Erkenntniskritik und Gesellschaftskritik sind bei Adorno zwei Seiten der Medaille. „Kritik an der Gesellschaft ist Erkenntniskritik und umgekehrt.“ Einerseits sind Gesellschaftsordnungen in der Lage, bestimmte Erkenntniseinstellungen zu formieren. Adornos materialistische Erkenntnistheorie bedeutet, dass Wertvorstellungen, die für begründeter gehalten werden, als sie sind, von entsprechenden Gesellschaftsformen mit erzeugt werden. Kapitalistische Gesellschaftsordnungen begünstigen, so die eine Seite von Adornos Kapitalismuskritik, das Entstehen von besitzindividualistischen Wertvorstellungen. Andererseits schaffen diese Erkenntniseinstellungen die Voraussetzung dafür, dass die entsprechenden Gesellschaftsordnungen sich herausbilden, stabilisieren und florieren können. Besitzindividualistische Wertvorstellungen bilden, so die andere Seite von Adornos Kritik, eine Grundlage, die den Kapitalismus möglich macht. Sie sind erforderlich, um ihn trotz seiner negativen Folgen bejahen zu können. Beide Seiten und ihr Zusammenhang sollen im Vortrag beleuchtet werden.
Widersprüche. Adorno im Kontext
Im Sommer 1969 verstarb Theodor W. Adorno. Dass sich sein Tod 2019 zum 50. Mal jährt, ist Anlass für eine Ringvorlesung, die sich der philosophischen und politischen Relevanz seines Werks widmet. Die BeiträgerInnen der Ringvorlesung fragen weniger danach, was heute noch mit Adorno anzufangen ist, sondern versuchen zu bestimmen, wie sich die gesellschaftliche Gegenwart durch Adornos Werk hindurch begreifen lässt. Die Ringvorlesung wird im Sommersemester 2019 und im Wintersemester 2019/20 einerseits die an der Adorno-Forschungsstelle entwickelten Perspektiven und durchgeführten Forschungsprojekte präsentieren, andererseits Gäste aus dem In- und Ausland begrüßen, die maßgebliche Beiträge zur Adorno-Forschung geleistet haben.