Die Ressourcen, die eine Gesellschaft zu verteilen hat, sind knapp – etwa im Sozial- oder Gesundheitswesen. Welche Verteilung gilt als gerecht und warum? Das erforschen Politologe Markus Tepe und Philosoph Mark Siebel in einer neuen DFG-Forschergruppe.
FRAGE: „Bedarfsgerechtigkeit und Verteilungsprozeduren“ – so heißt die Forschergruppe, der Sie beide angehören. Welches wissenschaftliche Interesse steht dahinter?
SIEBEL: Ziel ist eine Theorie der Gerechtigkeit. Wir sehen uns empirisch an, wie einzelne Personen Verteilungen als gerecht beurteilen, wie sie bestimmte Bedarfe anerkennen oder nicht. Aber was am Ende herauskommen soll, ist eine normative Theorie, die sagt, wie man die begrenzten Ressourcen in einer Gesellschaft verteilen sollte und wie nicht.
FRAGE: Also geht es auch um Handlungsanweisungen etwa für Politik und Gesellschaft?
SIEBEL: Letztlich ja. Diese normative Frage ist für mich als Philosoph jedenfalls die spannendere – während die Sozialwissenschaftler wohl eher den Fokus auf die empirische Fundierung legen.
TEPE: In der Tat. Und diese Interdisziplinarität, mit der der Gerechtigkeitsbegriff – speziell die Bedarfsgerechtigkeit – angegangen wird, ist das Besondere an dieser Forschergruppe.
Zum anderen ist sie methodologisch innovativ, da sie das Ganze laborexperimentell untersucht. Diese Arbeitsweise mit Laborexperimenten ist für die Sozialwissenschaften immer noch relativ neu.
SIEBEL: … und für die beteiligten Philosophen ist das etwas komplett Neues. Wir sitzen ja sonst eher zuhause im Lehnstuhl und denken über die Welt nach (beide lachen). Dabei ist die Empirie auch für Philosophen wichtig. Es nützt ja nichts, wenn man eine hochabstrakte Theorie formuliert, und hinterher kann einem keiner darin folgen. Für eine Theorie, die etwas bewirken kann, muss man sich anschauen, wie Menschen denken.
FRAGE: Ihre Gruppe steht am Anfang. Haben Sie schon Vermutungen, welche Faktoren beeinflussen, ob wir eine Verteilung oder Umverteilung als gerecht wahrnehmen?
SIEBEL: Wir haben zwei Kernhypothesen, die wir überprüfen wollen: die Transparenz- und die Expertenhypothese. Die Expertenhypothese bildet den Hintergrund für die beiden Oldenburger Teilprojekte. Sie besagt, dass Verteilungen eher als gerecht gelten, wenn Expertise dahintersteht – wenn also beispielsweise nicht die jeweiligen Personen selber, sondern Experten die Bedarfe identifizieren. Andere Projekte behandeln die Transparenzhypothese, die besagt, dass Verteilungen nach transparenten Prinzipien eher anerkannt werden.
TEPE: In dem Teilprojekt, das ich mit betreuen darf, geht es zum Beispiel um die Frage, wie sich Menschen für einen umverteilenden Steuersatz entscheiden. In welcher Intensität verteilen sie um, und unter welchen Bedingungen ist das gesellschaftlich akzeptiert? Auch stellt sich die Frage, wer ist in einer solchen Entscheidungssituation ein Experte? Jemand, der über Wissen verfügt? Oder jemand, der als moralische Instanz gilt?
FRAGE: Und worum geht es in Ihrem Teilprojekt, Herr Siebel?
SIEBEL: Es geht darum, wie man Gerechtigkeitsurteile messen kann. Man hat eine bestimmte Menge eines Gutes und Empfänger, die etwas davon bekommen sollen, aber unterschiedliche Bedarfe haben. Die Frage ist dann zum einen, wie gerecht die Zuteilungen an einzelne Personen sind, und zum anderen, wie gerecht die Gesamtverteilung ist. Wir schauen dabei auch, ob es bei besserer Informationsgrundlage der urteilenden Personen eher einen Konsens gibt.
TEPE: Und wie laufen die Laborexperimente ab?
SIEBEL: In meinem Teilprojekt erzählen wir kleine Geschichten, und dann sollen die Leute ihr Urteil dazu abgeben. Dabei verzichten wir bewusst auf finanzielle Anreize, denn wir wollen nicht, dass diese die reinen Gerechtigkeitsurteile stören.
TEPE: Bei den Experimenten am Institut für Sozialwissenschaften gehen wir hingegen davon aus, dass das Setzen finanzieller Anreize in einer anonymisierten Entscheidungssituation es ermöglicht, tatsächliches Verhalten zu beobachten – im Gegensatz zu den etwa in Umfragen geäußerten Präferenzen, die aufgrund sozialer Erwünschtheit abweichen könnten.
FRAGE: Sind die Szenarien, die Sie für Ihre Laborexperimente aufstellen, konkret auf Ihr Forschungsthema bezogen oder stark abstrahiert? Haben sie erkennbar etwas mit Verteilung innerhalb der Gesellschaft zu tun?
SIEBEL: Durchaus. Ein Beispiel wäre die Verteilung einer begrenzten Menge an Zitronen, um gegebene Vitamin-C-Bedarfe zu decken – und die Frage, welche Zitronen-Verteilung als gerecht gilt.
TEPE: Wir werden im Gegenteil auf Begriffe wie „gerecht“ bewusst verzichten, um das Ganze nicht normativ aufzuladen. Bei uns kann sich eine zum Beispiel fünfköpfige Gruppe anfangs mit einer bestimmten Tätigkeit ein Einkommen erspielen – je nach Arbeitseinsatz. Danach entscheiden die Probanden über einen umverteilenden Steuersatz. Das, was nach ihrem Votum an Steuern im gemeinsamen Topf landet, wird weiter verteilt. Dabei wollen wir auch untersuchen, wie die Teilnehmer etwa ein gewisses Grundeinkommen bewerten.
FRAGE: Wie könnte denn perspektivisch eine von Ihnen mitentwickelte Theorie künftig unseren Sozialstaat und seine Umverteilungsmechanismus verändern?
TEPE: Eine berechtigte Frage – wir wollen ja keine selbstreferenzielle Community von Laborforschern sein. Es geht um die Anerkennung von Bedarf, um sozialpolitische Fragen etwa nach einem Mindesteinkommen. Und wir gehen nicht nur der normativen Frage nach, wie sollte es sein, sondern auch der empirischen Frage, wie sich die Menschen verhalten. Inwieweit die Experimente übertragbar sind auf die Gesellschaft, mag einzuklammern sein. Aber wenn das gelingt, würde ich mich schon sehr freuen.
SIEBEL: Und wir schauen, wie Verteilungsprozeduren laufen: Welches Maß an Information bekommen die Entscheidungsträger und die Personen, über die entschieden wird – und welche Vorgehensweisen sind gesellschaftlich akzeptiert? Manche Dinge lassen sich vielleicht nicht flächendeckend umsetzen – etwa weil es zu lange dauern könnte, bis wirklich alle Menschen bestimmte Informationen haben – aber andere Dinge sehr wohl.