Anders als die katholische Kirche ist die evangelische für ihre stark dezentrale und lokale Struktur bekannt. Doch wie wird die Kirche in Zeiten von Kirchenkritik gesteuert? Ein Gespräch zum Reformationstag mit dem Organisationssoziologen Marcel Schütz.
Herr Schütz, gemeinsam mit Ihrer Kollegin Heinke Röbken haben Sie anhand von knapp hundert Interviews mit Geistlichen und Ehrenamtlichen die Führungsstrukturen und die Entwicklung der Gemeinden in einigen evangelischen Landeskirchen betrachtet. Was war das Ziel Ihrer Studie?
Uns ging es um das Instrument der „Visitation“. Dies ist ein regelmäßiger, nach Jahren wiederkehrender, offizieller Besuch kirchlicher Führungskräfte beziehungsweise Vertreter der Kirchenleitungen in ihren Gemeinden. Dabei stehen die Amtsführung der Pfarrerinnen und Pfarrer, das Gemeindeleben und die Zukunft der Gemeinde auf dem Programm. Die Visitation gibt es bereits seit der Reformationszeit, sie hat im Protestantismus also eine lange Tradition. Einerseits unterstützt sie die Seelsorge und berät, andererseits geht es um disziplinarische Belange und Kontrolle. Durchaus ein Spannungsfeld. Wir wollten wissen, wie die Beteiligten diese Spannung wahrnehmen, verstehen und verarbeiten.
Was haben Sie herausgefunden? Die Mitglieder der evangelischen Kirche sehen Führung und Hierarchie ja traditionell eher kritisch.
Ob die Beteiligten die Besuche tatsächlich als Unterstützung oder Kontrolle empfinden, hängt von den Vorerfahrungen, Bedingungen der Gemeinde und der Situationen ab. Unsere Ergebnisse zeigen, dass die Amtsbesuche sowohl dem informellen Gespräch und dem vertraulichen Austausch als auch der subtilen Ermahnung und Lenkung dienen. Es gibt eine Ungewissheit, die von allen Seiten genutzt werden kann. Außerdem haben diese Begegnungen eine, wie wir es nennen, „künstliche Natürlichkeit“. Alle sind bemüht, sich korrekt zu zeigen und doch nicht steif zu wirken. Es lastet heute ja einiger Druck auf der Kirche: Sie verliert Mitglieder, ihre Akzeptanz schwindet, ihre Legitimation scheint brüchig.
Woher kommt diese künstliche Natürlichkeit?
Wir glauben, dass das, wenn ich so sagen darf, typisch evangelisch ist: Es gibt eine Scheu vor zu viel Formalität, aber dann wieder Bemühen um gute Ordnung. Das kann anstrengen: Die Geistlichen und Gemeindemitglieder sollen sich immer mehr aktiv einbringen und Erwartungen an die Zukunft der Kirche artikulieren. Daraus erwachsen kreative Impulse, die allerdings von der Kirche organisatorisch bewältigt werden müssen. Aber das Aufstauen von Plänen produziert auch Enttäuschungen.
Wie kam es dazu, dass Sie quer durchs Land in der Kirche eine solche Forschung durchführen konnten?
Die Idee zum Projekt entstand Ende 2015. Im Folgejahr haben wir vier Landeskirchen als Forschungspartner gewonnen, die das Projekt und damit die Forschung in ihren Gemeinden förderten. Die Landeskirchen sind ja in der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) zusammengefasst, die unser Projekt ebenfalls förderte. 2017 haben wir die Interviews durchgeführt – unterstützt von Experten, die bereits längere Erfahrung mit Projekten in der katholischen und evangelischen Kirche haben. Unsere Ergebnisse haben wir im Anschluss mit den Kirchenleitungen auch besprochen.
Was folgt aus Ihrer Forschung für die Kirche oder auch für andere Organisationen?
Unsere Studie hilft zu verstehen, welche Rolle informelles Geschehen in eigentlich stark formalisierten Organisationsabläufen spielt, und das nicht nur in der Kirche. Das meine ich mit Blick auf die feinen Übergänge zwischen offizieller Ordnung und dem Abweichen davon. Die Stärke der Visitationen liegt aus meiner Sicht darin, dass verschiedene Lesarten ihrer Funktion nebeneinander existieren, ohne offen benannt zu werden. Ein weiterer Punkt betrifft den Umgang mit Reformen und Entwicklung. In organisatorischen Veränderungen gibt es ein Phänomen, dass wir in der Forschung „Umwegsnutzen“ nennen: Es wird viel geplant und vorbereitet und doch vieles nie so umgesetzt. Dennoch gewinnen die Beteiligten etwas aus Gesprächen und Konflikten miteinander oder kommen am Ende zu Entscheidungen. Bettina Heintz, eine Schweizer Soziologin, spricht von der „Verstrickung“ ins Verfahren. Das finde ich treffend formuliert. Offizielle Verfahren erzwingen persönliches Einbringen und Sich-Verhalten. Und das wiederum fördert die Fähigkeit, sich bewusster mit den Arbeitsweisen, Akteuren und Rollen zu befassen; unabhängig davon, um welche Themen es im Einzelnen geht.
Interview: Constanze Böttcher