, die Statistik der Fluktuationen präzise zu kennen, um die Wahrscheinlichkeit großer, möglicherweise kritischer Schwankungen korrekt abschätzen zu können“, erläutert Peinke.

Noch stärker als die Windenergie bringt die Solarenergie das Stromnetz durcheinander: „An Tagen, an denen sich wolkenloser und bedeckter Himmel abwechseln, schalten sich Solaranlagen innerhalb kürzester Zeit immer wieder ein und aus“, berichtet Peinke. Vor allem kleinere Teilnetze, wie sie im Zuge der Energiewende verstärkt entstehen sollen, könnten durch solche Eskapaden instabil werden.

2017 veröffentlichte ein ForWind-Team aus Turbulenzforschung und Energiemeteorologie gemeinsam mit Elektrotechnikern von der Technischen Universität Clausthal eine Studie in der Zeitschrift Solar Energy, die den sprunghaften Charakter der Solarenergie mathematisch beschreibt. Darin stellen die Forscherinnen und Forscher eine Methode vor, um direkt aus einer gemessenen Zeitreihe Parameter abzuleiten, die die stochastischen, also zufälligen Eigenschaften des Solarstroms beschreiben.

Stabile Netze

Mithilfe solcher Parameter könnten Netzbetreiber wiederum einen Algorithmus entwickeln, um die heftigsten Kapriolen herauszufiltern und zu unterdrücken. Durch Batterien, Kondensatoren und Wechselrichtern, deren Kapazität bei wenigen Prozent der installierten Leistung liegt, sei es beispielsweise möglich, Mikronetze auch bei einem hohen Anteil erneuerbarer Energien zu stabilisieren.

Dass sich die komplexen Herausforderungen der Windenergie mithilfe von Statistik und Turbulenzforschung angehen lassen, spricht sich zunehmend auch in der Windenergiebranche herum. Derzeit bereitet Peinke ein Projekt vor, in dem es darum geht, den Zustand von Windkraftanlagen mithilfe statistischer Datenanalysen zu überwachen. „Wir wollen eine Art Windanlagendoktor entwickeln“, berichtet Dr. Matthias Wächter, der das Projekt leitet. Jedes Windrad enthält Hunderte von Sensoren, die vom Ölstand des Generators bis hin zum Biegemoment der Rotoren zahlreiche Parameter überwachen.

„Weil die Anlagen ständig wackeln, sind die Daten alle verrauscht, und bislang kann kaum jemand etwas mit ihnen anfangen“, erläutert Peinke. Er und sein Team wollen diese Datenberge nun gemeinsam mit Informatikern mithilfe sogenannter Big-Data-Technologien auswerten und analysieren. Auf diese Weise wollen sie aus dem Rauschen beispielsweise Informationen darüber extrahieren, ob noch alles rundläuft oder ob bestimmte Bauteile einer Anlage, zum Beispiel Motoren, Ermüdungserscheinungen zeigen und ausgetauscht werden sollten.

Besonders bei den schwer zugänglichen Offshore-Anlagen wäre es von Vorteil, Wartungsarbeiten besser planen und in windarmen Zeiten erledigen zu können. „Die Kosten für Ausfälle und Wartungsarbeiten machen einen wesentlichen Anteil der Windenergiekosten aus“, betont Peinke. Um diese Kosten zu reduzieren, sei es nicht nur nötig, die Effizienz der Anlagen zu steigern. Sondern auch, die Anlagen besser zu verstehen – damit sie auch in turbulenten Zeiten wartungsfrei arbeiten können.

Presse & Kommunikation (Stand: 20.06.2024)  | 
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