Anna Katharina Schliehe möchte die Erfahrungen in geschlossenen Räumen verstehen. Die Humangeografin erhält eine Förderung aus den renommierten Marie Skłodowska-Curie-Maßnahmen.
Die große Fensterfront im Büro von Anna Katharina Schliehe im vierten Stock des Gebäudes A06 gibt den weiten Blick über den Campus Haarentor und die Nachbarschaft frei. Der Kontrast zu der Welt, mit der sich die Nachwuchswissenschaftlerin in ihrer Forschung beschäftigt, könnte kaum größer sein.
Ihre Disziplin Carceral Geography beschäftigt sich mit geschlossenen Räumen wie beispielsweise Psychiatrien, Alten- oder Kinderheimen. Schliehe selbst untersucht und analysiert Gefängnisse. „Nicht nur die Lebenswelt von eingesperrten Personen, sondern auch andere Menschen, die von der Haftstrafe betroffen sind, stehen im Fokus – wie Mitarbeitende und Angehörige der Eingeschlossenen“, erklärt die Humangeografin.
„Mir geht es vor allen Dingen darum, die Erfahrungen von inhaftierten Frauen zu untersuchen“, grenzt Schliehe ihr Thema ein. Allerdings schaut sie dabei nicht nur auf deren Zeit im Gefängnis, sondern interessiert sich auch dafür, welche Folgen eine Haftstrafe nach der Entlassung hat, etwa bei der Jobsuche, der Wohnungssuche oder auch bei Einschränkungen von Reisen, wie beispielsweise in die USA.
Inhaftierte Frauen seien als Gruppe besonders interessant, da in Deutschland nur knapp sieben Prozent der Insassen von Gefängnissen weiblich sind. Im regulären Alltag werden die Bedürfnisse der Frauen häufig nicht mitgedacht, sodass Frauengefängnisse bestimmte Maßnahmen, wie besondere Rehabilitationsprogramme, vielfältigere Arbeitsangebote oder auch Weiterbildungen teilweise schwer oder gar nicht umsetzen können. Die geschlechtersensible Arbeit von Schliehe kann daher hilfreiche Erkenntnisse für die Praxis liefern, um die Haftbedingungen zu verbessern. Denn bisher ist nur wenig über Erfahrungen weiblicher Gefangener in Deutschland bekannt. Schliehe will auch dazu beitragen, Carceral Geography, also die Geografie der geschlossenen Räume, als Disziplin in Deutschland besser zu verankern. „Meine Hoffnung ist, dass die Erkenntnisse interdisziplinär interessant sind und in verschiedenen Bereichen genutzt werden können“, resümiert sie.
Schlüssel zu einer anderen Welt
Seit September erhält die 37-Jährige für vier Jahre ein Einzelstipendium aus den Marie Skłodowska-Curie-Maßnahmen. Damit fördert die Europäische Kommission die Mobilität und Karrierechancen exzellenter Nachwuchsforscherinnen und -forscher. In Oldenburg forscht Schliehe nun in der Arbeitsgruppe „Crime and Carcerality“ von Dr. Jennifer Turner am Institut für Sozialwissenschaften. Das Team untersucht, wie sich Karzeralität, also die Gefangenschaft von Menschen, auf eine Gesellschaft auswirkt.
Die letzten 15 Jahre lebte Schliehe in Großbritannien. Nach dem Diplomstudium der Geografie in Münster mit einem Erasmusjahr in Glasgow zog es sie zurück nach Schottland. Sie machte ihren Master und promovierte an der University of Glasgow. Ein EU-Projekt brachte sie 2016 schließlich nach Cambridge, wo sie mit Kollegen aus Norwegen und Dänemark zusammenarbeitete. Schon hier ging es um die Erfahrungen von Gefangenen. Ein Sicherheitstraining ermöglichte Schliehe den Zugang zu Gefängnissen in England und Norwegen. Mit einem eigenen Schlüssel konnte sie sich innerhalb der Einrichtungen recht frei bewegen. „Die Zeit war sehr intensiv und hat uns einen sehr guten Einblick in das Leben im Gefängnis gegeben, denn wir haben auch mit den Gefangenen gegessen, ferngesehen und Kaffee getrunken“, erzählt die Wissenschaftlerin. Die Teilnahme am Alltag der Insassen lieferte einen umfassenden Einblick in die Lebenswelt in Gefängnissen, den sich Schliehe auch in Deutschland erhofft. „Mehrere Monate jede Woche mehrere Tage in ein Gefängnis zu gehen und Zeit mit den Menschen zu verbringen, hilft sehr, das ganze System besser zu verstehen“, sagt Schliehe. Außerdem würde sie gerne Fragebögen ausfüllen lassen und in ausgewählten Institutionen Interviews durchführen. Dabei versucht sie, auch Frauen zu finden, deren Haftzeit bald endet – in der Hoffnung, dass sie diese auch in ihrem Leben nach dem Gefängnis begleiten darf.
Bis dahin ist es allerdings ein langer Weg. Schliehe wartet auf die Freigabe des Kriminologischen Dienstes und des Justizministeriums von Nordrhein-Westfalen. Sie möchte in dem bevölkerungsreichsten Bundesland forschen, weil es dort insgesamt neun Justizvollzugsanstalten gibt, darunter verschiedene im offenen und geschlossenen Vollzug sowie eine Mutter-Kind-Einrichtung.
Im Kleinen etwas von Wert schaffen
Einen Ausgleich zu den teils sehr bedrückenden Erfahrungen findet Schliehe zu Hause bei ihrer Familie. Die Zeit mit ihrem Kind hilft ihr, auf andere Gedanken zu kommen. „Einfach in ein Gefängnis hereinzuspazieren ist ungewohnt und überwältigend, aber mit der Zeit wird dieser Arbeitsplatz zum Alltag“, beschreibt Schliehe ihre Erfahrungen. Allerdings findet sie die Arbeit auch bereichernd. Sich mit den sehr unterschiedlichen Lebensrealitäten auseinander zu setzen, liefert ihr eine neue Perspektive auf die Welt: „Ich merke, dass ich etwas verändern möchte und hoffe, dass meine Forschung dabei helfen kann. Im Kleinen etwas anstoßen, was großen Wert für das gesellschaftliche Zusammenleben hat, tut gut.“