Wie entscheidet das Gehirn, wann welche Sinneswahrnehmungen wichtig sind und welche nicht? Eine Studie von Oldenburger Hörforschern zeigt: Die Regeln, die für den Menschen gelten, sind nicht für jedes Lebewesen maßgeblich.
Wenn wir die Augen schließen und uns auf die Geräusche konzentrieren, die uns gerade umgeben, nehmen wir die Welt auf eine besondere Weise wahr: Wir empfangen Signale aus allen Richtungen. Vielleicht dringt von rechts der Verkehrslärm der nächsten Straße an unser Ohr, von vorne hören wir Tastaturgeklapper, links ein Lachen aus dem Nachbarraum oder das Surren des Laserdruckers im Flur – so klingt der Büroalltag.
Gewöhnlich sind wir in der Lage, Störgeräusche in so einer Umgebung auszublenden und uns nur auf wichtige Klänge zu konzentrieren – etwa die Stimme der Kollegin, mit der wir uns gerade austauschen. Wie es uns gelingt, die Aufmerksamkeit beim Hören zielgenau zu fokussieren, wird in der Wissenschaft derzeit heiß diskutiert. „Das ist unter anderem deswegen interessant, weil viele Menschen, die nicht mehr so gut hören, damit große Probleme haben“, sagt Prof. Dr. Jannis Hildebrandt, der die Abteilung „Neurobiologie des Hörens“ am Department für Neurowissenschaften der Universität Oldenburg leitet. Gemeinsam mit seinem Team hat er in einer Studie untersucht, ob auch Mäuse die Fähigkeit besitzen, sich auf bestimmte Geräusche zu konzentrieren.
Andere Prioritäten als Menschen
Das Ergebnis der Untersuchung stellten Hildebrandt, seine Kollegin Meike Rogalla und weitere Forscherinnen und Forscher in der Zeitschrift Proceedings B der Royal Society vor. Demnach sind die Nager tatsächlich in der Lage, relevante Geräusche wahrzunehmen und weniger relevante zu ignorieren – sie setzen dabei allerdings andere Prioritäten als Menschen. „Mäuse können seltene, überraschende Signale besser wahrnehmen als häufiger auftretende Reize“, erläutert Hildebrandt.
Bei Menschen ist es genau umgekehrt, wie Hörforscher seit einiger Zeit wissen. Tests haben gezeigt, dass Probanden Signale unbewusst nach der Wahrscheinlichkeit ihres Auftretens filtern. In diesen Untersuchungen müssen die Versuchspersonen gleichzeitig zwei verschiedenen Geräuschquellen zuhören, zum Beispiel zwei Sprecherinnen oder zwei mit unterschiedlicher Tonhöhe piependen Weckern. Die Aufgabe besteht darin, aus dem Klang-Wirrwarr ein bestimmtes Signal herauszuhören – ein besonderes Wort, ein lauteres Piepen oder eine Tonfolge mit einem bestimmten Rhythmus.
Der Cocktailparty-Effekt
„Menschen verfolgen unbewusst, wie häufig das gewünschte Signal in jedem der beiden Kanäle vorkommt und passen ihre Aufmerksamkeit an diese Statistik an“, erklärt der Neurowissenschaftler. Die Versuchspersonen konzentrieren sich dann beispielsweise auf denjenigen Sprecher, der häufiger das gewünschte Signalwort sagt, und blenden die Stimme des anderen systematisch aus. „Wir verschieben unsere Ressourcen auf das Frequenzband, in dem der Sprecher spricht, um seine Stimme besser hören zu können“, erläutert er.
Diese Fähigkeit beherrschen Menschen normalerweise sehr gut. Wer nicht mehr gut hört, hat allerdings oft Schwierigkeiten damit – ein Phänomen, das als Cocktailparty-Effekt bekannt ist. Die Ursache sei nicht immer ein geschädigtes Gehör, sondern liege manchmal auch direkt im Gehirn, erläutert Hildebrandt. Um herauszufinden, wie die Steuerung der Aufmerksamkeit prinzipiell funktioniert, führten die Oldenburger Forscherinnen und Forscher ähnliche Versuche mit Mäusen durch. Sie trainierten die Nagetiere, sich auf ein kleines Podest zu setzen und spielten ihnen gleichzeitig zwei Geräuschquellen vor. Eine wurde häufig präsentiert, die andere selten. Die Aufgabe der Maus bestand darin, von dem Podest herunter zu hüpfen, wenn sie eine Geräuschquelle wahrnahm.
Aufmerksamkeit auf seltenes Signal
Wenn die Tiere diese Aufgabe richtig erledigten, erhielten sie eine kleine Kugel Trockenfutter als Belohnung. Das Ergebnis überraschte das Team: „Die Mäuse haben systematisch jeweils auf denjenigen akustischen Kanal geachtet, in dem das gewünschte Signal seltener gespielt wurde“, berichtet Hildebrandt. Das Verblüffende daran: Aus Sicht der Maus hätte es sich mehr gelohnt, ihre Aufmerksamkeit auf diejenige Geräuschquelle zu lenken, in der sich das gewünschte Signal häufiger versteckt – denn so hätten sie deutlich mehr Belohnungen bekommen.
Nachdem sich das Verhalten der Mäuse in mehreren Tests mit unterschiedlichen Konfigurationen bestätigt hatte, folgerte das Team, dass die Mäuse ebenso wie Menschen die Statistik der Geräuschhäufigkeit unbewusst mehrere Minuten lang überwachen. Allerdings scheinen sie prinzipiell nicht in der Lage zu sein, ihre Aufmerksamkeit bei Bedarf auf den Kanal zu lenken, in dem die Wahrscheinlichkeit für das gewünschte Signal höher ist – selbst, wenn sie davon profitieren würden.
Anderer Modus bei Bedarf
Die Ursache dafür, so nimmt das Team an, könnte darin liegen, dass Mäuse als potentielle Beutetiere vor allem auf Überraschungen gefasst sein müssen: „Sie teilen ihre akustische Umgebung anders auf als wir Menschen“, vermutet Hildebrandt. Seltene Geräusche können für Mäuse überlebenswichtig sein und treten in ihrer Wahrnehmung daher besonders deutlich hervor. „Für eine Maus ist es existenziell, jeden kleinen Knacks zu erfassen, der auf eine nahende Katze hindeutet, oder ein leises Blätterrascheln, wenn eine Eule losgeflogen ist“, erzählt Hildebrandt. Alles andere – gewohnte Geräusche wie Vogelgezwitscher – ist für sie dagegen weniger interessant.
Hildebrandt und Rogalla haben in der Literatur inzwischen Hinweise darauf gefunden, dass Menschen ähnlich wie Mäuse reagieren, wenn sie in einem Versuch auf bedrohliche, nicht neutrale Reize achten sollen. „Wir verfügen also womöglich über einen ähnlichen Mechanismus wie die Mäuse, können aber bei Bedarf auch in den anderen Modus wechseln – die Mäuse jedoch nicht“, schlussfolgert Hildebrandt.
Sinneseindrücke nicht zwangsläufig objektiv
Für den Neurobiologen ist die Studie zum einen eine Bestätigung dafür, dass sich Mäuse als Modelltiere dafür nutzen lassen, um das Phänomen der Aufmerksamkeit zu erkunden – und mögliche Therapien für Hörgeschädigte zu entwickeln. Zum anderen wirft die Studie ein Licht darauf, dass jedes Lebewesen die Welt auf seine eigene Weise wahrnimmt.
„Wir neigen dazu, unsere Sinneseindrücke für objektiv zu halten: So, wie wir sehen, so ist die Welt. Und so wie wir hören, so hört sich die Welt an“, sagt Hildebrandt. Das sei aber nicht zwangsläufig so: Andere Tiere könnten trotz eines ähnlichen Sinnessystems aus den gleichen Informationen ein ganz anderes Bild zusammensetzen, so der Forscher: „Unsere Wahrnehmung ist spezifisch dafür, wie wir mit der Welt umgehen – und wie es für uns notwendig ist.“