Wie werden aus kleinen Energiequellen Verbünde? Um die Frage zu beantworten, orientieren sich Forscher im Projekt „SmartNord“ an staatenbildenden Insekten. Ein Interview mit Sprecher Prof. Dr. Michael Sonnenschein und dem Energieinformatiker Prof. Dr. Sebastian Lehnhoff.
Was ist das Ziel des „Forschungsverbunds Intelligente Netze Norddeutschland SmartNord“?
Sonnenschein: Unser Stromversorgungssystem befindet sich in starkem Wandel: Die Versorgung durch einige wenige Großkraftwerke wird nach und nach ersetzt durch die Versorgung aus vielen kleineren Kraftwerken wie Windenergieanlagen, PV-Anlagen oder Blockheizkraftwerken. Hierdurch wird es aber erforderlich, dass unsere Stromnetze auch im Mittel- und Niederspannungsbereich „intelligent“ werden. Eine Grundvoraussetzung für eine stabile elektrische Energieversorgung ist, dass zu jeder Zeit Verbrauch und Erzeugung von Strom möglichst exakt übereinstimmen, da das Stromnetz keinen Strom speichern kann.
Hier kommen zukünftige intelligente Netze, die sogenannten „Smart Grids“, ins Spiel.
Sonnenschein: Genau. Sie müssen diese Ausgleichsaufgabe zur Stabilisierung der Versorgung übernehmen, die bisher von Großkraftwerken wahrgenommen wurde – und das bei schwankenden und nicht exakt vorhersagbaren Stromeinspeisungen aus Windenergie oder Photovoltaik. Hierzu bedarf es neuer Verfahren der Informations- und Kommunikationstechnik zur Koordination der vielen neuen Akteure im Stromnetz sowie Untersuchungen der Stromnetze in Bezug auf ihre Versorgungsstabilität. Dies ist das wesentliche Ziel von SmartNord.
Wie lassen sich völlig unterschiedliche Energiequellen zu einem stabilen Stromnetz zusammenbinden?
Lehnhoff: Im SmartNord-Verbund untersuchen wir Möglichkeiten, viele kleine Energiequellen zu Verbünden zusammenzuschließen, in denen sich die Unsicherheiten der Stromerzeugung einzelner Quellen möglichst gegenseitig kompensieren – so dass der Verbund aus zunächst unsicher planbaren Einzelanlagen an einem Strommarkt ein verlässliches Angebot abgeben kann. Und zwar sowohl für die zur Verfügung gestellte sogenannte Wirkleistung als auch für die kurzfristige Bereitstellung von Leistungsbeiträgen, die die Stabilität des Netzes stützen sollen. Eine gute Verhaltensprognose ist dabei eine ganz zentrale Voraussetzung.
Reicht das?
Lehnhoff: Nein, noch nicht. Zusätzlich sind Verfahren zu entwickeln, mit denen kurzfristige Abweichungen durch andere Akteure ausgeglichen werden, wenn ein Erzeuger doch einmal von seinem prognostizierten Verhalten abweicht. Dazu sind auch eine Integration von Speichern sowie eine Steuerung von Verbrauchern erforderlich.
Welche Rolle spielt die über 30-jährige Tradition der Universität auf dem Gebiet der Erneuerbaren Energien für Ihre jetzige Forschung?
Sonnenschein: Energieforschung ist ein herausragender Forschungsschwerpunkt der Universität Oldenburg und besitzt seit vielen Jahren eine hohe Qualität sowie internationale Sichtbarkeit und Relevanz. Zur Oldenburger Expertise in der Energieforschung gehören neben „klassischen“ Themen wie Windenergie, Photovoltaik, Brennstoffzellen, Energiewirtschaft, Energiespeicher und Nachhaltigkeitsmanagement auch die Energieinformatik und hier gerade die Erforschung und Entwicklung von Smart Grids. Der systemische Zugang zum Thema „zukünftige intelligente Energieversorgungssysteme“, den die Energieinformatik liefert, wird durch die Vielfalt der Forschungsdisziplinen in diesem Bereich am Standort Oldenburg stark begünstigt.
Sie setzen im Projekt „SmartNord“ verstärkt auf naturanaloge Ansätze. Was muss man sich darunter vorstellen?
Lehnhoff: In der Natur gibt es hervorragende Beispiele, wie sehr komplexe Systeme koordiniert und gesteuert werden können. Bei naturanalogen Ansätzen versucht man, solche Mechanismen, die man beispielsweise in komplexen biologischen Systemen findet, auf technische Systeme zu übertragen. Das ist meist nicht 1:1 möglich, aber es geht dabei auch mehr um die Übertragung der grundlegenden Ideen als der konkreten Umsetzung in der Natur. Eine solche Idee ist die Schwarmbildung. Hier legen eine große Zahl von Individuen ein hochgradig koordiniertes Verhalten an den Tag, um ein gemeinsames Ziel zu erreichen – zum Beispiel die Reduzierung des Energieaufwands bei der Fortbewegung oder der Schutz vor Fressfeinden. Und das alles ohne zentrale Aufsicht oder Führung. Hiervon wollen wir lernen!
Was haben staatenbildende Insekten mit dem System der Energieversorgung zu tun?
Lehnhoff: Staatenbildende Insekten wie Bienen oder Ameisen haben sehr effiziente Mechanismen entwickelt, gemeinsam an einer komplexen Aufgabe wie etwa der Versorgung eines Ameisenstaates mit Futter zu arbeiten, ohne dass die einzelnen Individuen dazu sehr intelligent sein müssten oder es eine zentrale Koordination gibt. Solche Verfahren der Selbstorganisation sind es gerade, die wir in SmartNord in Hinblick auf die Koordination vieler kleiner Stromerzeuger untersuchen wollen. Auch hier haben wir eine riesige Anzahl von dezentralen Stromverbrauchern und -erzeugern, die ein gemeinsames Ziel verfolgen, nämlich eine sichere und zuverlässige Stromversorgung. Es ist schon heute nur noch in Ausnahmefällen möglich, den globalen Systemzustand des Stromnetzes zentral zu erfassen geschweige denn im laufenden Betrieb zu berücksichtigen. Die Frage ist also, mit welchen Verhaltensregeln sich diese dezentralen Anlagen ohne eine zentrale Instanz, die alles koordiniert, so gegenseitig abstimmen können, dass sie zusammen das Stromnetz stabil halten?
Was sind für Sie die nächsten Schritte im Forschungsverbund?
Sonnenschein: „SmartNord“ ist selber auch ein komplexes System. Der Forschungsverbund gliedert sich in sechs Teilprojekte, die unterschiedliche Aspekte des Problems betrachten. In jedem der Teilprojekte gibt es recht genau definierte Arbeitspakete, in denen wiederum spezifische Untersuchungen durchgeführt werden. So befassen sich beispielsweise zwei Arbeitspakete mit Mechanismen der Verbundbildung von Erzeugern zu unterschiedlichen Angeboten am Markt. Kaum eines der Arbeitspakete kann allerdings unabhängig von den anderen erfolgreich sein: es bedarf einer recht intensiven Zusammenarbeit insbesondere auch der Informatikerinnen und der Informatiker mit der elektrischen Energietechnik, um die Probleme richtig zu verstehen und adäquate Lösungen zu entwickeln. Vielfach setzen wir bei der Entwicklung neuer Verfahren dabei auf Simulationstechniken: Neue Methoden werden zunächst einmal am Computer in verschiedenen Szenarien erprobt.