Wenn Briefe für ihren Verfasser handeln

Wenn Briefe für ihren Verfasser handeln

„Heranzoomen und wieder herauszoomen zu können, das ist einfach faszinierend“, sagt Historiker Lucas Haasis über Mikrogeschichte. In einer solchen mikrohistorischen Studie hat er selbst zehn Jahre lang gewissermaßen eine Zeitkapsel untersucht.

Ein Kaufmannsarchiv aus den 1740er-Jahren stand im Mittelpunkt seines Dissertationsprojekts. „Den Inhalt dieser Holzkiste, heute in drei der mehr als 4.000 Archivboxen verpackt, habe ich als Startpunkt genommen, habe alles gelesen, transkribiert, und darauf meine Analyse aufgebaut“, erzählt Haasis. Der Fokus lag dabei auf der Briefpraxis des angehenden Hamburger Kaufmanns Nicolaus Gottlieb Luetkens, die nachzeichnen lässt, wie dieser von Frankreich aus sowohl die Gründung seines Handelskontors als auch seine Ehe anbahnte – „alles über das Medium Brief“, wie Haasis betont.

Es war einer dieser Zufallsfunde. Haasis, der schon seit den jahrelangen Vorbereitungen fürs Projekt zum Oldenburger Team der „Prize Papers“ zählt, war erst zum zweiten Mal in den National Archives, als er unter anderem Boxen mit Dokumenten aus der Kaperung des Handelsschiffs „Die Hoffnung“ durchsah. Für ihn „eine Zeitkapsel, von der man nicht weiß, was darin enthalten ist“. Er machte viele Fotos, „um daheim in Ruhe in den Dokumenten lesen zu können. Erst dort habe ich gemerkt, das ist hier ein Archiv, das gehört alles demselben Typen!“ Elektrisiert fuhr Haasis erneut nach London und „fotografierte alles durch“.

„Alles“ – das war ein komplettes Geschäftsarchiv, in dem der angehende Kaufmann Luetkens während einer zweijährigen Reise entlang der Atlantikküste sämtliche eingegangenen Briefe und ein Briefbuch mit Kopien ausgehender Briefe aufbewahrt hatte, insgesamt mehr als 2.000, aber auch Rechnungen, offene Wechsel, Zeitungen und Kleidung. Wie Haasis später den Prozessunterlagen entnahm, steckte all das in einer hölzernen Reisekiste, im Bug der „Hoffnung“ unter Zuckerfässern verborgen, als das Schiff am 23. August 1745 auf dem Weg von Brest nach Hamburg Kaperern in die Hände fiel. Heute weiß der Historiker: „Er schickte just damals dieses Archiv als sein Hauptkapital nach Hamburg, um nach zweijähriger Vorbereitung sein Handelshaus dort zu eröffnen – und dann verlor er es. Das ist so, wie heute einen Computer samt Passwörtern und Firmengeheimnissen einzubüßen.“

Pech für Luetkens, ein Glücksfall für die Brief- und Kaufmannsforschung. Haasis konnte anhand der Dokumente nicht nur die Geschäftsreise des damals 29-jährigen Hamburgers von Bayonne im Süden bis Brest im Norden Frankreichs nachzeichnen, sondern auch dessen Praktiken im gesamten Etablierungsprozess. Und die hatten es in sich: „Was sich zeigt, sind Intrigen, dass er Grauzonen ausspielte und mit Insiderhandel arbeitete – solche Einblicke finden sich in bisher bekannten Kaufmannsarchiven nicht!“

Hinzu komme die private Korrespondenz, etwa Briefe an Luetkens‘ zukünftige Ehefrau Ilsabe Engelhardt. Solche Dokumente erforschen zu können – zumal im oftmals lang unberührten Zustand, um dessen Erhalt und Dokumentation sich die beteiligten Londoner Konservatorinnen, Archivare und Fotografinnen und das Oldenburger Projektteam kümmern – ist für Haasis „ein absolutes Privileg“.

Wer in der öffentlich zugänglichen Datenbank der „Prize Papers“ künftig die digitalisierten Briefe aus Luetkens‘ Feder liest, wird etwa wortreiche, teils schwülstige Liebesbekundungen entdecken, die sich bei Haasis‘ Abgleich mit den damals in großer Zahl erschienenen und weit verbreiteten Briefratgebern als Sammlung von Briefformeln entpuppten.

Ende 1744 schickte Luetkens seiner „aller Liebsten“ zudem Schmuck und andere „Bagatellen“ mit, um sie darüber hinwegzutrösten, dass er seine Reise werde verlängern müssen. Der Bestand bietet auch Briefe, die aus der Distanz die Finanzierung von Geschäften regeln oder die einer Schiffscrew versichern, sie auch bei einer Kaperung im Mittelmeer durch algerische Kaperfahrer des Osmanischen Reichs freizukaufen. „Die Briefe sprachen, handelten für ihren Verfasser“, sagt Haasis. So schrieb Luetkens seinem Bruder Anton am 5. Mai 1744:

Da (…) wegen die Krigest Trubelln filleicht einige Leute Bedencken tragen möchten in unsere Schiffe zu laden (…), bin ich auf die Gedanken gekommen das du Bürger (…) möchtes werden. Wollte dier dan einen Anteyll in den Schiffen auf gewiße Arth verkauffen das du mit gutten Gewißen (…) beschwöhren könntes das solche dier eigenthumlig zu gehöret.“

Da Luetkens in Frankreich weilte, das sich mit England im Krieg befand, nutzte er seinen Bruder als Strohmann, um seine Schiffe unter neutraler Hamburger Flagge segeln lassen zu können und vor Kaperung zu bewahren – jedenfalls bei der „Hoffnung“ letztlich ohne Erfolg.

Seine Kontor-Gründung in Hamburg gelang dennoch, auch die Hochzeitsglocken läuteten noch 1745, und Luetkens wurde später sogar Senator der Hansestadt. Seine französisch eingerichtete Beletage mit goldbeschlagenen Möbeln lässt sich heute im dortigen Museum für Kunst und Gewerbe bewundern.

 

Dieser Text ist ein überarbeiteter Auszug aus dem Artikel „Schnappschüsse der Vergangenheit”, zuerst erschienen in der Ausgabe 2021/22 des Forschungsmagazins EINBLICKE. Autorin: Deike Stolz

Presse & Kommunikation (Stand: 21.08.2024)  | 
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