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Violeta Dinescu ist 1996 Professorin für Komposition am Institut für Musik. Seitdem organisiert sie unter anderem gemeinsam mit Kollegen das wöchentliche Komponisten-Colloquium, in dem Komponisten, Musiker und Wissenschaftler aus aller Welt zu Gast sind. Im gleichen Jahr initiierte die gebürtige Rumänin das Archiv für osteuropäische Musik – eine umfangreiche Sammlung von Musik und Musikschriften aus dem gesamten Osten Europas. Seit 2006 veranstaltet sie mit ihrem Kollegen, dem Musikwissenschaftler Roberto Reale, das Symposium ZwischenZeiten, das die Musikwelten West- und Südosteuropas verbinden soll. Die Komponistin ist  Mitglied in der International Alliance for Women in Music.

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Prof. Violeta Dinescu

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  • Seit 1996 lehrt Violeta Dinescu Komposition an der Universität. Foto: Daniel Schmidt/ Universität Oldenburg

„In jedem von uns ist ein Ikarus"

Ein Bild, ein Gedanke oder ein Text – die Komponistin Violeta Dinescu lässt sich durch ganz unterschiedliche Dinge inspirieren. Ihren Studierenden möchte die Hochschullehrerin vor allem vermitteln, authentische Musik zu komponieren. Ein Gespräch.

Ein Bild, ein Gedanke oder ein Text – die Komponistin Violeta Dinescu lässt sich durch ganz unterschiedliche Dinge inspirieren. Ihren Studierenden möchte die Hochschullehrerin vor allem vermitteln, authentische Musik zu komponieren. Ein Gespräch. 

FRAGE: Frau Dinescu, in Ihrem neuesten Werk, das im vergangenen Jahr eingespielt wurde, nutzt der Pianist zwei Klaviere. Eines davon ist ein Rabbler – ein sehr altes Instrument, das scheppert und andere Klänge erzeugt als ein wohlklingender Flügel. Wie kam es dazu?

VIOLETA DINESCU: Seit Jahrzehnten präpariert man Klaviere oder Flügel, um Klänge zu verfremden – angefangen damit hatte John Cage. Das Präparieren kann sehr unterschiedlich geschehen, etwa mit Objekten auf den Seiten. Aber auf Wunsch des Pianisten Sorin Petrescu, der die Kompositionen eingespielt hat, haben wir hier kein präpariertes Klavier ausgewählt, sondern ein altes, das man normalerweise wegwerfen müsste. Der Resonanzkörper ist geschädigt und man kann es nicht mehr stimmen. Aber Petrescu hat eine besondere Sensibilität für solche Gegenstände. Mir ging es ähnlich, als ich von Rumänien nach Deutschland kam. Bis heute habe ich ein merkwürdiges Gefühl, wenn ich sehe, wie leicht die Menschen Dinge wegwerfen. Daher hat mich Petrescus Idee sofort angesprochen.

Steckt diese Vorstellung auch hinter dem Titel des Werks – „Flügel und Trümmer“?

Der Titel  des Werkes und der CD hat zu tun mit einer Fotografie von Alexander Bold. Man sieht an einem Strand Trümmer – alte, verlassene, gigantische Steine, die zu einem Bau gehörten. Auf diesen deprimierenden Gegenständen sitzen Möwen. Das ist ein sehr beeindruckendes Foto. Alexander Bold fotografiert verlassene Gebäude oder kuriose Gegenstände so, dass es poetisch wirkt. Das ist seine Leitidee. Zusammen mit dem Wunsch von Petrescu und dieser Fotografie ist das Werk entstanden.

Ziehen Sie aus solchen Bildern schöpferische Kraft für Ihre Kompositionen?

Mich inspirieren ganz unterschiedliche Dinge. Es kann ein Gedanke sein, aber auch ein Bild oder ein Teil eines Gedichts oder Romans. Manchmal reagiere ich unmittelbar auf solche außermusikalischen Impulse. Und dies versuche ich auch meinen Studenten zu vermitteln: Ich will sie sensibilisieren, dass sie auf Impulse reagieren, die nicht bei der ersten Wahrnehmung aber bei der zweiten, vertieften Reflexion eine Aussage haben.

Wie vermitteln Sie, was eine gute Komposition ausmacht?

Eine gute Kompositionslehre ist diejenige, die die Studierenden animiert, wahrhaftig das zu tun, was sie innerlich fühlen. Doch gute Ideen kann man meiner Meinung nach nur haben, wenn man bereits eine innere musikalische Instanz kultiviert hat. Es ist in etwa so, wie wenn man in Italien ist – an diesen fantastischen Orten, wo auf der Straße Kunst zu sehen ist. Die Menschen, die in einer solchen Atmosphäre leben, eignen sich eine Art ästhetischer Vorstellung an – auch wenn Sie nicht Kunst studieren. Oder wenn man in einer fantastischen Landschaft lebt. Man absorbiert Proportionen. In der Musik ist es auch so: Man kann es nicht hundertprozentig lehren, dass eine Komposition so oder so sein muss. Und je nachdem, welche Art von Instrumenten man anwendet, erlaubt das Material bestimmte Klangräume. Sonst ist die Musik nicht authentisch. Dazu kommt natürlich eine Reihe von handwerklichen Aspekten – etwa das Wissen über das Wesen von akustischen Instrumenten.

Was sollte man als Komponist darüber wissen?

Man kann ja heute mit Computern elektronische Klänge erzeugen, sehr komplexe Strukturen kreieren und Musik selbst gestalten – ohne Interpreten. Und man kann sich über Charakteristiken von jedem Instrument im Internet informieren. Dennoch muss man selbst erfahren: Wie spielt man ein Instrument? Manche Werke sind etwa schwer zu schreiben, aber leicht aufführbar – wenn man das Wesen des Instruments kennt. Umgekehrt kann man so schreiben, dass es zwar leicht aussieht. In Wirklichkeit ist es aber fast unmöglich, das Stück zu spielen, weil es dem Instrument nicht gerecht wird. Dieses Wissen über ein Instrument erhält man beispielsweise, indem man Werke analysiert, in denen Komponisten dieses Instrument anwenden. Wenn man diese praktischen Dinge kennt, kann man selbst entscheiden: Wo möchte ich etwa an Grenzen stoßen? Beispielsweise mit sogenannten erweiterten Techniken, die mir einen bestimmten Ausdruck ermöglichen, etwa Spannung vermitteln.

Und das bringen Sie Ihren Studierenden nahe.

Im Grunde genommen habe ich eine Coaching-Funktion. Ich möchte den Studierenden auf gar keinen Fall sagen, was sie tun sollen. Sondern ich versuche zu entdecken, was sie selbst mitbringen, um dies dann ans Licht zu bringen, so dass sie merken: Das bin ich.

Sie unterrichten ja bereits seit 1996 Komposition in Oldenburg. Was nehmen Sie dabei persönlich mit?

Ich erlebe dies jedes Semester: Wenn ich sehe, wie eine Studentin oder ein Student am Anfang des Semesters wirkt und wie er oder sie schließlich eine innere Sicherheit gewinnt. Sie müssen ja auch am Ende des Semesters, im Rahmen des Komponisten-Colloquiums, vor einem Publikum erklären, wie sie eine bestimmte Komposition gemacht haben. Dabei sprechen sie nicht nur technisch über ihr Werk, sondern jeder hat die Freiheit zu sagen, was er erreichen möchte. Und diese Freude, die ich dann auf den Gesichtern sehe, die kommt zu mir zurück.

Wie kann man Ihrer Meinung nach Menschen den Zugang zu klassischer Musik vermitteln?

Es gibt immer Situationen, in denen wir etwas erfahren wollen. In jedem von uns ist ein Ikarus. Egal ob wir uns theoretisch mit Musik beschäftigen oder nicht: Die Neugier ist da. Es gibt eine Art von Musik, bei der ich eingeladen bin, mitzudenken und zu verstehen, was da los ist. Die Musik von Beethoven ist ein gutes Beispiel. Beethoven selbst hat, das sieht man an seinen Faksimiles, oft mit der Materie gekämpft: Für die 5. Sinfonie beispielsweise hat er zunächst eine sehr lange Melodie entworfen, die er immer wieder verkürzt hat, bis er zu dem berühmten „dadadadaam“ (singt) kam. Dieses Element hat er genommen und etwas tiefer gesetzt. Und diese Melodie – übrigens eine große Terz und eine kleine Terz, also die Bausteine eines Dur-Dreiklangs – hat er dann gedreht wie ein Rad. Im Grunde genommen holt er die ganze Sinfonie aus dieser starken Idee heraus, die er bis zum Schluss nicht loslässt. Er arbeitete wie ein Forscher. Beethoven bringt einem bei: Man kann die Musik hören, wie die Mondscheinsonate, so träumend. Aber wenn man sie bewusst hört, dann versteht man die musikalische Logik. Das Geheimnis ist meiner Meinung nach: Immer wieder hören. Die Leute, die keine Musikkenner sind, spüren manchmal komplexere Situationen als diejenigen, die Musikkenner sind.

Was ist das Besondere an Ihrer eigenen Musik?

Ich arbeite nicht mit allen Tönen, wie es im 20. Jahrhundert große Mode war. Ich bin der Meinung: Wenn man zu demokratisch mit dem musikalischen Material arbeitet, gibt es eine totale Konfusion. Man kann nicht gleichzeitig in alle klanglichen Räume gehen. Daher arbeite ich mit der Idee von Tonzentren: Diese nenne ich Attraktoren, also Töne, die bestimmte Töne anziehen. Das ist wie die Idee einer Kadenz, bei der die Dominante – also der Akkord, der auf dem fünften Ton einer Tonleiter basiert – zur Tonika, dem Grundakkord, will. Sie kann nicht in der Luft bleiben.

Was heißt das konkret?

In der Musik gibt es einen Ton, der die Oktave symmetrisch teilt, den Tritonus. Dieser Ton, je nachdem, wie man die Töne interpretiert, tendiert immer zu einem Zentrum. Aber alle vier Töne eines Akkords führen zu vier verschiedene Zentren, die Dur und Moll sein können. Dann gibt es schon einmal acht Möglichkeiten. Ich verwende also Töne, die sich nicht gleichgültig zueinander verhalten, sondern sich in eine bestimmte Richtung bewegen möchten. Diese magnetisierenden Kräfte suche ich sowohl durch Inspiration – es muss für mich auch klingen – als auch durch Konstruktionen, die etwa auf mathematischen Prinzipien basieren. Ich möchte zu einem Klangteppich kommen, der wahrhaftig ist. Man versucht ein bisschen Ordnung zu schaffen, aber dann will man seinen eigenen Instinkt nicht verlassen. Die meisten Partituren, die ich mache, sind entweder Aufträge oder Wünsche von Musikern. Meine Intention ist aber nicht, allen zu gefallen. Das geht nicht – auch Madonna oder Michael Jackson gefallen nicht allen. Weil ich das weiß, nehme ich mir nicht vor, alle gleichzeitig zu erreichen. Aber ich nehme Reaktionen von Musikern und Publikum mit viel Interesse wahr.

Wann finden Sie überhaupt Zeit zu komponieren?

Das frage ich mich selbst, ich unterrichte und organisiere die wöchentlichen Komponisten-Colloquien und das jährliche Symposium „Zwischen Zeiten“. Aber ohne zu komponieren, könnte ich nicht überleben. Deswegen finde ich diese Zeit. Ich arbeite kontinuierlich – auch wenn ich den ganzen Tag an der Uni gewesen bin. Ich schlafe nicht ein, ohne an Musik zu denken. Selbst wenn ich keine Aufträge hätte – ich habe so viele Ideen für Werke, die ich noch schreiben möchte.

Interview: Constanze Böttcher

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(Stand: 10.12.2024)  | 
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