Oldenburger Wissenschaftler haben mit Apothekern und sprachbehinderten Menschen ein Piktogramm-Buch entworfen, das das gegenseitige Verstehen verbessert – auch ohne Sprache. Einfache Bildsymbole geben Aufschluss über Beschwerden und Medikation.
Eine Apothekerin aus Wolfenbüttel brachte den Stein ins Rollen: Sie hatte in verschiedenen Beratungsgesprächen mit Kunden mit Sprechhandicap bemerkt, dass es Probleme in der Verständigung gab. Kurzerhand setzte sie sich mit der Beratungsstelle für Unterstützte Kommunikation am Institut für Sonder- und Rehabilitationspädagogik der Universität Oldenburg in Verbindung. Ihr Vorschlag: gemeinsam etwas entwickeln, das die Kommunikation erleichtert und den Menschen hilft, ihr gesundheitliches Anliegen vorzutragen – auch ohne Sprache. „Ich war auf Anhieb von der Idee begeistert“, erinnert sich Andrea Erdélyi, Professorin und Leiterin der Beratungsstelle.
Das war 2012. Vier Jahre und einige Master- und Bachelorarbeiten weiter liegt in allen niedersächsischen Apotheken ein Piktogramm-Ringbuch aus: Die Kommunikationsmappe „Unterstützte Kommunikation in der Apotheke“, kurz UKAPO, erleichtert die Verständigung zwischen Apothekern und Kunden mit Sprechhandicap. Auf neun Seiten werden Beschwerden wie Kopfschmerzen, Bauchschmerzen oder Durchfall über einfache Bildsymbole, die die Lautsprache ergänzen oder ersetzen, dargestellt und erklärt. Auch Fragen zu Einnahmeart und Einnahmezeitpunkt von Medikamenten sowie Tipps und Empfehlungen zum Gesundheitsverhalten werden beantwortet. „Über UKAPO lässt sich ein komplettes Beratungsgespräch in der Apotheke abwickeln, denn die Symbolik orientiert sich an den Beratungsleitlinien der Bundesapothekerkammer“, sagt Andrea Erdélyi. Apotheker sind damit in der Lage, hör-, geistig oder körperbeeinträchtigte Menschen, Patienten mit einer beginnenden Demenz, Schlaganfallpatienten sowie Menschen mit keinen oder wenigen Deutschkenntnissen sinnvoll zu unterstützen. Aber auch in Arztpraxen und Gesundheitsämtern könnten die Piktogramm-Tafeln die Verständigung künftig erleichtern und somit zur Inklusion beitragen.
Das vierjährige Forschungsvorhaben spiegelt beeindruckend wider, wie erfolgreich ein Projekt verlaufen kann, wenn Wissenschaftler und Betroffene Hand in Hand arbeiten, wenn Theorie und Praxis eng ineinander greifen. „Diese Verzahnung war uns sehr wichtig. Wir haben von Beginn an mit den Apothekern und Nutzern zusammen gearbeitet und dabei auf unsere wissenschaftlichen Methoden zurückgegriffen“, erklärt Andrea Erdélyi.
Dabei war zunächst gar nicht klar, wie die Oldenburger das Projekt überhaupt stemmen wollen. „Uns standen keine zusätzlichen Ressourcen zur Verfügung“, sagt die Professorin. Deshalb wurden Studierende einbezogen, die UKAPO über ihre Bachelor- und Masterarbeiten vorantrieben. So erfolgte in einem ersten Schritt eine Bestandsaufnahme: Was gibt es Vergleichbares auf internationaler Ebene? „Das Ergebnis der Quellenrecherche war ernüchternd“, resümiert Andrea Erdélyi. Immerhin wisse man jetzt, dass Australien Vorreiter in Sachen barrierefreier Kommunikation im Gemeinwesen sei, für Deutschland sei die Symbolik allerdings weniger geeignet. „Wir haben dann angefangen, Studierende in die beteiligten Oldenburger Apotheken zu schicken, um Kundengespräche zu protokollieren“, erklärt die Professorin. Sie sollten herausfinden, welche Wörter am häufigsten benötigt werden. Auf Basis der Word-Clouds entstand eine erste Kommunikationstafel im DIN-A-4-Format samt Mappe, die die Apotheken in einer Testphase erprobten. Das Team um Erdélyi holte für diesen Zweck Mitarbeiter mit Sprechhandicap aus den Gemeinnützigen Werkstätten ins Boot: „Wir haben sie gebeten, Probekäufe zu machen und uns ihre Erfahrungen mitzuteilen“, sagt Andrea Erdélyi. Schnell wurde klar, dass die Kommunikationstafel zwar eine Hilfe sei, dass die Symbole aber noch eindeutiger werden müssen.
Von den Apothekern kam die Rückmeldung, dass sie im Umgang mit den Tafeln geschult werden möchten und dass das Format wenig handlich sei. Schließlich überarbeitete eine Studentin in ihrer Masterarbeit noch einmal alle Ergebnisse: Die Symbolik wurde vereinheitlicht, das Layout verkleinert und die Apotheker geschult – mit Erfolg, denn bei erneuten Probekäufen zeigten sich die Mitarbeiter aus den Gemeinnützigen Werkstätten zufrieden. Seit Mitte des Jahres liegen nun die Ringbücher in allen niedersächsischen Apotheken bereit, die Rückmeldung ist gut. „In erster Linie aber geht es darum, dass die Menschen sich nun auch trauen, alleine loszugehen“, so Erdélyi. Ihr Herzenswunsch ist es, dass UKAPO bundesweit eingesetzt wird. Aber auch sonst besteht ein großes Interesse an UKAPO: Die Professorin erhält Anfragen aus unterschiedlichen Bereichen, erste Folgeprojekte zeichnen sich bereits ab. So überlegen die Oldenburger Wissenschaftler, die inzwischen das Methodenzentrum für Unterstützte Kommunikation gegründet haben, ob sich die Symbolik für den Bereich Pflege weiterentwickeln lässt.
Auch im Zuge der Internationalisierung gewinnt der Bedarf nach allgemein verständlichen Darstellungen in verschiedenen Kontexten an Bedeutung. Das zeigte sich im August in Toronto auf der Konferenz der International Society for Augmentative and Alternative Communication (ISAAC), der größten Konferenz im Bereich Unterstützte Kommunikation: Vor internationalem Fachpublikum präsentierten die Oldenburger ihre UKAPO-Kommunikationsmappe – und erhielten ein rundherum positives Feedback. So signalisierten beispielsweise die Schweden, dass sie an einer adaptierten Übersetzung der Symbolik interessiert seien. „Kollegen aus England wiederum haben bereits etwas Ähnliches für die Notfallaufnahme entwickelt – da überlegen wir nun, ob und wie wir uns austauschen können”, so Erdélyi. Für sie steht außer Frage: „In UKAPO steckt noch viel Potenzial.“