Welche Chancen bietet unsere Gesellschaft, welche Faktoren begünstigen Ungleichheiten, und wie wirken sich Krisen auf persönliche Einstellungen aus? All dies analysiert die Sozialwissenschaftlerin Gundula Zoch anhand der Daten von zigtausend Menschen. Die Faszination für Zahlen ermöglicht es der Forscherin, die komplexe gesellschaftliche Realität konkret und zugleich repräsentativ greifbar zu machen.
„Etwas anderes“ wollte sie machen. Aber was? Das wusste sie vor 20 Jahren als Abiturientin selbst noch nicht so genau. „Etwas anderes“, das bedeutete: weder Elektrotechnik wie der Vater, noch Naturwissenschaften wie die Mutter oder Ingenieurwesen wie der ältere Bruder. Aber was? Gundula Zoch druckte sich damals lange Listen mit Studiengängen aus. „Meine Eltern hatten oft gesagt, wir können euch nichts Wichtigeres mitgeben als Bildung“, erinnert sie sich. Sie fand vieles erwägenswert, entschied sich am Ende für Soziologie, „und ich war begeistert, als ich im Studium merkte, wie spannend das eigentlich ist“. Heute ist es unter anderem die zentrale Rolle eben der Bildung im und für den Lebensverlauf, die Gundula Zoch als Juniorprofessorin für die „Soziologie sozialer Ungleichheiten“ an der Universität Oldenburg erforscht.
Die Frage nach den Ursachen und Folgen sozialer Ungleichheiten bestimmt ihre Arbeit. Abgesehen davon, dass wir alle individuell verschieden sind: Welche Chancen bietet unsere Gesellschaft, an Bildung – ob in Kita, Schule, Ausbildung, Studium, Weiterbildung – teilzuhaben, soziale Kontakte zu pflegen, ein gutes Einkommen zu erzielen, sich politisch einzubringen, möglichst gesund zu leben? Welche Faktoren begünstigen Ungleichheiten – nach sozialer Herkunft, Geschlecht, Migrationshintergrund, Alter oder Wohnort? Und wie wirken sich Krisen und Transformationen aus, etwa auf beruflichen Erfolg oder politische Einstellungen? Diesen Fragen geht Zoch nach, oft in Projekten mit Forschenden anderer Institutionen – etwa des Leibniz-Instituts für Bildungsverläufe in Bamberg (LIfBi), dem sie seit ihrem Wechsel nach Oldenburg 2021 als „Research Fellow“ verbunden geblieben ist.
Die Quellen, aus denen Gundula Zoch dabei schöpft, sind enorm große Datensätze. „In Deutschland haben wir da unglaubliche Schätze“, erklärt sie. Zum Beispiel das am LIfBi beheimatete Nationale Bildungspanel NEPS, die größte bildungswissenschaftliche Längsschnittstudie, also Langzeit-Erhebung: Allein in ihrem Rahmen werden seit 2009 mehr als 70.000 Menschen jährlich zu Lebenssituation, Schule, Ausbildung und Beruf befragt und getestet, hinzu kommen 50.000 befragte Personen aus deren Umfeld. So lassen sich Kompetenz- und Bildungsverläufe von der Geburt bis ins hohe Alter erforschen. Die statistischen Verfahren, mit denen Zoch diese Datenmengen untersucht, erlauben es ihr, Zusammenhänge zu erkennen, Mechanismen zu identifizieren, Ursache und Wirkung klar zu bestimmen.
Wenn Alltagsverständnis und empirische Realität auseinanderklaffen
Die Faszination für diese sogenannten quantitativen Methoden – also standardisiert zu untersuchen, wie sich bestimmte Kombinationen von Merkmalen statistisch verteilen und woran das liegt – entwickelte Zoch nicht sofort im Studium. Sie habe selbst gemerkt: „Es ist zu Beginn gar nicht so leicht mit der Statistik und den Methoden – da habe ich auch heute immer vollstes Verständnis für meine Studierenden und versuche die besondere Bedeutung der quantitativen Forschung von Beginn an mit vielen Beispielen zu illustrieren“, sagt sie.
„Ich fand Zahlen schlicht überzeugender als nur verbale Argumente: Mit ihnen lassen sich Veränderungen und Ursachen repräsentativ fassbar machen.“ Diese Faszination führte sogar dazu, dass sie nach dem Diplom zusätzlich ein Studium der Volkswirtschaftslehre mit Schwerpunkt Ökonometrie absolvierte, um die damals stärker in den Wirtschaftswissenschaften genutzten Methoden der Kausalanalyse zu vertiefen und auch auf soziologische Fragen anzuwenden.
Diese Routine kommt Gundula Zoch bis heute zugute. So jonglieren sie und ihr Team im von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Projekt „WorkMum“ mit komplexen Daten zu mehr als 2.000 Familien. Aus dem NEPS stammen etwa jährlich erhobene Befragungsdaten zu Lebens- und Arbeitssituation der Eltern, die Kinder absolvieren Kompetenztests in Lesen, Mathematik, Naturwissenschaften, Forschende beobachten sogar die Interaktion von Müttern und ihren Babys. All jene Daten verknüpfen Zoch und Team mit taggenauen Sozialversicherungsdaten der Frauen zu Arbeitszeiten, Verdienst oder Firmenmerkmalen. „All dies selbst zu erheben, wäre schon ein Millionenprojekt und allein schlicht nicht zu stemmen“, betont Zoch.
Jüngste Erkenntnis, die das am Projekt beteiligte Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung im Juni veröffentlichte: Bekommen Mütter ihr Kind vergleichsweise früh, vor dem durchschnittlichen Alter bei Erstgeburt – mittlerweile 30 Jahre –, weisen diese Kinder in den ersten zehn Lebensjahren unterdurchschnittliche mathematische und soziale Kompetenzen auf, mit den geringsten Kompetenzen bei Kindern besonders junger Mütter unter beziehungsweise um die 20. Diese Unterschiede lassen sich weitestgehend damit erklären, dass jüngere Mütter häufig geringere Bildungsabschlüsse und Einkommen haben, was die kindliche Entwicklung in Deutschland noch immer stark beeinflusse, so Zoch und Team. Sie ziehen daraus allerdings ausdrücklich nicht den Schluss, dass spätere Familiengründungen vorteilhaft wären, sondern dass etwa eine verlässliche, gute Kinderbetreuung besonders jungen Müttern und ihren Kindern eine Chance zum Aufholen gäbe.
Um das Thema Kinderbetreuung, konkreter den Krippenausbau in Deutschland, ging es bereits in Zochs mehrfach ausgezeichneter Dissertation, für die sie an der Universität Bamberg mit einem Stipendium der Exzellenzinitiative forschte. Für sie ein Beispiel, dass Alltagsverständnis und empirische Realität durchaus auseinanderklaffen können. „Die Wahrnehmung war damals: Da ist so viel Geld reingeflossen, nun können alle Frauen arbeiten. Aber die Studie zeigte: Gerade in Westdeutschland reichen die Plätze noch immer nicht.“ Zudem konzentrierte sich der intendierte Anstieg der Erwerbstätigkeit von Müttern besonders auf Familien mit höheren Einkommen und Bildungsabschlüsse „und offensichtlich mehr Wissen, wie sich überhaupt einer der Krippenplätze ergattern lässt“.
An anderen Stellen bestätigt ihre Forschung wahrgenommene Phänomene: etwa die Tatsache, dass Mütter nach der Geburt eines Kindes beruflich stärker zurückstecken. So ermittelte Zoch anhand von NEPS-Daten, dass Mütter nach einer Babypause ihre Teilnahme an beruflicher Weiterbildung vier Mal so stark reduzieren (um 16 Prozentpunkte) wie Väter (4 Prozentpunkte) und zudem auf längere Sicht.
Zoch hält es für wichtig, den gängigen Blick auf die Gesellschaft immer wieder empirisch zu überprüfen. „Hier und da haben Menschen das Gefühl: ‚Ist doch klar, wofür brauchen wir da eine Studie?‘ Aber selbst, wenn das Ergebnis mit dem Alltagsverständnis übereinstimmt: Es macht eben einen Unterschied, wenn wir Trends quantifizieren können, soziale Ungleichheiten aufzeigen und Ursache-Wirkung genau verstehen.“ Regelmäßig wird sie von Abgeordneten oder Interessengruppen für Vorträge angefragt, fließen ihre Erkenntnisse in Sachverständigengutachten für Landtage oder den Bundestag ein. Auch wenn sie selbst soziale Ungleichheiten zunächst in Statistiken und Durchschnitten lediglich konstatiere und nicht werte, so die Soziologin, lege ihre Forschung auf diese Weise auch in der öffentlichen Debatte durchaus „den Finger in die Wunde“.
Punktuell gelingt es einzelnen Forschenden wie Zoch auch, mit ihren Impulsen die Datenlage in Deutschland mit zu prägen und weiterzuentwickeln. „Die großen Datensätze wie das Nationale Bildungspanel bieten alle die Möglichkeit, dass sich Forschende bewerben, um eigene Ideen einzubringen“, erzählt sie. Gemeinsam mit einem Kollegen von der Universität Leipzig hatte sie dabei 2021 Erfolg: Um die Hintergründe einer zunehmenden gesellschaftlichen Polarisierung genauer untersuchen zu können, wird im NEPS seither auch erhoben, zu welchem Grad die Befragten Verschwörungsnarrativen zustimmen.
Unter die Lupe genommen: die Folgen der Corona-Pandemie
Die ersten Ergebnisse überraschen, allerdings nicht positiv. Von den im Jahr 2022 knapp 4.000 Befragten zeigten 20 Prozent und mehr eine Verschwörungsmentalität, also eine größere Bereitschaft, hinter gesellschaftlichen oder politischen Phänomenen generell das geheime Wirken von kleinen, geheimen, mächtigen und böswilligen Gruppen zu vermuten, die die Geschicke der Welt steuern. Dabei, so Zoch, lasse sich aus den Daten ablesen, dass sich die Zustimmung nicht auf Personen mit niedrigem Bildungsstand oder prekären Beschäftigungsverhältnissen beschränke. „Vielmehr zieht es sich auch durch höhere Bildungsschichten, die Geschlechter, verschiedene Berufsgruppen und soziale Hintergründe – durchaus also durch breite Teile der Bevölkerung.“
In weiteren Projekten analysiert sie Folgen der Corona-Pandemie. So geht es im Rahmen eines vom Bundesforschungsministerium geförderten Projekts um veränderte politische Einstellungen, wie etwa das anfänglich gewachsene und später angeknackste Vertrauen in Politik und öffentliche Institutionen. Ein Projekt zu weiteren Folgen von Corona hat sie mit der Versorgungsforscherin Prof. Dr. Antje Wulff und der Psychologin Prof. Dr. Mandy Roheger von der Universitätsmedizin Oldenburg zusammengebracht: Bis Ende 2025 geht das Team der Frage nach, wie sich ungleiche Arbeits- und Lebensbedingungen auf das Post-Covid-Syndrom auswirken und welche Faktoren bei Menschen mit Long-Covid die Genesung begünstigen.
Eins ist sicher: Gundula Zoch gehen die Themen nicht aus. „Sobald ich mein Büro verlasse, ist da unendliche Inspiration: weil sich die Gesellschaft permanent verändert und es immer neue Einflüsse gibt, die soziale Ungleichheiten reproduzieren oder neu entstehen lassen.“