Wie Familien zusammenleben, hat sich über die Zeit immer wieder gewandelt. Ein Forschungsteam unter Oldenburger Leitung untersucht anhand historischer Daten, wie sich das Familiengefüge auf die individuellen Lebensverläufe einzelner Familienmitglieder auswirkt.
Nach der Schule zu den Großeltern gehen oder von Onkel und Tante zum Schwimmunterricht gefahren werden – Unterstützung durch unterschiedliche Mitglieder der Familie zu erhalten, ist eine universelle Erfahrung. „Auch wenn sich Familienkonstellationen über Jahrhunderte gewandelt haben: Überall auf der Welt wirken Familienmitglieder zusammen, etwa um Kinder groß zu ziehen oder um Arbeit zu organisieren“, erklärt der Oldenburger Evolutionsanthropologe Dr. Kai Willführ.
Doch was bedeutet es für den Lebensverlauf eines einzelnen Familienmitglieds, wenn beispielsweise die Großmutter eine wichtige Rolle im familiären Zusammenleben spielt? Dieser und vielen weiteren Fragen geht ein von Willführ geleitetes internationales Forschungsteam nach. In dem von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderten Vorhaben „Kinships effects or affected kinship“ untersucht das Team Familiennetzwerke verschiedener westlicher Gesellschaften des 17. bis 19. Jahrhunderts. Ziel des Projekts ist, anhand von historischen Datenbanken Familienkonstellationen zu rekonstruieren. Aus den Erkenntnissen könnten auch Rückschlüsse auf heutige Gesellschaften in anderen kulturellen Kontexten möglich sein.
Familienmodelle: Divers und komplex
In den historischen bäuerlichen Gesellschaften lebten Großeltern, Eltern, Kinder und oft noch weitere Familienmitglieder in Großfamilien zusammen. „Untersuchungen haben gezeigt, dass es wirtschaftlich sinnvoll war, mit vielen Menschen zusammenzuleben, um etwa einen Bauernhof zu bewirtschaften“, erklärt Willführ. Mit der Industrialisierung sei diese Notwendigkeit jedoch bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts größtenteils weggefallen, sodass sich das Konzept von Familie stark verändert habe – hin zu Kernfamilien, in denen lediglich Eltern und Kinder zusammenleben.
„Heutzutage gibt es hingegen immer mehr Patchworkfamilien, in denen Eltern mit Kindern aus unterschiedlichen Beziehungen zusammenleben. Bisher wissen wir aber nur wenig darüber, wie sich diese Veränderungen der Familienstrukturen ausgewirkt haben – beispielsweise auf den Einfluss der Großmutter in der Familie“, sagt der Wissenschaftler.
Um diesem Aspekt nachzugehen, wertet das Team, das neben Willführ auch aus Forschenden aus Kanada, Schweden und den Niederlanden besteht, verschiedene historische Datenbanken anhand einer demografischen Analyse aus. Die Daten stammen etwa aus Kirchenbüchern oder Melderegistern. „Wir sehen genau, zu welcher Zeit jemand wie viele Geschwister hatte und wie die einzelnen Familienmitglieder zusammengelebt haben“, erklärt Willführ, der seit 2017 als Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Sozialwissenschaften tätig ist.
Beispielsweise lasse sich herausfinden, ob Familien im 17. Jahrhundert, deren Mitglieder weit voneinander entfernt wohnten und daher weniger Unterstützung bieten konnten, eine höhere Müttersterblichkeit aufwiesen als Familien, die sich im täglichen Leben helfen konnten. Doch die Forschenden richten ihren Blick nicht nur auf die Unterstützung innerhalb von Familien, sondern auch auf mögliche Konkurrenz zwischen den einzelnen Mitgliedern – etwa zwischen Geschwistern. „Familie ist kein Ort vollkommener Harmonie, weil die Einzelinteressen der Mitglieder unweigerlich zu Konflikten führen“, sagt Willführ.
Um ein möglichst genaues Bild solcher Einflüsse zu erhalten, nutzen die Forschenden historische Daten aus unterschiedlichen Regionen und Kontexten. So dient beispielsweise die Region Krummhörn um Emden als sehr ländlich geprägtes Untersuchungsgebiet. Dieses vergleichen die Wissenschaftler mit städtischen Kontexten wie etwa Antwerpen oder Orten in Schweden und Kanada.
Verhalten oder Wissenstransfer?
Herausgefunden haben die Forschenden bereits, dass in traditionellen bäuerlichen Gesellschaften etwa der Einfluss der Großmutter sehr stark war. Lebte diese nah mit ihrer Tochter zusammen, sei sowohl das Überleben der Kinder als auch das der Mutter nach der Geburt wahrscheinlicher gewesen, erläutert Willführ.
Weiterführende Untersuchungen haben gezeigt, dass dieser Effekt unterschiedlich begründet sein konnte. „Die Großmutter konnte durch ihr Verhalten unterstützen, beispielsweise so, dass die Mutter nach der Entbindung das Wochenbett zu Ende bringen konnte“, sagt der Forscher. Andererseits habe sie auch Wissen weitergegeben, etwa Tipps zum Stillen oder zu Kinderkrankheiten. „Wir haben jedoch festgestellt, dass dieser Effekt des Familiennetzwerks auf den Lebensverlauf der Mutter mit dem Modell der Großfamilie durch die Modernisierung verschwindet“, sagt Willführ. Warum das so ist versucht das Team nun herauszufinden.
Eine erste These ist, dass der Einfluss der Großmutter nicht gänzlich verschwindet, sondern sich lediglich verschiebt – von der reproduktiven Phase der Mutter auf einen früheren Lebensabschnitt, in dem der Übergang in die Ehe bevorsteht. „In der Vergangenheit wurde selten aus Liebe geheiratet, es ging meist um strikte wirtschaftliche Interessen“, macht Willführ deutlich. Hier könnten die Eltern dementsprechend beim Arrangieren einer respektablen Ehe unterstützt haben.
Nach Ansicht des Sozialwissenschaftlers könnte der Blick auf die historischen Familienkonstellationen helfen, Prozesse in zeitgenössischen Familien aus anderen kulturellen Kontexten, etwa in afrikanischen Gesellschaften, zu verstehen und herauszufinden, was Familiennetzwerke formt. Ein Aspekt, so Willführ, lässt sich jedoch zu jeder Zeit und immer wieder beobachten: „Familie ist – trotz Streits – ein Ort, an dem ich unterstütze und an dem ich auch Unterstützung erwarten kann.“