Die Reproduktion nationaler Grenzen
Im Allgemeinen wird die soziale Dimension der europäischen Integration auf Überlegungen zu einer "europäischen Identität" oder einem "europäischen kulturellen Erbe" begründet. Dabei wird jedoch zumeist vergessen, dass diese Aspekte zwar im Hintergrund eine wichtige Rollen spielen, aber eher abstrakte Vorstellungen sind, die relativ weit vom alltäglichen Leben der Menschen in Europa entfernt bleiben. Daher muss es darum gehen, die Betrachtung dieser "großen" Themen um eine Untersuchung auf der Ebene des Alltäglichen zu ergänzen: Was bewegt Menschen, eine Grenze zu überschreiten? Wie wirkt sich der Wegfall der Grenzkontrollen auf das Leben der Menschen aus? Wie erfahren die Menschen, was in den anderen Staaten der EU passiert? Welche Anreize gibt es für sie, über ihr Heimatland hinaus aktiv zu werden? Diese Fragen standen im Mittelpunkt des Forschungsprojekts "Die Reproduktion nationaler Grenzen", das von Anfang 2008 bis 2012 an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg durchgeführt wurde.
Dabei stehen drei (ehemalige) deutsche Grenzregionen im Mittelpunkt des Interesses: Die Stadt Lübeck mit der angrenzenden Gemeinde Lüdersdorf an der ehemaligen innerdeutschen Grenze, die schweizerische Stadt Basel mit der deutschen Nachbargemeinde Grenzach-Whylen und schließlich auch die Ortschaften Venlo und Kaldenkirchen an der deutsch-niederländischen Grenze. In diesen Regionen werden im Laufe des Jahres Interviews mit Einwohnern geführt werden, in denen es um ihre alltäglichen Praktiken und deren Bezug zu der (ehemaligen) nationalen Grenze geht.
Projektmitarbeiter
Nils Müller
Die alltägliche Reproduktion nationaler Grenzen
Nils Müller (2014)
Als Mitte der 1990er-Jahre die Personenkontrollen an den innereuropäischen Landesgrenzen abgeschafft wurden, war die Hoffnung groß, dass gerade vormals geteilte Grenzregionen nun zu einer Keimzelle eines wahrhaft sozial integrierten Europas werden könnten. Die Realität ist jedoch eine andere: Nils Müller zeigt auf der Grundlage qualitativer Interviews mit Einwohnern dreier Grenzregionen, dass die jeweilige nationale Grenze nach wie vor eine zentrale Rolle in der Alltagsgestaltung spielt und eine Grenzöffnung nicht automatisch zu einer räumlichen Ausweitung des Aktionsradius ins Nachbarland führt. Dies ist keineswegs das Resultat negativer Einstellungen gegenüber dem Nachbarland oder gar wie oftmals argumentiert einer Angst vor dem Fremden, sondern liegt darin begründet, dass sich alltägliche Routinen allgemein nur sehr langsam und unter sehr spezifischen Umständen verändern. - Neben einer Systematisierung des sozialwissenschaftlichen Forschungsstandes zum Thema nationale Grenzen entwickelt der Autor ein Modell alltäglicher Handlungsroutinen und ihrer Veränderung, welches er auf lokale Räume und den Prozess der (europäischen) Grenzöffnung anwendet. Dabei beschreibt er nationale Grenzregionen als »Regionen der Frontiers«, in denen komplexe Konfigurationen unterschiedlicher sozialer Räume entstehen, welche jeweils ein eigenes Verhältnis zu der Grenze entwickeln. - Die Arbeit ist damit für Leser interessant, die sich aus theoretischer oder praktischer Perspektive für die Veränderung räumlicher Strukturen oder den Prozess der europäischen Integration interessieren.