Selbst wenn schwerhörige Kinder medizinisch optimal versorgt sind, sind sie womöglich auch Jahre später noch auf eine gezielte Wortschatzförderung angewiesen. Zu diesem vorläufigen Ergebnis kommen Oldenburger Forschende des Exzellenzclusters Hearing4all.
Sie haben in einer explorativen Studie untersucht, wie Kinder mit und ohne Höreinschränkungen Geschichten erzählen – eine Fähigkeit, die als entscheidend für den schulischen Erfolg und anschließende berufliche Chancen gilt. Dabei zeigte sich, dass Kinder, die auf Hörgeräte oder Cochlea-Implantate angewiesen sind, bei bestimmten Aspekten des Erzählens Defizite aufweisen. Erstmals haben Forschende diese Untersuchungen mit deutschsprachigen Kindern durchgeführt.
„Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass Kinder mit Hörbeeinträchtigungen nicht nur im Kindergarten und in den ersten Schuljahren, sondern auch in höheren Klassenstufen auf die Förderung ihres Wortschatzes angewiesen sind“, sagt Lara Hardebeck. Die Sonderpädagogin mit Schwerpunkt Sprache und geistige Entwicklung erforscht für ihre Promotion den Spracherwerb und die Partizipation von Schülerinnen und Schülern mit Hörverlust.
Ihr Ansatz ist ein Beispiel für eine zusätzliche Perspektive, die die Oldenburger Hörforschung in Zukunft stärker in den Fokus rücken soll. Der Exzellenzcluster Hearing4all wird sich in der nächsten Förderphase unter anderem mit dem Forschungsbereich „From hearing to understanding for participation in society“ beschäftigen, an dem unter anderem die Sprachwissenschaftlerin Prof. Dr. Esther Ruigendijk mitwirkt. „Es geht darum, herauszufinden, wie das Hören die soziale Teilhabe beeinflussen kann und wie das Hören in sozialen Interaktionen funktioniert. Wir gehen also über rein technische und rein medizinische Fragen hinaus“, betont sie. „Gerade in diesem Forschungsbereich ist die Verknüpfung von naturwissenschaftlichen mit geistes- und sozialwissenschaftlichen Perspektiven notwendig und enorm bereichernd.“
Für ihre Studie hat Lara Hardebeck 28 normalhörende und 22 schwerhörige Kinder im Alter von durchschnittlich 9 (normalhörend) und 10 Jahren (schwerhörend) untersucht. Unter anderem sollten die Kinder mit eigenen Worten eine Bildergeschichte über eine Vogelfamilie nacherzählen. „Erzählen bedeutet aus sprachwissenschaftlicher Sicht, dass jemand mit mindestens zwei zusammenhängenden Äußerungen – meistens Sätzen, manchmal aber auch einzelnen Wörtern – ein fiktives oder reales Ereignis beschreibt“, erklärt Hardebeck.
Die Geschichte über Vogelbabys, deren Nest von einer Katze angegriffen wird, ist Teil eines standardisierten Verfahrens, mit dem Forschende die Makro- und die Mikrostruktur der Erzählungen untersuchen. Können Kinder etwa die Charaktere benennen, das Setting beschreiben oder zentrale Konflikte wiedergeben, spricht das für eine gute Makrostruktur. „Bei der Mikrostruktur achten wir hingegen auf linguistische Feinheiten: Welche Wörter nutzen die Kinder, wie vielfältig ist ihr Vokabular und wie komplex sind die Sätze?“, erklärt die Sonderpädagogin.
Während alle Kinder in der Makrostruktur ihrer Geschichten ähnlich gut abschnitten, fanden die Forschenden Unterschiede in der Mikrostruktur: Kinder mit Höreinschränkungen nutzten ein weniger vielfältiges Vokabular, begannen etwa ihre Sätze häufig mit den gleichen Wörtern und wiederholten eher Bezeichnungen als Synonyme oder Pronomen zu verwenden.
In weiteren Tests fanden die Forschenden heraus, dass die schwerhörigen Kinder außerdem über einen kleineren passiven Wortschatz verfügen. Aus Lauten zusammengesetzte Fantasiewörter zu wiederholen, fällt ihnen ebenfalls schwerer als normalhörenden Kindern. Dies deutet auf ein eingeschränktes phonologisches Arbeitsgedächtnis hin, das klanglich-sprachliche Informationen speichert und verarbeitet.
Aber warum unterscheidet sich die sogenannte lexikalische Vielfalt in den Geschichten der Schülerinnen und Schüler, obwohl die Kinder mit Höreinschränkungen schon seit vielen Jahren – im Durchschnitt, seit sie 2,6 Jahre alt sind - mit Hörgeräten und Cochlea-Implantaten versorgt sind? „Sprachentwicklung findet früh statt, das Hören und damit auch die dazugehörigen Entwicklungen im Gehirn beginnen schon im siebten Schwangerschaftsmonat“, sagt Lara Hardebeck. Es könnte also sein, dass die in frühesten Kindertagen verpassten Entwicklungen für die späteren Probleme beim Erzählen mitverantwortlich sind.
Die Ergebnisse der Studie, das betont Lara Hardebeck, seien vorläufig, schließlich habe das Team einen explorativen Ansatz verfolgt. „Die Testgruppe ist zu klein, um repräsentativ sein zu können und wir haben nicht ausreichend Hintergrundinformationen über alle Kinder, um sicher ausschließen zu können, dass es nicht auch weitere Faktoren gibt, die sich auf ihre Erzählfähigkeit auswirken und die nicht unmittelbar mit dem Hören zu tun haben“, sagt sie. In weiteren Studien sollten daher zum Beispiel auch die kognitiven Fähigkeiten der Kinder berücksichtigt werden.
„Forschung wie diese ist für den Bildungserfolg wichtig, weil sie sichtbar macht, dass Kinder mit Hörbeeinträchtigungen trotz technischer Versorgung häufig langfristig sprachliche Förderung benötigen“, sagt Prof. Dr. Ulla Licandro, Professorin für Heterogenität und Diversität unter besonderer Berücksichtigung inklusiver Bildungsprozesse. Gerade im sonderpädagogischen Kontext zeige sich, wie eng Sprachkompetenz mit Teilhabe und schulischem Erfolg verknüpft ist. Die Forschungslage verdeutliche, dass noch viele Einflussfaktoren – etwa kognitive Fähigkeiten oder soziale Bedingungen – nicht ausreichend berücksichtigt sind und weiterer interdisziplinärer Forschungsbedarf besteht. „Studien in diesem Bereich tragen dazu bei, Förderbedarfe frühzeitig zu erkennen und passgenaue Unterstützungsangebote zu entwickeln“, so Licandro.